Vor fast 23 Jahren bestritten die rumäniendeutschen Dichter Klaus Hensel, Franz Hodjak, Richard Wagner und Werner Söllner die Frankfurter Poetikvorlesung. Wo das Dichten herrührt, welche Motive es antreibt und wie die Zeitumstände die künstlerischen Entscheidungen lenken, kurz: wie aus einem kleinen Jungen ein deutscher Dichter wurde, davon handelt der Beitrag Werner Söllners.

Frankfurter Poetikvorlesung, 6. Juli 1993

Die Entstehung der Wirklichkeit im Kaleidoskop

Für Peter Motzan

Als ich vor einigen Wochen eingeladen worden bin, die heutige Poetikvorlesung zu halten, habe ich mir – aus Gründen der Öffentlichkeit – einen Arbeitstitel ausgedacht. Er lautet: „Die Entstehung der Wirklichkeit im Kaleidoskop“. Später habe ich meinen Titel in einer öffentlichen Ankündigung dieser Vorlesung variiert vorgefunden – nämlich als: „Die Entstehung der Wahrheit im Kaleidoskop“. Erst dann, meine Damen und Herren, war ich wirklich davon überzeugt, meinen Vortrag an einer deutschen Universität halten zu dürfen.

Das heißt also an einem Ort, an dem Wirklichkeit sich offenbar noch in Wahrheit zu verwandeln vermag. Ich hoffe also auch für die Wirklichkeit meines Textes, mit dem ich Auskunft geben soll über das Eigene im Fremden, das Fremde im Eigenen, unter besonderer Berücksichtigung meiner Erfahrungen mit der Muttersprache im doppelten Exil.

Ich fange damit an, dass ich Ihnen eine Geschichte erzähle. Ob sie wahr oder wirklich oder erfunden oder alles zugleich oder keins ist, wird mich in diesem Augenblick nicht kümmern. Es ist, vielmehr es könnte eine Geschichte von früher und von anderswo sein, wenn sie sich nicht gerade jetzt, während ich sie Ihnen erzähle, und hier ereignete. Und diese Geschichte geht so:

Es war einmal ein kleiner Junge, etwa sechs Jahre alt, der sich im Dorf seiner Großeltern befand und den Nachbarskindern beim Spielen zuschaute. Der Junge war fremd im Dorf, er lebte mit seinen Eltern in der Stadt und war nur während des Sommers zu Besuch bei den Großeltern. In der Hand hielt er sein neues Spielzeug, eine farbige Glasscherbe, die er irgendwo auf der Dorfstraße gefunden hatte. In der Hoffnung, mitspielen zu dürfen, ging er zu den anderen Kindern und bot ihnen seine Scherbe an. Der Anführer der Spielenden kam auf den Jungen zu und versetzte ihm, ohne ein Wort zu sagen, eine Ohrfeige. Dabei fiel die Scherbe auf einen Stein und zerbrach. Der kleine Junge sammelte die Splitter ein und ging stumm ins Haus, wo er seinem Großvater von dem Vorfall berichtete. Der war ein einfallsreicher Mann; aus den farbigen Glassplittern, aus Bruchstücken eines alten Rasierspiegels und aus einem Stück Pappe fertigte er ein seltsames Gerät an. Das reichte er dem staunenden Kind und sagte: „Hier hast du ein richtiges Fernrohr. Du kannst damit sehen, was für andere unsichtbar ist. Hauptsache, du hältst es immer zum Licht…“

Sie wissen, meine Damen und Herren, was jetzt kommt. Der kleine Junge, der die anderen Kinder mit seiner Scherbe ebenso gegenständlich wie vergeblich zu gemeinsamem Zeitvertreib aufgefordert hatte – jetzt geht er mit seinem primitiven Kaleidoskop auf die Straße. Dort steht er für eine kurze Zeit mit seinem Schatz im Mittelpunkt. Die anderen schauen ihm zu, halb machen sie sich lustig über ihn, halb beneiden sie ihn. Wer nett zu ihm ist, der darf auch einmal durch die Röhre auf die farbigen Muster schaun. Danach aber ist er wieder allein mit seinem Kaleidoskop, von dem er sich längere Zeit auch nachts nicht mehr trennen mag.

Die Wirklichkeit, das sind immer die anderen. Die anderen hatten dem Kind zwar nichts weiter als ein Spielzeug zerbrochen. Für das Kind aber war die farbige Scherbe weit mehr als ein Gegen-Stand gewesen: Sie war eine Mit-Teilung an die anderen und zugleich ein farbiges Stück seines Ichs, sie war Prädikat und Subjekt in einem. Und die Splitter waren der Beweis, dass mit dem Objekt, mit der Realität nicht zu spielen, dass mit den anderen nicht zu spaßen ist. So ist der kleine Junge damals, ohne es zu wissen, zum ersten Mal in seinem Leben ins Exil gegangen, ist er aufgebrochen zu einer Passage aus der schmerzhaft eindeutigen Wirklichkeit in ein Land der Möglichkeiten, in die Phantasie: Das Fernrohr, mit welchem er zum ersten Mal Land sah, hatte er dabei nach innen gerichtet. Natürlich nur im übertragenen Sinn, das heißt unter Berücksichtigung einer unlogischen Perspektive. Denn die Bilder in seinem Kaleidoskop entstammten ja allesamt der Wirklichkeit.

