Tagebuch mit Toten
Collage aus Fotos von Jan Seghers
Jan Seghers – Tagebuch mit Toten

Geisterbahn

Donnerstag, 16. Oktober 2014 – Fünfzehnuhrsechsunddreißig, neunzehn Grad. Sahara-Oktober.

In der Süddeutschen Zeitung von heute hat die Familie von Helmut Ruge (Autor, Satiriker, Kabarettist), der am 8. Oktober verstorben ist, eine Traueranzeige veröffentlicht. Deren letzter Satz lautet: „Lasst uns ein intensives Leben zelebrieren“. Es könnte einem schwindlig werden, wenn man bedenkt, was alles verquer ist an diesen wenigen Worten.

Am 16. Oktober 1946 wurde Joachim von Ribbentrop als erster von zehn zum Tode verurteilten Kriegsverbrechern um 1:12 Uhr im Nürnberger Justizgefängnis hingerichtet.

Mittwoch, 15. Oktober 2014 – Dreizehnuhrvier, vierzehnkommneun Grad. Über die Alpen strömt Luft aus der Sahara nach Mitteleuropa. Her damit!

Immer auf der Suche nach guten Roman-Anfängen, finde ich diesen umwerfenden:
„Es war die beste Zeit, es war die schlechteste Zeit, es war das Zeitalter der Weisheit, es war das Zeitalter der Dummheit, es war die Epoche des Glaubens, es war die Epoche des Unglaubens, es waren die Tage des Lichts, es waren die Tage der Finsternis, es war der Frühling der Hoffnung, es war der Winter der Verzweiflung, wir hatten alles noch vor uns, wir hatten nichts mehr vor uns, wir gingen alle geradewegs in den Himmel, wir gingen alle geradewegs in die andere Richtung …“
So beginnt „A Tale of Two Cities“ von Charles Dickens. Das Buch ist der am häufigsten verkaufte Roman aller Zeiten, und ich kannte ihn nicht …

Heute hätte Italo Calvino Geburtstag, wäre er nicht am 19. September 1985 in Siena gestorben.

Freitag, 8. August 2014 – Zehnuhrachtundzwanzig, zwanzigkommaneun. Soll kühler werden.

“In 14,000 hate-mail letters, emails and faxes sent over 10 years to the Israeli embassy in Berlin and the Central Council of Jews in Germany, Professor Monika Schwarz-Friesel found that 60% were written by educated, middle-class Germans, including professors, lawyers, priests and university and secondary school students. Most, too, were unafraid to give their names and addresses – something she felt few Germans would have done 20 or 30 years ago.” – Guardian, Donnerstag, 7. August 2014

Vor einem Jahr starb Karen Black.

Freitag, 7. März 2014 – Vierzehnuhrvierundzwanzig, zwölfkommadrei. Frühling.

Ein großes, von einer Schülerin aus Anlass der diesjährigen Abitur- prüfungen gemaltes Plakat im Frankfurter Heinrich-von-Gagern-Gymnasium: „Scheiß auf das Abi! Ich werde Prinzessin.”

Neulich von Atilla: „Frankfurt: Regen. – Paris: Regen. – Nizza: Pizza.”

Sibylle Lewitscharoff hat letztes Jahr jenen Literaturpreis erhalten, der nach Georg Büchner benannt ist. In „Dantons Tod” lässt Büchner seinen Hérault sagen: „Wir alle sind Narren, es hat keiner das Recht, einem andern seine eigentümliche Narrheit aufzudrängen.” Was aber, wenn sich jemand, wie jetzt Frau Lewitscharoff, dieses Recht einfach nimmt.

Bislang ging mir nur der tantenhafte Manierismus ihrer Sprache auf die Nerven und ich begriff nicht, warum nahezu der gesamte Literaturbetrieb vor diesen Texten auf die Knie fiel. Nun habe ich mir ein paar Interviews angesehen und jene Rede gehört, in der sie Onanie verbieten will und Kinder, die aus einer künstlichen, also „abartigen” Befruchtung entstanden sind, als „Halbwesen” bezeichnet. Und hinterher, wie jeder dumpfe Schwadroneur, dieses: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen … ” – Es ist schon so: Man muss sie sehen, man muss hören, wie sie da, begleitet vom schnarrenden Ton einer Zuchtmeisterin des schwäbischen Pietismus, die Peitsche knallen lässt, um zu verstehen, warum die Würstchen des Feuilletons sich mit Wonne krümmen. Pardon, Leute, die Dame hat ganz einfach einen Schuss.

