Böhmers Gedichte springen dem Leser, aber auch der Leserin nicht ins Gesicht. Man muss sich der Energie dieses großen Gesanges überlassen, um ihm zu verfallen. Der Lyriker Thomas Kunst war vom Buch „ZUM WASSER WILL ALLES WASSER WILL WEG“ des Lyrikers Paulus Böhmer mehr als bewegt.

Lyrik

Wasser will alles Wasser

Gedanken zu Paulus Böhmer

Von Thomas Kunst

Bei voller Unregierbarkeit in einen Fluss, in einen Motor greifen. Aber wie soll und kann man sich den poetischen Lavaströmen der Langgedichte von Paulus Böhmer denn überhaupt nähern. Wie ein Schaum höherer Ordnung entfernen sich die Möbel aus den Zimmern.

Seit über fünfzig Jahren stellt uns nun Paulus Böhmer schon seine hymnisch-monolithischen Großpoeme in den Weg, ja, in den Weg, krachend, zerschmetternd, sinnlich, rauschhaft betörend wie es sonst nur Musik kann, in der Angemessenheit einer triftigen Universalsprache. Nachdem Böhmer über viele, viele Jahre vom deutschen Literaturbetrieb sträflichst ignoriert wurde, werden ihm jetzt endlich all die Ehrungen zuteil, die schon wesentlich früher auf ihn hätten zutreffen müssen. Für sein letztes Buch „Zum Wasser will alles Wasser will weg“ im Peter Engstler Verlag bekam er nun endlich den diesjährigen Peter-Huchel-Preis. Um Mitternacht nahm ganz Asien das Aussehen einer verreckten Zecke an.

Viel zu oft wird in Deutschland von Einzigartigkeit oder Ausnahmedichter gesprochen.

Im Falle Böhmers finden diese beiden Begriffe eine logische Entsprechung. Viel zu selten finden wir in unserer heutigen Literatur solch eine konzertante Rauschhaftigeit, solche geschichtsüberbordende, rockmusikalische Riffheftigkeit und sinfonische Vulkanisierung des täglichen Zugrundegehens wie in den Gedichten von Paulus Böhmer. Wir lesen und saufen und lesen und verehren die ewige Wiederkehr eines durch jeden historischen Umzug gegangenen Wassers. Ich wollte immer nur eine Zementfabrik oder ein Stahlwerk sein.

Seine Bücher sind für mich kleine Heiligtümer. Sie gehören für mich zu den wenigen, die ich mit nach draußen, an die Luft nehme. Sie hätten die ungeheuerlichen Jahreshauptversammlungen unserer Pfingstrosen sehen sollen.

Diese Texte benötigten noch nie eine seitlich vom Literaturmarkt oder vom herrschenden Hochfeuilleton eingeflößte Vitalisierungsarznei. Seine kraterhaften, ablebeprallen Infusionen bestimmte Böhmer von jeher selbst. Noch schießen die Wasser bergaufwärts, ein Stein, ein Blatt, eine nicht gefundene Tür. Die Lächerlichkeit einer gesellschaftsfreundlichen Volumentherapie. Die Aufrechterhaltung wachblöder Nüchternphasen. Dunkelheit der Diskurse vor dem Milcheinschuß. Geringe Wissenschaftsoberfläche. Keine Restverdaulichkeit. Und ich hörte die Stimme der Frau, die sich über den Sterbenden beugte, mit allen Kollateralschäden des Nichtbegreifens, mit Vogelstimmen, röcheln und racheln, klirren und kratzen und schaben und Resten von Maulbrütersaft und Resten von Sumatra. Es gibt nicht die geringste Leseanleitung für solche Gedichte. Resignation der Flußflöße. Olympische Einlaufordnung. Die Weiterleitung des Sammelns unter keiner Zielfahne. Ich wollte nie ein Stahlwerk, nie eine Zementfabrik sein. Die besessene und auslöschende Genauigkeit von Amokläufen. Eidechsen stehen herum auf erstarrten Beinchen und lecken Aschereste. Wie sollen wir uns, wir können wir uns denn überhaupt zurechtfinden in Böhmers Kosmos, wie? Aus Innenohren treten bläschenartige Ausstülpungen hervor, mit Muster, Vertiefungen, Poren, Kanülen, die sich zu Höhenlinien einer Wanderkarte verwandeln. Wir verlassen in regelmäßigen Abständen beim Sprechen, Lesen, Saufen, Schreiben, Musikhören und Ficken die Erde, kümmern uns um unsere biographischen Schulhofpausen und Ein leuchtend-orangeroter Geweihschwamm setzt zur Landung an, weich. Bin da. Mögen wir also alle noch einen Raubanteil unserer Zeit mit diesen überragenden Gedichten verbringen und uns daran erfreuen, daß wir gegen sie und mit ihnen zu kämpfen haben, da wir ohne die geringste Anstrengung leichter zu beeinflussen wären und uns wie Wasser verhalten würden. Allen Bakterien in mir ist das Verlangen nach Sanftmut und Wasser, nach Wurmnähe und Pasta nah.

Danke Paulus, daß ich deine großen, störrischen Gesänge schon so lange Zeit begleiten durfte.
Wasser bedarf keiner Achtungserfolge. Ist immer da.

(Der Mensch sei schuld, höre ich. Das ist,
als halte man den Höhlenbären für schuld daran,
daß es Höhlen gibt.)

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erstellt am 02.3.2015

Paulus Böhmer, Foto: Alexander Paul Englert
Paulus Böhmer, Foto: Alexander Paul Englert

Paulus Böhmer
Zum Wasser will alles Wasser will weg
236 Seiten
ISBN 978-3-941126-56-5
Verlag Peter Engstler, Ostheim 2014

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