Das Subjekt aus der Geschichte, wie ich sie erzähle, der kleine Mensch, der für die anderen bis zum Zerbrechen Objekt ist: Er wirft die farbigen Splitter nicht weg, er sammelt sie ein und bekommt dafür – wenn er Glück oder, wie das Kind in meiner Geschichte, einen Großvater hat – ein Gerät, ein optisches Instrument, das die Fragmente wieder zusammensetzt: in einem Bild. Das Bild ist nicht die Wirklichkeit; das Bild bedeutet die Wirklichkeit – gesehen aus der eigenen und zugleich aus einer anderen Perspektive. Der kleine Mensch – mit seinem Kaleidoskop bringt er die anderen zunächst zum Verschwinden – soviel muss erlaubt sein, das ist seine Rache an der Realität: So wie sie scheint, ist sie nicht. Eine Rache, für die man, solange man ein kleiner Junge ist, nur selten bestraft wird. Aber er behält sie im Auge und bringt sie wieder hervor, er nimmt sie wahr, denn mit dem einen Ende ist das Kaleidoskop ja immer nach außen gerichtet: auf die Realität, die sich im Dunklen in ein Bild verwandelt, das zwar Objekt bleibt und zugleich innen entsteht, als ein bisher unerkannter Teil des Subjekts. „Das Bild“, das im Kaleidoskop des kleinen Jungen entsteht, „stimmt mit der Wirklichkeit überein oder nicht; es ist richtig oder unrichtig, wahr oder falsch. Das Bild stellt dar, was es darstellt, unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit (…) Was das Bild darstellt, ist sein Sinn.“ Wittgenstein allerdings hat der kleine Junge weder damals noch später gelesen: Das mag wahr oder falsch sein, meine Damen und Herren, jedenfalls ist es nicht ganz ernst gemeint. Gedacht war es mehr als ein Spiel, fast wie im Märchen, so, wie meine Geschichte begonnen hat.

Und so geht sie weiter: Und wenn der kleine Junge nicht gestorben ist, dann ist aus ihm möglicherweise ein Dichter geworden. Jedenfalls hat er später, als er schon lesen und schreiben konnte, folgendes Gedicht auswendig gelernt, ohne es zunächst zu verstehen:

„Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,
Da ist alles dunkel und düster;
Und so sieht's auch der Herr Philister:
Der mag denn wohl verdrießlich sein
Und lebenslang verdrießlich bleiben.

Kommt aber nur einmal herein,
Begrüßt die heilige Kapelle;
Da ist's auf einmal farbig helle,
Geschieht und Zierat glänzt in Schnelle,
Bedeutend wirkt ein edler Schein;
Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
Erbaut euch und ergetzt die Augen!“

Das Gedicht ist natürlich von Goethe, womit wir annehmen dürfen, dass aus dem kleinen Jungen, wenn überhaupt, dann ein deutscher Dichter geworden ist. Aber wer weiß, viel von dem, was uns in der Kindheit Eindruck macht – schmerzhaft, tröstlich oder schlimmstenfalls beides zugleich, in Wirklichkeit nicht unterscheidbar -, verliert sich ja wieder, wird verdeckt und überlagert von anderen Eindrücken; wer weiß, vielleicht ist aus dem kleinen Jungen mit dem Schönseher über der geschwollenen Backe kein großer Seher, sondern ein anständiger Mensch, ein Fernsehtechniker oder ein, wie es hier, in Deutschland, so schön heißt, Augenoptiker geworden.

Und weil ich schon damit angefangen habe, lassen Sie mich bitte noch eine Geschichte erzählen, die in Wirklichkeit gar keine ist. Um jeden Bezug zu meiner Biographie von vornherein auszuschließen, habe ich sie in der Ich-Form geschrieben; und sie geht so –

„Ich bin im Alter von sieben Jahren zum ersten Mal ins Exil, das heißt zur Schule gegangen. Dort habe ich fast vom ersten Tag an gelernt, dass meine Muttersprache keineswegs etwas mir Eigenes, mir selbst Verständliches, sondern ein Fremdes ist, mit dem man sich ohne Hilfsmittel nicht verständigen kann. Um meine Haut zu retten, habe ich lesen und schreiben gelernt. Muttersprache als gut getarntes Versteck – zwar nicht immer auf feindlichem Gelände, dennoch meist zwischen den Fronten; Muttersprache als enteigneter Fluchtgrund, als doppelter Boden; Muttersprache als Aufforderung zum Wachbleiben, als Biwak: als 'Beiwache im Freien neben der in einem Bau untergebrachten Hauptwache'“.