Am 7. März 1904 starb in Hannover Alexander Büchner, jüngster Bruder des oben Genannten.

Freitag, 14. Februar 2014 – Neunuhrdreißig, vierkommafünf. Fein, die Sonne.

Im Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen Sebastian Edathy findet der Tagesspiegel die Formulierung: „Die SPD hat ihre Unschuld verloren” – Und ich dachte, dass sei vor hundert Jahren, nämlich am 8. August 1914 geschehen, als die SPD-Fraktion im Reichstag die Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg bewilligte.

Der Deutschlandfunk hat ein Interview mit der emeritierten Strafrechtsprofessorin Monika Frommel geführt, in welchem diese das Verhalten der Staatsanwaltschaft in der Sache Edathy scharf kritisiert und für „verfassungswidrig und rechtswidrig” erklärt. Es habe keinen begründeten Anfangsverdacht gegeben, denn „Bilder von nackten Jungs darf jeder besitzen”. Dies sei legal und sogar „eine Grundrechtsausübung”. Die Durchsuchungen der Staatsanwaltschaft seien mithin ein grundrechtswidriger Eingriff.

Auch Heribert Prantl hält es in seinem bedächtigen und bedenkenswerten Kommentar für möglich, dass hier nur „eine begründete Spekulation” vorgelegen habe, der die Behörden zu diesem massiven Zugriff bewegt habe: „Wenn die Ermittler (wie man hört) wussten, dass die Filme legal sind, die sich Edathy beschaffte – durften sie dann eine Razzia veranstalten? Reicht dafür die Vermutung, dass eine Person, die moralisch bedenkliche, aber legale Filme betrachtet, auch illegale Filme besitzt? Es gäbe dann künftig einen neuen Zugriffsgrund: den der begründeten Spekulation”.

Schon vor dreieinhalb Jahren hat Detlef Grumbach einen großen Text geschrieben, in es um einen neuen Trend in der Arbeit von Staatsanwaltschaften und Rechtsanwälten geht, die sogenannten Litigation-PR, die Öffentlichkeitsarbeit im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten: „Die Staatsanwaltschaften erheben für sich den Anspruch, die objektivste Behörde der Welt zu sein. Sie sind verpflichtet, in alle Richtungen zu ermitteln und auch entlastendes Material zu sammeln. Gerade bei spektakulären Fällen entsteht jedoch der Eindruck, dass sie sich zu früh festlegen und die Öffentlichkeit für ihre Sichtweise gewinnen wollen.” Was heißt: die Unschuldsvermutung wird untergraben, es kommt zu einer öffentlichen Vorverurteilung des Beschuldigten und damit oft genug zur Zerstörung seiner bürgerlichen Existenz.


Heute vor 25 Jahren ist James Bond gestorben, ein US-amerikanischer Ornithologe.

Montag, 3. Februar 2014 – Vieruhrachtundvierzig, nullkommasieben. Dunkel. Wach seit halbvier und weiter über die Taten und Untaten des Guy Georges gelesen.

Am Samstag zwei Stunden mit dem Mountainbike in Regen und Schlamm über die Hohe Straße, gestern Lauf am Mainufer. Das Jahr muss endlich beginnen.

Gestern Morgen um kurz nach zehn die Sprengung des AfE-Turms live im Hessenfernsehen. Der Sprengmeister, den man der Reporterin zur Seite gestellt hatte, schwärmte immer wieder von dem „wunderschönen Kollaps”, dem „einwandfreien Kollaps”, dem „Kollaps wie aus dem Bilderbuch”. Auf sächsisch.

Auf HR-online diese schöne Meldung: „Der Gefangene hatte am Freitagabend in seiner Einzelzelle Feuer gelegt, der Wachmann kam ihm zu Hilfe.”

Auf seinem Titelblatt erzählt der „Rhein-Main Extra Tipp” in der Unterzeile, was geschieht – „Männer reiben sich im Gedränge des Berufsverkehrs an ahnungslosen Frauen” – und kann sich nicht die Schlagzeile verkneifen: „Missbrauch zur Stoßzeit”.