Bevor ich, meine Damen und Herren, 1982 an der Frankfurter Hauptwache angekommen bin, habe ich in Rumänien noch manches erlebt, was mich meine Herkunft als Exil empfinden ließ. Vieles davon hatte mit Sprache, mit Literatur und Zensur zu tun. Lassen Sie mich dafür ein Beispiel geben. Ungefähr 1974 habe ich einen Text geschrieben, eine Art Gedicht, das ich nur ungern zitiere. Sie werden gleich merken, warum. Das Gedicht handelt von, ja von wem wohl? Von der Gesellschaft, von der Gesellschaft Rumäniens, auf die wir rumäniendeutsche Schreiber uns eine Zeitlang spezialisiert hatten. Die letzten beiden Strophen des Textes lauten so:

„so bekam (die gesellschaft) ihre probleme:
indem ihre schwächen stärker wurden
weil man darüber schwieg
und ihre stärken schwächer wurden
weil man sie zerredete

so kann die neue gesellschaft ihre probleme lösen:
indem sie sich
zu ihnen bekennt“

Ich möchte in diesem Zusammenhang nicht über die literarische Qualität sprechen, sondern über die Geschichte um den Text herum, über den epischen Zierat. Nachdem der Text da war, habe ich ihn in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht, was mir bald schon unerwünschten Besuch einbrachte. Der freundliche Genosse, der sich als Angehöriger des Geheimdienstes auswies, erwies sich auch als ein Kenner der jüngeren rumäniendeutschen Literatur. Jedenfalls hatte er mein Gedicht gelesen, in einer trefflichen rumänischen Übersetzung, die er korrekterweise auch überprüfte, indem er mich um eine eigene rumänische Version bat. Die lieferte ich bereitwillig; ich war damals der Ansicht, Autoren hätten nichts zu verbergen, ihre Texte seien für eine breite Öffentlichkeit bestimmt. Je öffentlicher man sich darüber unterhalte, auch im Beisein der freundlichen Genossen von der geheimen Gesellschaft, desto mehr Wirkung hätten die Texte. Sie sehen, ich war damals auf dem Weg in mein Land, auf dem besten Weg, mir aus dem Exil eine Art Heimat zu machen – gemeinsam mit Freunden und Lesern, was damals in Rumänien so ziemlich ein und dasselbe war. Um es kurz zu machen: Nachdem die beiden Übersetzungen miteinander verglichen worden waren, entfachte der freundliche Genosse ein heißes Gespräch über eine einzige Zeile, ja sogar ein einziges Wort meines Textes. Alles, sagte er, alles verstehe er (obwohl er von Literatur nicht viel verstehe), alles könne er politisch mittragen, nur eine Zeile nicht: „so kann die neue gesellschaft ihre probleme lösen.“ Diese Zeile würde viel deutlicher, wenn ich mich dazu durchringen könnte, zu schreiben: „so wird die neue gesellschaft ihre probleme lösen.“ Der Indikativ, so sagte der Genosse, sei der unserer Zeit angemessene Modus; der Indikativ, der, gerade auf die Zukunft, also auf noch Unerreichtes, Irreales bezogen, der Gesellschaft den Marsch blase, ihr als unausgesprochener Imperativ zeige, wo's langgeht. Ideologisch sei auch das „können“ in Ordnung, aber es lasse den Leser sozusagen im Stich, mit der Möglichkeitsform im Text könne sich insgeheim auch eine Art Unmöglichkeitsform in die Wirklichkeit einschleichen – ein gesellschaftlicher Modus, den es ja gerade zu vermeiden gelte. Ihre Probleme müsse die Gesellschaft doch ohne Wenn und Aber lösen, das sehe er auch so.

Langer Rede kurzer Sinn: Ich habe den Satz geändert, ich habe in den sauren Apfel der Erkenntnis gebissen und damit meine Unschuld verloren. In mein Kopfland, das eine Art Heimat zu werden versprach, war etwas eingedrungen, etwas hatte sich eingenistet und drängte mich wieder hinaus. Ich bewege jetzt meinen Kopf, das Knochenkaleidoskop, und von irgendwo rutscht mir ein Splitter ins Bild: „Doch das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Es war das erste Mal, dass ich an einem Text von mir Zensur erlebte. Dass ich den Eingriff auch hinnahm – nicht ohne zu meckern und murren, natürlich, nicht ohne mit den paar Freunden über meine Angst zu sprechen, sie um Rat zu fragen -, das war ein Fehler, ein Irrtum – einer von vielen. Mit den Jahren habe ich Zensur in Rumänien auch und zumeist in anderen Gestalten erlebt; noch manchen Eingriff habe ich hingenommen. Fast hätte ich jetzt gesagt: “habe ich hinnehmen müssen“. Fast hätte ich jetzt die Unwahrheit gesagt. Denn es hat mich niemand, auch nicht der freundliche Genosse von der geheimen Gesellschaft, wirklich gezwungen, meinen Text zu verändern: mich zu verraten. Die unausgesprochenen Drohungen im Hintergrund – natürlich hatte ich sie verstanden, natürlich fürchtete ich mich, natürlich fürchtete ich damals, in einen Konflikt zu geraten – standhaft zwar, doch ohne einen Großvater und ohne ein Kaleidoskop. Und nicht zuletzt wollte ich Öffentlichkeit: „Mit zwanzig Händen wollte ich in das Leben hineingreifen, und überdies nicht zu einem zu billigenden Zweck“, hat Kafka in einem anderen Zusammenhang geschrieben.

Jahre später (da war das Paradies zur Hölle geworden und längst von innen verriegelt) entdeckte ich, dass es zu spät war: Die Diktatur hatte sich durch die Hintertür ins Oberstübchen eingeschlichen und regierte dort als Opposition. Die Text-Scherbe, die beim ersten Kompromiss einen Sprung bekommen hatte: Meine Sprache drohte mir zu entgleiten. Noch merkte ich gar nicht, wie das Subjekt, wie mein Ich sich aufzulösen begann. So heißt es, glaube ich, in der Psychiatrie. Meine Feinde, unsere Feinde begannen mir unentbehrlich zu werden. Der Diktator und sein System – das alles mutierte langsam: Wir waren Feinde und gleichzeitig Komplizen – die einen Objekte einer verzehrenden, einer verkehrten Begierde der anderen. Nichts liebte ich mehr als meine Ohnmacht, nichts war mir bedeutender, als dass ich selbst mir als bloßer Schein vorkam. Ich saß zusammen mit meinen Freunden und spürte undeutlich, dass ich fast zerbrochen war. Natürlich setzte ich mich wieder zusammen. Aber die Gesetze, nach denen ich mich zusammensetzte, waren die Gesetze einer irrealen Realität, einer real existierenden Absurdität. Woraus ich damals bestand, das war: “Liebe als Reaktion auf überwältigendes Misstrauen. Zweifel an allen Institutionen. Unverständnis für alle normalen Menschen und das Gefühl, nicht zu ihnen zu gehören. Gedanken an Emigration. Einsamkeit und enge Freundschaften.“ Dies schreibt Jan Urban, Mitglied der Charta 77 und Sprecher des Bürgerforums bis 1989, der sich seit dem Wahlsieg des Bürgerforums aus der Politik zurückgezogen hat, in einem Artikel mit dem Titel „Ohnmacht der Mächtigen“ über das Scheitern der Dissidenten in der Tschechoslowakei. Er formuliert damit Erfahrungen, die auch ich – als Oppositioneller, nicht als Dissident – in Rumänien gemacht habe. In der allgemeinen Ohnmacht und beherrschten Wut Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre war auf nichts mehr Verlass – sogar der Diktator gab ein immer schäbigeres Feindbild ab. Verkehrte Welt: manch ein Dionys, der, den Dolch im Gewände, zum Tyrannen schlich, wurde alsbald zum Direktor einer Scherenschleiferei ernannt. So etwas ist mir erspart geblieben, ich zog mich zurück, ich bezog mich zurück auf den Freundeskreis mit seiner internen Hierarchie, mit seinen Rollenspielen. Ich erinnere mich an einen feuchtfröhlichen Abend, an dem wir, junge schreibende Leute, unsere Ohnmacht dadurch abreagierten, dass wir beschlossen, an diesem Abend die Macht im Land zu übernehmen und die erste surreale Regierung Rumäniens zu bilden. Vorher hatten wir uns darüber geeinigt, dass das für unser Land geeignete Gesellschaftssystem selbstverständlich die Diktatur sei – allerdings eine mit einem von uns an der Spitze, das menschliche Gesicht ergebe sich dann von selbst. Ein anderer von uns, nur einer, übernahm die Rolle des Volkes: Ganz wie in Wirklichkeit war das Volk in der Minderheit, aber einmal, wenigstens einmal regierten die Dichter. Mit viel Gelächter und immer einstimmig wurden an jenem Abend die Regierungsposten verteilt, fast das halbe Schattenkabinett hat schon je eine Poetikvorlesung in Frankfurt gehalten. Zur Zeit, meine Damen und Herren, spricht gerade der Außenminister zu Ihnen.

Mit solchen Späßchen, mit dem Rollen-Spiel Literatur, mit sarkastischen und großen Wort- und Kinderspielen verteidigten wir das Drahtseil, auf dem wir über den Abgrund gingen. Mit kleinen Verletzungen, die wir uns selbst, mit manchen Ohrfeigen, die wir einander zufügten, hofften wir auf eine kleine Betäubung, um die großen Backpfeifen überstehen zu können. Mit immer kleineren Illusionen, bewegten Bildern, die aus der Wirklichkeit kamen und gleichzeitig immer weniger mit ihr zu tun hatten, projizierte ich die große Hoffnung in mich hinein, dass sich auch in Wirklichkeit irgendwann doch noch etwas bewegen würde – wenn es schon so schlecht stand um die gesellschaftliche Revolution, dann sollte man doch wenigstens auf die private weiter hoffen dürfen. Wenn schon keine Revolution in der Literatur, dann wenigstens eine unter den Literaten. Wenn schon keine bedeutende Goethesche Kapelle, dann wenigstens ein abgehörtes rumäniendeutsches Wohnzimmer: „Sieht man vom Markt (…) hinein,/ Da ist alles dunkel und düster;/(…)/ Kommt aber nur einmal herein,/(…)/ Da ist's auf einmal farbig helle,/ Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle,/ Bedeutend wirkt ein edler Schein (…)“. Literatur, so meinte ich damals zu wissen, sie hatte in der Wirklichkeit, auf dem “Markt“, nichts auszurichten; sie war wirkungslos unter den Verhältnissen. Aber wie Sie merken, hatte ich Goethe damals schon missverstanden.