Heute ist Schlenggeltag.

Am 3. Februar vor drei Jahren starb die unglückliche Maria Schneider („Der letzte Tango von Paris”). Ihre Asche wurde am Rocher de la Vierge in Biarritz verstreut.

Mittwoch, 8. Januar 2013 – Zehnuhrfünf, zehnkommaneun. Blau. Sonne. Paar Wolken. Bien dormi.

Die hessischen Grünen, die den Innenminister Boris Rhein noch vor Jahresfrist wegen des Polizeieinsatzes gegen die letzte Blockupy-Demonstration zum Rücktritt aufgefordert hatten, regieren jetzt mit ihm und unter Volker Bouffier das Land. Der nun sagt im Hinblick auf die bevorstehenden Protestaktionen zur Eröffnung der neuen Europäischen Zentralbank: „Wir werden mit allen klugen Maßnahmen vorbeugen, dass es ein fröhliches Fest wird”. Man glaubt es ihm sofort.

Wahrscheinlich hat dieser Satz von Sigmund Freud in den sechziger Jahren eine ganze Generation in ihrer Kritik der bürgerlichen Lebensformen munitioniert; ich entdecke ihn erst heute, in der Besprechung von Volkmar Siguschs neuem Buch in der Süddeutschen Zeitung: „Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben”. Eben lese ich dann ein wenig in dem Ursprungstext „Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens” und bin beschämt über meine Ignoranz.

Mitterand ist seit achtzehn Jahren tot.

Samstag, 30. November 2013 – Dreizehnuhrneunundfünfzig, fünfkommanull. Jetzt grau.

Knalldoof des Tages: Marc Beise, Leiter der Wirtschaftsredaktion der „Süddeutschen Zeitung”, widerspricht der päpstlichen Kritik am Kapitalismus, indem er auf die Segnungen der Marktwirtschaft mit dem Argument hinweist, dass es in Deutschland doch recht gut laufe, obwohl …: „Es gibt Not, auch in Deutschland; das Hauptarmutsrisiko tragen alleinerziehende Mütter. Sie sind die wahren Helden der Nation.” Steht wirklich so da.

Und das noch – als Frucht der Heine-Lektüre -, damit es mal gesagt ist: „Kunst ist der Zweck der Kunst, wie Liebe der Zweck der Liebe, oder gar das Leben selbst der Zweck des Lebens ist.” Aus einem Brief an Karl Gutzkow vom 23. 8. 1838.

Tot ist Kathy Acker – The Queen of Punk.

Mittwoch, 27. November 2013 – Dreizehnuhrzwei, minus zweikommasechs. Bedeckt. Gestern der erste Schnee, heute hält sich der dicke Raureif.

Irgendwo war dieser Tage zu lesen, dass der Vorsitzende der hessischen Grünen, Tarek Al-Wazir, sogar bereit sei, in einem Pyjama von Helmut Kohl zu schlafen, wenn ihm das dabei helfe, endlich Minister zu werden.

Die sechzehnjährige Tochter einer Freundin ist zum Schüleraustausch nach Südafrika geflogen. Eigentlich hatte sie gewünscht, in einer schwarzen Gastfamilie unterzukommen und auf eine schwarze Schule zu gehen. Beides hat man ihr verwehrt mit der Begründung, dass das alles so einfach nicht sei. Immerhin durfte sie jetzt die weiße Gastfamilie verlassen, deren Schäferhunde die Namen „Goebbels” und „Hitler” tragen.

Wenn ein Journalist dich fragt, wie es dir geht, musst du damit rechnen, dass er hofft, es gehe dir schlecht, weil er sich dann womöglich in Kürze ein paar Euro mit einem Nachruf verdienen kann.

Tot ist seit dem 27. November 1959 der Offizier Irnfried Freiherr von Wechmar, Teilnehmer an beiden Kriegen, lebenslanger Soldat, Träger verschiedener Kreuze und ab 1951 Chefredakteur der Zeitschrift „Soldat im Volk”. Man ist noch jetzt froh, ihm nicht begegnet zu sein.

Mittwoch, 13. November 2013 – Neunuhrachtundfünfzig, fünfkommavier. Bedeckt. Wach seit halbvier.

Gestern ist Maxim Billers kleine Novelle gekommen: „Im Kopf von Bruno Schulz”. Das einzig überflüssige an diesem Buch ist das Lesebändchen. So kurz und aufregend ist diese Fantasy-Story, dass ich, der ich Fantasy nicht mag, sie in der Nacht gleich zweimal gelesen habe, ohne zwischendurch ein Lesezeichen zu brauchen.
Der polnische Jude Bruno Schulz schreibt im Jahr 1938 einen Brief an Thomas Mann mit der Bitte, ihm bei der Veröffentlichung einer Geschichte zu helfen. Aber dieser Bruno Schulz scheint Gespenster zu sehen. Und als er ganz am Ende „ein riesiges, schwarzes, prähistorisches Insekt vorbeirennen” sieht, „dessen Füße wie Panzerketten klirrten”, begreifen wir, dass er die realen Gespenster der allernächsten Zukunft sieht. Und zugleich begreifen wir, warum es der Fantasy bedurfte: Wie anders hätte man über einen Mann schreiben sollen, der an einer irren Wirklichkeit irre geworden ist?
Thomas Mann und Bruno Schulz sind in dieser Geschichte nicht als historische Personen, sondern als von Maxim Biller erfundene Figuren interessant. Dass Biller heute eine solche Geschichte schreibt, sagt etwas darüber, wie er, Biller, als Jude in diesem Deutschland lebt. Wie seinen Bruno Schulz die Gespenster der Zukunft plagen, so plagen Biller die Gespenster einer Vergangenheit, die nicht vergehen will. Und das ist wirklich so irre wie wahr. Und keine schöne Diagnose für die deutsche Gegenwart.
Die Wirklichkeit in dieser Novelle ist ein Alptraum, und nur wenn Bruno Schulz träumt, entsteht so etwas wie Normalität: „Dann träumte er von Zürich, Paris und New York, wo es Hunderte, Tausende solcher verdorbenen, zarten Männer und Frauen wie ihn gab, die sich in Cafés, Parks und Bibliotheken gegenseitig zulächelten, winkten und durch leichtes, stummes Nicken Mut zusprachen.”
Ein Satz, so hinreißend, als habe ihn Anna Seghers geschrieben.
Maxim, wie geht es Dir?

Todestag von Karen Silkwood.

Sonntag, 10. November 2013 – Achtuhrfünfzehn, sechskommavier. Wolken.

Eine Meldung aus der deutschen Provinz schaffte es vergangene Woche in die Weltpresse: Die Kristallbad-Therme in Bad Klosterlausitz wirbt für „Die lange romantische Kristall-Nacht”. Ausgerechnet am 9. November. Da mag an einen Fauxpas glauben, wer das Volk nicht besser kennen will.

Sie lernen es nicht. Sie lernen das Wort nicht, weil sie in der Sache nichts gelernt haben. Welchen Sender man in den letzten Tagen auch einschaltete, fast immer war von der „Progromnacht” die Rede. Obwohl doch schon mein doofes Korrekturprogrom den Fehler erkennt.

Heute auf Spiegel Online: „Fotostrecke: Vietnam in Angst vor dem Supersturm” – Zuckt noch jemand zurück vor dem geilen Voyeurismus einer solchen Zeile?

Miriam Makeba ist tot.

Sonntag, 3. November 2013 – Neunuhrfünfzig, zehnkommanull. Sprühregen. Erst um halbfünf aufgewacht. Und diesmal nicht aus Furcht vor den Tigern von Elke Heidenreich.