Meine Damen und Herren, Sätze wie der folgende beweisen es: Wir waren immer im Recht – auch dort, wo wir nicht weiter wussten. Mit diesem Privileg zu spekulieren, ist ein Privileg, eines von mehreren, die der Mensch sich nicht nehmen lässt, am allerwenigsten in einer Diktatur. Es ist das Vorrecht aller Menschen, die in einer Diktatur leben müssen, ihre Welt kaleidoskopisch zu betrachten; das Eisen in Plüsch zu verwandeln, ohne es wirklich verändern zu können. Es ist das Vorrecht aller Menschen, die im Gefängnis leben, auf ihre Phantasie zu verzichten; auf die Vorstellung, dass man in einer veränderten Wirklichkeit ein anderer sein könnte als der, der man in der Diktatur geworden ist. Ein Leben in Freiheit, man sollte es sich in der Zelle besser nicht ausmalen können.

„Der gemeinsame Feind offerierte die gemeinsame Erfahrung des Widerstands, in dem nationale, politische, kulturelle und persönliche Differenzen keine große Rolle spielten.“ Und: „Wenn ich irgend etwas aus 'den alten Zeiten' vermisse, so dieses Gefühl der moralischen Verpflichtung auf eine gemeinsame Lösung, einen Kompromiss, mit dem alle, die guten Willens sind, einverstanden sein können. Der gute Wille war uns zum notwendigen Instinkt geworden. Weil wir zusammengehörten (…) Im Rückblick wird mir klar, dass dieser Instinkt bereits am Ende der 'alten Zeit' nicht mehr funktioniert hatte (…)“ Auch diese Sätze stammen von Jan Urban.
Wer das Glück hat, eine Diktatur zu überleben, das heißt das Undenkbare, das Unvorstellbare zu erleben, wird an den Folgen der Befreiung so schwer zu tragen haben wie am Gefängnisdasein. Wer aus einer Diktatur stürzt, stürzt auch aus seinem Lebensentwurf.

Der alte Feind ist verschwunden und hat ein fatales Erbe hinterlassen: das ganze komplizierte innere Beziehungsgeflecht von Gefühlen, Gedanken und Wünschen, Rationalisierungen, verdrängten oder manifesten Bedürfnissen, Wahrheiten, halben und ganzen, Not- und Lebenslügen, aus denen der kleine, der alltägliche Widerstand besteht, der die Übermacht des Feindes und die eigene Ohnmacht erträglich gemacht hat. Was nun? Was anfangen mit dem einfachen Weltbild, wohin mit den Erklärungsmustern, nach denen die Welt aus zwei Kategorien besteht – aus „ihm“, dem gemeinsamen Feind, und „uns“, den Freunden? Wo ist, nach dem Sieg, die verlässliche Gewissheit der Niederlage? Der polnische Lyriker Adam Zagajewski, der seit Jahren in Paris lebt, hat ein schönes Gedicht über das hässliche Leben der Oppositionellen in der Diktatur geschrieben:

Niederlage

Wirklich leben können wir nur in der Niederlage.
Die Freundschaften werden tiefer,
die Liebe erhebt ihr wachsames Haupt.
Sogar die Dinge werden rein.
Die Mauersegler tanzen in der Luft,
im Abgrund heimisch.
Die Blätter der Pappeln zittern.
Nur der Wind ist reglos.
Die dunklen Silhouetten der Feinde heben sich ab
vom hellen Fond der Hoffnung. Die Tapferkeit
wächst. Von ihnen sagen wir: sie, von uns: wir,
von mir: du. Der bittere Tee schmeckt
wie ein Bibelspruch. Dass uns ja nicht
der Sieg überrascht.

Mit dieser Niederlage im Gepäck bin ich in der Bundesrepublik angekommen. Im Tornister die gerettete Haut, ein paar Splitter Biographie und das bisschen gemeinsame Sprache: So habe ich mich in ein anderes Biwak begeben, ein anderes Feldlager – in meiner Muttersprache schlicht: „das Lager“ genannt, die „Durchgangsstelle für Aussiedler“. Auch dort in Nürnberg, von wo einige meiner Vorfahren vor Jahrhunderten aufgebrochen sind ins Exil, aus dem ich komme, habe ich, gleich am ersten Tag, in der Muttersprache lesen und schreiben gelernt. Zum Beispiel den Satz: „Hier wohnen Menschen und keine Schweine.“ Der Satz stand – in deutscher und polnischer Sprache – auf einem Zettel an der Tür zum Schlafraum geschrieben.