Kein Schlamassel der Welt ist zu groß, als dass ihn unsere Journalisten nicht klein kauen würden. Während das Mobiltelefon der Kanzlerin und die Badewanne eines Bischofs seit Wochen die Herzen und Mäuler bewegen, wären die paar hundert ertrunkenen Flüchtlinge vor der Küste von Lampedusa schon fast wieder vergessen, hätte sich dieser Tage nicht der kleine schwarze Junge an den Rockzipfel des Papstes geklammert und damit den Medien die Chance geboten, das zehntausendfache Verbrechen an den europäischen Außengrenzen zu einem Rührstück zu verharmlosen. Wie gut, beim Aufräumen die zwei Wochen alte „Süddeutsche” zu finden und dort noch einmal das Gespräch mit der Kulturanthropologin Sabine Hess zu lesen. Auf die Frage „Würde es dem Wohlstand von Ländern also nicht schaden, wenn die Grenzen geöffnet würden?” antwortet sie: „Natürlich würde sich einiges ändern, aber was heißt schaden? Es ist historische Verdrängung zu glauben, wir könnten einen Wohlstand, der aus jahrhundertealter Ausbeutung entstanden ist, einfach für uns behalten. Wir können nicht glauben, dass sich nichts ändert, wenn wir die Grenzen öffnen. Aber wir können auch nicht glauben, dass wir ein System, das auf Raub basiert, über Jahrhunderte militärisch sichern können. Die Toten im Mittelmeer zeugen von einem alten Krieg, der gerade unerklärt weitergeführt wird. Vielleicht ist dieses System jetzt an eine Grenze gekommen.”
Angenehm, jemanden so unumwunden sprechen zu hören. Wie selten das geworden ist.

Noch ein paar Trouvaillen:

In einem Brief vom 10. März 2009 an die Bischöfe der Katholischen Kirche sprach Papst Benedikt von einer „sprungbereiten Feindseligkeit”, die auch Katholiken gegen ihn hegten. Wenn schon sonst nichts, diese genaue Formulierung wird bleiben von ihm: „sprungbereite Feindseligkeit”.

Wenn die Franzosen sagen wollen, dass alles andere ein frommer Wunsch sei, sagen sie: „Le reste est littérature”.

Auf die bange Frage, was wohl kommen wird, antwortet Saramago mit einem wahrhaft lässigen Satz: „Danach, alter Freund, wie immer, die Zukunft.”

In ihrer Besprechung von Castorfs Münchner Céline-Abend gelingt der Theaterkritikerin Christine Dössel das hier: „Überhaupt haben hier alle Frauen ganz große Schlampenwürde.” Es gibt Worte, die man gerne selbst erfunden hätte. Neid.

Lektüre – Simenon: „Mon ami Maigret”; Hauschild/Werner: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. Heinrich Heine. Eine Biografie”; Jutta Ditfurth: „Der Baron, die Juden und die Nazis. Reise in eine Familiengeschichte”.

Zwölfter Todestag des großen Ernst Gombrich.

Samstag, 19. Oktober 2013 – Neunuhrneunundvierzig, achtkommasechs. Obenrum richtig was Sonne.

Harald Rüssel ist ein Koch mit gutem Ruf und einem Stern. Seit 1992 betreibt er das „Landhaus St. Urban” in Naurath, einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Trier.
Jürgen Dollase ist ein sogenannter Gastrokritiker, hat aber auch schon Musik gemacht und gemalt. Letzteres kann er nicht verhehlen.
Dollase hat bei Rüssel gegessen und im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung” über den Koch geschrieben. Nämlich so:

Ganz allgemein tut man bei ihm gut daran, sich Kompositionen wie seinen überragenden ,Coq au Vin’ trotz der ohne weiteres identifizierbaren Elemente – von Brust über Sot-l’y-laisse bis zu den Versammlungen von Gartengemüse – nicht zu konkret vorzustellen.

Warum das? Würde uns andernfalls schon jetzt der Appetit vergehen, den uns der Kritiker durch sein verbales Gefuchtel auf jeden Fall verderben wird? Würden wir gar ein Versammlungsverbot für das Gartengemüse fordern?

Es schmeckt auf eine subtile Art und sozusagen klassisch, ohne aber typische klassische Geschmacksbilder zu nutzen. Grund dafür ist die Suche nach einer eigenen Palette, die Rüssel anders betrieben hat als zum Beispiel viele Jungkreative.

Nein, das ist zum Beispiel nicht die Parodie, sondern das Original selbst, das jetzt mit Austern, Blumenkohl und Pumpernickel seine Palette weitertreibt:

Diese Elemente werden nun mit den für Rüssel oft typischen, leicht rustikalen Aromen kombiniert, die einerseits im eher assoziativen Bereich wunderbare Bodenständigkeit installieren, andererseits aber von der Sensorik her sehr fein eingesetzt sind.