Ein kunstvoller deutscher Satz: „Hier wohnen Menschen und keine Schweine. An der Tür des Schlafraums in der Durchgangsstelle für Aussiedler in Nürnberg war ich der Literatur begegnet. Sätze wie diesen als Kunstfiguren zu begreifen – das hatte ich ja schließlich schon früher gelernt: Der nüchterne Indikativ, wie er den blanken Hass des Schreibenden ins polizeilich gerade noch Erlaubte zwingt. Das karge „wohnen“, wie es die Durchgangsstelle auf die höhere Ebene des Behaustseins hebt. Die extreme Verdichtung durch das kleine, unscheinbare „und“: Für einmal verbindet die Konjunktion nicht, sondern trägt zur Unterscheidung bei – zwischen Menschen und Schweinen, zwischen jenen, die hier wohnen, und denen, die hier wohnen wollen. Und wie der anonyme Verfasser die Rezeptionsumstände seiner Leser einbezieht und ihnen so zur richtigen Textinterpretation verhilft. Husch-husch, mit Besen und Kehrichtschaufel den Beweis angetreten, dass ihr Menschen seid… Die poetische Mehrdeutigkeit: Ist das „hier“ ganz Deutschland oder nur der Schlafraum? Es hat mir damals in Nürnberg leid getan, dass ich den Autor nicht kennengelernt habe. Wir hätten uns über deutsche Literatur und rumänische Wirklichkeit unterhalten können. Gar zu gern hätte ich seine Meinung zu folgendem Text eingeholt:

„Alle Velker staunerul,
San me große Gaunerul.
Ungarn, Siebenbürginescu
Mechten wir erwürginescu.
Gebrüllescu voll Triumphul
Mitten in Korruptul-Sumpful
In der Hauptstadt Bukurescht,
Wo sich kainer Fiße wäscht.
Laider kriegen wir die Paitsche
Vun Bulgaren und vun Daitsche;
(…)
Aigentlich sind wir, waiß Gottul,
Dann hereingefallne Trottul,
Haite noch auf stolzem Roßcu,
Murgens eins auf dem Poposcu!“

Dieses Gedicht, das die Möglichkeiten des Reims in der deutschen Literatur auf so bemerkenswerte Weise erweitert, stammt übrigens von einem der bedeutendsten Kunst- und Literaturrichter seiner Zeit, der – unter dem schönen Decknamen Gottlieb – auch als einer der schäbigsten, dumm-dreistesten Chauvinisten und Kriegshetzer unseres Jahrhunderts schöpferisch tätig war und als solcher von der Literaturgeschichte verschont worden ist. Als er das Gedicht schrieb, war er kein kleiner Junge mehr, sondern so um die 45… Sein Name lautet Alfred Kerr. (Den Hinweis verdanke ich übrigens der Gauck-Behörde der deutschen Literatur der zwanziger Jahre, der „Fackel“ des Karl Kraus.)

Nun, zu Gesprächen über gemeinsame Sprache als mitgeteilte Welt im besonderen ist es erst später gekommen. Bei Begegnungen am Rande der Literatur, aber auch im alltäglichen Umgang mit Menschen habe ich gelegentlich die Erfahrung gemacht, dass eine gemeinsame Muttersprache durchaus hilfreich sein kann, wenn man in einem Land ankommt, dessen Literatur man besser kennt als dessen Realität. Eine gemeinsame Sprache kann den Aufprall zwar mildern, aber sie kann ihn nicht verhindern. Seit damals weiß ich aber auch, dass eine gemeinsame Sprache die Menschen manchmal verlässlicher trennt als jede Grenze. Im Alltag wie in der Literatur.

Wir alle, meine Damen und Herren, sind heute Zeugen eines geschichtlichen Vorgangs in Deutschland, der diesen Satz zu bestätigen scheint. Denn, wem sage ich das, in jeder Sprache sind unzählige Wirklichkeiten aufgehoben. In ein und derselben Sprache kann ein Wort vielerlei bedeuten: je nach Sender, je nach Empfänger – je nach Kontext bedeutet der Text etwas anderes. Bedeutet Demokratie Gleichberechtigung oder Gleichgültigkeit, bedeutet sie eine unvollkommene Realität oder eine uneingelöste Glückserwartung; Freiheit kann Individualismus ebenso wie soziale Leere oder aber Aufforderung zu selbstbestimmtem Handeln bedeuten. Wer im Westen von der Larmoyanz des Ostens spricht, muss sich vorwerfen lassen, er bezeichne Trauer und Enttäuschung mit dem falschen Wort; und wer im Osten vom globalen Verrat des Westens spricht, unterschlägt eigene Ressentiments, abgewehrte Schmerzen über Illusionsverluste. In Zeiten der Ent-Täuschung ist Katzenjammer angesagt. Darin gibt es mehr Gemeinsamkeit in Deutschland Ost und Deutschland West, als uns gut tut.