Jetzt, da die Aromen ausreichend Bodenständigkeit installiert haben, will auch die Palette mal wieder … Ja, was?

Doch hier kommt nun der oft nicht sichtbare, aber immer schmeckbare Aspekt der aromatischen Palette zum Tragen.

Ach so, ja: der Aspekt der Palette will zum Tragen kommen. Oder doch eher zum Anlehnen?

Die aromatische Palette darf man sich dabei durchaus in Anlehnung an die Malerei vorstellen. So, wie dort oft eine bestimmte Auswahl von zum Beispiel Rot-, Gelb-, Grün- oder Blautönen das Gesamtbild …

… zum Beispiel: verschmiert? Nein:

prägt, ist dies analog auch in der Kochkunst möglich.

Wenn dann die Auswahl die Kunst analog geprägt hat und es uns gelungen ist, selbst die

wirkungsvoll getrockneten Brotelemente

zu schlucken, werden wir hoffentlich genügend Phantasie entwickelt haben, uns vorzustellen, dass es sogar

weit auseinanderlaufende Zusammenstellungen

gibt und diese

nicht nur tragen, sondern den Ausdruck einer großen Freiheit und Selbstverständlichkeit haben.

Welche annähernd so groß sein müssen, wie die Hoffnung des Autors, seinen Lesern ungestraft einen solchen Stuss andrehen zu können. Denn …

… wenn es denn so funktioniert, wird vieles möglich.

Wenn nicht alles. Zum Beispiel, dass Herr Dollase künftig die Leitung des FAZ-Feuilletons übernimmt? Nein, noch mal Glück gehabt:

Wenn es denn so funktioniert, wird vieles möglich – auch die Kalbsbrust, … die ohne jede Grobheit in aller Feinheit daherkommt.

Dann wird vielleicht sogar möglich, dass der Gastrokritiker, dem der Stift schon lange zu kurz geworden ist, endlich wieder in aller Grob- oder Feinheit seinen Pinsel auspackt, um uns fortan nicht mehr mit der Palette des Rüssels behelligen zu müssen.
Sehr gut möglich auch, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass Jürgen Dollases Texte in der Journalistenschule in einem Ordner gesammelt werden, der die Aufschrift trägt: „So nicht!”

Vor zwei Jahren gestorben ist Jean Jülich, Edelweißpirat.

Dienstag, 15. Oktober 2013 – Elfuhrsiebenundvierzig, elfkommavier. Wolkig.

Täglicher Morgengruß unter Nachbarn im Bistum Limburg: „Un, was mächt’n de Teebatz?”

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Ein Auszug aus der Geisterbahn vom 11. Oktober 2010, geschrieben nach einer Lesung in Limburg vor genau drei Jahren: Auffällig, wie erbost man hier allseits über den Bischof ist, der als Nachfolger von Kamphaus seit knapp drei Jahren das Bistum in Besitz hat. Eine seiner ersten Amtshandlungen, mit denen er Furore machte: Er relegierte einen Dekan, der ein homosexuelles Paar getraut hatte. Wenn eine solche Demonstration der Macht kein Ausweis charakterlicher Verkommenheit ist, was dann? Jetzt, heißt es, setze er sich „dort oben” auch noch „einen Palast” mit eigener Kapelle hin.

Wäre ich ein leidlich liberaler Katholik, würde ich selbstverständlich die Absetzung des lügenhaften Bischofs fordern. Und gehen wird er ja nun auch müssen – so oder so. Es ist also geschafft. Was also soll noch der tägliche wohlfeile Furor, mit der die Presse auf ihren Seiten einen Mann versucht zur Strecke zu bringen, der sich doch längst dorthin gebracht hat. Kann man nun nicht ablassen von diesem frühvergreisten Bübchen, das vielleicht wirklich krank ist, jedenfalls aber sichtlich überfordert? Würde unsere Journaille doch nur mit der Hälfte des hier gezeigten Eifers die riesigen Privatvermögen der Reichsten, die gigantischen Vorstandsgehälter in den großen DAX-Unternehmen geißeln. Als sei dieses Geld nicht zusammengeräubert.