Aus Rumänien kenne ich einen Witz, der mir deshalb hierher zu passen scheint, weil seine Pointe zu hiesigen Zuständen kontrastiert. Ein Kater, stolz auf seinen Nachwuchs, ein heranwachsendes Katerchen, nimmt seinen Sprößling mit auf eine nächtliche Spritztour über die Dächer. Er will ihn zu den Katzen führen, die den Kleinen in das Mysterium der körperlichen Liebe einweihen sollen. Die beiden ziehn los, aber leider fängt es an zu regnen und weit und breit lässt sich keine einzige Katze blicken. Stundenlang irren die beiden im Regen über die Dächer, bis schließlich, gegen Morgen, das Katerchen beeindruckt, aber durchnässt sagt: „Lieber Vater, ich habe jetzt genug geliebt, es war wunderbar, aber jetzt will ich nachhause…“ Es gibt in Europa und in Deutschland Parallelen zu diesem Witz: Die Freiheit, meine Damen und Herren, diese wunderschöne Katze, von der so mancher im Osten meinte, sie sei auf den goldenen Dächern des Westens und nur dort zuhause und warte auf uns, diese Freiheit ist zuhause geblieben. Und die Utopie, von der so mancher im Westen meinte, sie werde im Osten zwar schlechter genährt, dafür besser gestreichelt – auch sie wird wegen schlechten Wetters auf einen unbestimmten Zeitpunkt verschoben. Von den vielen Unterschieden zwischen Witz und Realität scheint mir einer bedeutsam. Zumindest einige von uns im Osten waren ja nicht so naiv wie das Katerchen, wir hatten uns ja schon ein logisches Bild gemacht von der wirklichen Freiheit. Wir wissen, was uns entgangen ist. Uns kann man, anders als das Katerchen im Witz, leicht kränken. Und jene unter Ihnen, meine Damen und Herren aus dem goldenen Westen, die Sie uns zwar nie vorgegaukelt haben, mit letzter Bestimmtheit zu wissen, auf welchem Dach sie zu finden sei, die Utopie – klammheimlich haben Sie sich doch eingebildet, die besseren Meteorologen zu haben. Sie hätten uns wenigstens warnen müssen, dass man sich nass machen kann, wenn man Ihnen aufs Dach steigt.

So jammern wir also, kritisch vereinigt, so frönen wir alle unserem jeweiligen Herkunfts- und Zukunftsfetischismus, vermeintliche Remedien gegen den Phantomschmerz nach einer Selbstamputation, und geben den anderen, immer den anderen die Schuld daran, dass die Welt so unvollkommen ist: „die dunklen Silhouetten der Feinde/ vor dem hellen Fond der Hoffnung“. Und auch die Hoffnung, heißt es, hat man uns gestohlen. Aber was sie ist, die Hoffnung, an welchen Merkmalen man das Diebesgut erkennt und mit welchen staatlichen oder gar polizeilichen Maßnahmen es wiederbeschafft werden könnte – nicht einmal ein Phantombild können wir davon anfertigen.

Könnte es sein, dass ich mich diesbezüglich täusche? Gewiss doch. Habe ich doch in Ost und West viele große Kater getroffen, die genau wissen, wie die Hoffnung aussieht und unter welcher Hausnummer sie zu finden ist. Das seidige Fell der Utopie – man hat es mir schon oft beschrieben. Ebenso oft wie den rechten Weg zu ihrem Haus – ein paarmal links, ein paarmal rechts um die Ecke, je nach dem Standpunkt der Kater. Ihr Wahrheits-Schnurren habe ich allerdings meist als reales Kratzen und Beißen erlebt, wenn ich, den Stadtplänen folgend, an der Tür geläutet habe. So werden Sie sicher verstehen, wenn ich sage, dass ich es seit einiger Zeit mit dem Katerchen halte, das niemandem einen Vorwurf macht: „Ich glaube, ich habe jetzt genug geliebt. Es war zwar sehr schön, aber ich möchte nachhause…“

Dass der Weg dorthin lang ist, das weiß ich, denn ich bin schon über viele Dächer gestiegen. Ich habe in allen Himmelsrichtungen Abstürze erlebt, fremde im eigenen und eigene im fremden. Menschen sind dabei zu Tode gekommen, Menschen, die ich geliebt habe, Menschen, mit denen ich befreundet war. Andere sind davongekommen, krank und geschunden, und lahmen – aufrecht oder gebeugt – durch diese aberwitzige Zeit. Unsere Biographien – lange genug aneinandergekettet, jetzt stieben sie auseinander. Das gemeinsame Haus, dieses Hotel, brennt an vielen Ecken, auch weil wir auf die Sprachen, die durch eine Laune der Natur unsere Muttersprachen sind, mehr Wert legen als auf das Miteinandersprechen. Auch die Literatur als ein großer, gemeinsamer Entwurf – das “gemalte Fenster“ zur Welt, es ist eingeschlagen, zerbrochen. Macht nichts, es gibt schlimmere Dinge im Leben. Welch ein Glück, dass wir hier einstweilen davon verschont sind.

Ich beispielsweise habe das Glück gehabt, hier vor ihnen eine Poetikvorlesung halten zu dürfen. Auf die Welt schauen zu dürfen: aus einem poetischen Blickwinkel, das heißt von einer um etwa 50 cm höheren Warte aus. Kein Wunder, dass dabei kein „tractatus“, sondern ein „compositus“ entstanden ist, ein zusammengesetztes Bild, das – logisch – keiner wie der andere wahrnimmt. Ein bisschen Poesie war dabei und kaum Poetik, ein bisschen Realität und ein bisschen Vorlesung, ein bisschen Witz und ein bisschen Melancholie -viel Unordnung, aber die mit System. Ein bisschen von mir und viel von den andern – lauter eigne und herbeizitierte Fremde. Im Zeitalter der Kommunikation kann man ja bis zum Äußersten gehn und sich sogar die Gesprächspartner erfinden. Um beispielsweise nicht mehr allein über den großen Kater klagen zu müssen. Oder darüber, dass die Literatur an Bedeutung verliert. Dass sogar wir selber entbehrlich sind – auch diese Erkenntnis erträgt sich besser zu zweit.