Und wunderbar gelungen, nach allem, was man bislang gesehen hat, ist der neue Bischofssitz ja wirklich – oder, wie ein ungenannter Architekturkritiker sagte: “Wenn ein Haus so schön geworden ist wie das neue Limburger Diözesane Zentrum, dann darf dafür auch mal ein Bischof über die Klinge springen.”

Am 15. Oktober 1975 starb der Stoßtruppführer und Schriftsteller P.C. Ettighofer („Gespenster am Toten Mann”). Er war ein Rassist und ein wütender Antisemit, der die Pogrome gegen die Juden begrüßte. Seit 1980 ist in Euskirchen eine Straße nach ihm benannt.

Donnerstag, 26. September 2013 – Achtzehnuhrvierundvierzig, siebzehnkommaneun. So richtig sonnig kann man das nicht nennen.

Heute Trauerfeier für Reich-Ranicki auf dem Frankfurter Hauptfriedhof. Vierzehnuhrdreißig, noch eine halbe Stunde Zeit. Überall schwarzgewandete Security-Gorillas mit Knöpfen in den Ohren – laufen rum, lauernd, energetisch, raumgreifend, flüsternd. Vor der Trauerhalle ein kleines Carré, abgesperrt mit gelbschwarzem Plastikband, darin die Fotografen und Kameraleute. Es wird gelacht, aber leise, mit schlechtem Gewissen.
Wie es sich für den ungeladenen Chronisten geziemt, mische ich mich unter die wenigen Zaungäste, die auf den Stufen stehen und den Eingang beobachten. „Ist das der Gauck?” – „Nee, der Gauck ist kleiner und kommt mit dem Auto.” – Der Kritiker Karasek betritt das Gelände, wehenden Rockes, breit, teigig, unübersehbar. In meiner Umgebung erkennt ihn niemand. Volker Hage, grau, unbekannt, keiner fragt ihn was. – „Ist das die Frau Radisch?” Nee, sage ich. Aber eine halbe Minute später kommt sie und ich sage: Das ist die Frau Radisch! – „Im Fernsehen sah die immer so zierlich aus.” Tja. – “Guck ma, der Gottschalk.” – „Ja, Mensch, klar, da isser ja. Mensch, der Gottschalk und der Dings, der Dings, wie heißt er noch, der Herausgeber?” – Schirrmacher. – Peter Feldmann kommt, der Oberbürgermeister, zu Fuß, vielleicht mit der Straßenbahn, bescheiden wie der neue Papst und weiß nicht recht, wohin mit sich. Dann die ersten beiden Limousinen. „Der Gauck, der Gauck?” – Nein, sage ich, das ist Salomon Korn. – „Ach so, der von der Dingsbums-Gemeinde”. – Zwei weitere Limousinen. Bouffier. „Eingetroffen, der Ministerpräsident”. Lässt sich brav fotografieren. Tut ein wenig so, als sei es ihm unangenehm. Wendet sich schließlich brüsk ab. Gehört wahrscheinlich dazu. – Es ist kurz vor drei. Der Polizist direkt vor uns zückt sein Telefon: „Noch drei Minuten”, sagt er leise. Man hört schon die Martinshörner. Dann wieder schwarze große Autos, wieder springen schwarze Gorillas raus. „Eingetroffen”, sagt der Polizist in sein Telefon, „der Präsident”. Peter Feldmann begrüßt sie alle, bemüht um Haltung, aber sein Gesicht zuckt vor Überforderung. Interessant, was für ein mimisches und gestisches Gerangel stattfindet auf diesen Ebenen.
Die hundertfünfzig offiziellen Gäste sind drinnen in der Trauerhalle. Wir wenigen hier draußen sind die Inoffiziellen und hören die Reden über Lautsprecher. Begrüßung durch Rüdiger Vollhard. „Wer Marcel Reich-Ranicki kannte, wird zeitlebens nicht aufhören, ihn zu vergessen”, sagt er. So was kann passieren. Peter Feldmann hält eine graue Rede. Volker Bouffier hält eine laute, dumme Rede, eingemeindend, die Täter exkulpierend: „Ein großer Hesse”, „ein großer Frankfurter”. Reich-Ranicki habe sich den „Stürmen der Verfolgung entgegengestemmt”. Stürme der Verfolgung. So entsorgt man Geschichte und unangenehme Zeugen. Was für ein Klotz. Aber niemand schreit. Kein Bubis weit und breit. Petra Roth hält eine persönliche Rede, respektvoll, freundschaftlich, dankbar. Schirrmacher spricht. Rachel Salamander spricht. Dann der kluge Salomon Korn. Fast laut wird er, als er die Eingemeindungsversuche zurückweist. Reich-Ranicki sei ein Heimatloser gewesen, der sich zeitlebens gewappnet habe gegen die Deutschen. Ihre Hochzeitstage hätten er und Tosia grundsätzlich im Ausland gefeiert. Schließlich Gottschalk, bescheiden, angemessen, genau – na ja, fast.
Die uniformierten Sargträger drücken sich so rum, lachen, rauchen. Jeder will noch mal den Präsidenten und Gottschalk sehen.
Ich gehe jetzt nach Hause und frage mich auf dem ganzen Heimweg, warum bei der Beerdigung von Matthias Beltz mindestens zwanzig Mal so viele Trauergäste anwesend waren wie heute. Was für ein merkwürdiges Land. Aber alle finden alles in Ordnung.