Zum Schluss nun doch noch etwas über meine Poetik: Ich glaube, ich richte relativ wenig Schaden in der Welt an, wenn ich – ohne ein Ziel unterwegs – die Scherben jener „gemalten Fensterscheiben“ auflese und mir daraus und aus Fragmenten einer kaputten Welt ein optisches Gerät bastle, ein Instrument, nichts weiter. Ich sehe damit etwas, was auf mich „bedeutend“ „wirkt“. Ob es wirklich ist oder wahr oder erfunden, ob es alles zugleich oder keins ist – das kümmert mich im Zusammenhang meiner Biographie überhaupt nicht. Es bewegt sich, wenn ich mich bewege. Es ist nicht dort, wo ich hinschaue, weil ich es nicht mehr sehe, wenn ich mein Kaleidoskop aus der Hand lege. Und überhaupt mein Kaleidoskop: Es ist kein Schönseher, der im Zerbrochenen eine überschaubare Ordnung vortäuscht oder einen Sinn im Zerbrechen. Wer heutige Kaleidoskope kennt, weiß die Errungenschaften der Moderne zu würdigen. Da werden konvexe und konkave Spiegel eingebaut, da werden die farbigen Splitter ganz weggelassen, da verlässt man sich ganz auf die Wirklichkeit. Den Schein, die Bilder, die dabei entstehen, mag “schön“ nennen, dem ihre Wirkung das bedeutet. Was ich darin sehe, ist weder schön noch hässlich; es ist manchmal der Markt und manchmal die Kapelle, je nachdem, wo ich mich in meiner Biographie gerade befinde. Bei genügend Helligkeit sieht es meist bunt wie das Treiben auf dem Jahrmarkt aus; oft ist es auch ganz dunkel in meinem Kaleidoskop aus Fleisch und Blut, dann hilft eigentlich gar nichts mehr, keine Wirklichkeit und keine Wahrheit, keine Spiegel und Prismen. Dann kann ich gar nichts mehr sehen, aber dafür höre ich, eine Art Knochenmusik. Alles zusammen, das ist für mich Literatur, wie ich sie sehe. Sie ist etwas ganz und gar Entbehrliches und dennoch wirksam. Literatur ist ein Zeichen, das bedeutet, dass mindestens ein Mensch noch lebt: der, der sie liest. Und dass dieser Mensch mit einer Art Hoffnung lebt, mit der Neugier auf die letzte Zeile. Diese Neugier, diese Art Hoffnung verliert sich, wenn die Phantasie stirbt. Deren Verlust wiegt schwerer als der Verlust einer Heimat. Der holländische Dichter Leo Vroman, der im amerikanischen Exil gestorben ist, hat einmal gesagt: „Liever heimweee dan Holland.“ Man braucht das nicht zu übersetzen.

Künstler, die das Malen nach der Natur lernen wollten, haben früher ein technisches Hilfsmittel benützt, ein optisches Gerät, das nach seinem Erfinder das Wollastonsche Prisma genannt wurde. Das Malen nach der Natur – es ist zwar entbehrlich geworden, wie alles andere, aber nicht überflüssig, sofern man sich zum Malen entschlossen hat. Allerdings genügt das Wollastonsche Prisma nicht mehr. Die Natur des Menschen ist komplizierter geworden. Ich beende die Vorlesung mit einem eigenen Gedicht und danke Ihnen jetzt schon für Ihre Hoffnung bis zur letzten Zeile:

Zweite Natur

Staunend
über die Ausdauer, mit der das Lebendige
lebt, über die Phantasie
der Triebe, schau ich zu, wie der Garten
langsam verwildert.

Ich weiß, ohne irgendein Recht, da
zu sein, bin ich hier. Fristlos kündbar
sitz ich am Zaun, arglos fertig
gemacht unter einem fremden Stern, herbeizitiert
in die Haut, diese einmalige Geschichte,
und bereite mich vor, während
der fleißige Nachbar das Gras
von der Klinge wischt, damit sie
nicht rostet.

Im gemieteten Paradies nenn ich
nichts Nennenswertes mein eigen, nur
eine machtlose Art Liebe, die fremd gehen wird
mit dem Tod, nur die paar gepackten
Buchstaben, auf denen ich sitze, nur
die Erinnerung, das fleißige Lieschen
meiner Irrtümer, stetig wachsende
Zweifel, meine zweite Natur.

Sicher, auch traurig geworden
auf natürliche Weise, als ich erwachte
und den Schlüssel blutrot im Gras sah,
ohne mich bücken zu können. Wenn
ich wüßte, wer das getan hat, ich würde
hingehn. Aber so bleibe ich, ungefragt
staunend, am Zaun, so beuge ich mich
vorläufig über ein Blatt, verliebt in
etwas, ohne Hoffnung
auf mehr.

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erstellt am 01.4.2016

Werner Söllner, Foto: Alexander Paul Englert
Werner Söllner, Foto: Alexander Paul Englert
Zuletzt erschienen

Werner Söllner
Knochenmusik
Gedichte. Mit einem Nachwort von Eva Demski
Gebunden mit Schutzumschlag, 72 Seiten
ISBN 978-3-945400-19-7
Edition Faust, Frankfurt am Main 2015

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