Heute vor dreiundsiebzig Jahren nahm sich der deutsche Jude Walter Benjamin auf der Flucht vor seinen Landsleuten in Port Bou das Leben.

Donnerstag, 12. September 2013 – Elfuhrdreiundzwanzig, dreizehn- kommaneun. Bedeckt.

Heute Morgen, etwas dumpf im Kopf, möchte ich aus gegebenem Anlass wissen, was die Ines Pohl, Chefredakteurin der taz, eigentlich für eine ist. Will taz-online öffnen, werde aber erstmal durch einen Spendenaufruf gestoppt: „Es gibt viele Gründe, für die es sich lohnt, zu kämpfen.” Kann man diesen Satz verstehen? Wie kann man für einen Grund kämpfen? Nein, ich möchte nicht für eine Zeitung spenden, die nicht einmal in der Lage ist, ihre Leser verständlich anzubetteln.
Also weiter, also Ines Pohl: 1967 geboren, Studium an der Georg-August-Universität in Göttingen, dann dort Frauenbeauftragte, Volontariat bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen, nach zehn Jahren Leiterin des Ressorts Politik. Als sie im Juli 2009 zur Chefredakteurin der taz wird, stellt sie sich den Leserinnen und Lesern selbst vor. Schon dieser Text zeugt von einer so glatten Schlichtheit, dass man seine Autorin zur Kristina Schröder der deutschen Tageszeitungen küren möchte, eine Badezimmerkachel des Journalismus. In einem Artikel vom 4. Juli 2013 beschreibt Ines Pohl dann die Feier ihrer Hochzeit mit einer Frau: „… wenn schon ein Fest, dann Klärchens Ballhaus, im Herzen Berlins. Eine historische Stätte der Begegnung, in allem gepflegt-inszenierten Verfallen perfekt.” Auf den Gedanken, aus dem Verfall ein Verfallen zu machen, kann wohl nur jemand verfallen, der das Verfallsdatum seiner Texte noch vor deren Erscheinungstag ansetzt. „Welche Woge des Getragenseins und Ernstgenommenwerdens eine durchfließt, die ihre Liebe zu einer Frau feiern lässt.” – Nun ja: alles fließt. – „Die Philosophie der Flusspferde” hat Gottfried Benn so etwas genannt. Frau Pohl ist sich einig: „… an diesem Freitag wurde etwas angerührt, wo mein Verstand nicht hinreicht.” Das freilich muss nicht viel heißen.

Todestag von Claude Chabrol.

Mittwoch, 28. August 2013 – Zehnuhrvierundfünfzig, siebzehnkommafünf. Sonne.

Vorbild für das Luxushotel in Georges Simenons Roman „Les caves du Majestic” ist nicht das alte Hôtel Majestic gewesen, sondern das heute immer noch existierende „Claridge”. Von dort aus ist man zu Fuß in einer Minute auf den Champs Elysees und in fünf Minuten am Arc de Triomphe – zwar eine von den Touristen bevorzugte, von Kommissar Maigret aber eher gemiedene Gegend. Dass der auch das Milieu der Jeunesse dorée nicht sonderlich schätzt, wird nirgends so deutlich, wie während des Tanztees im „Majestic”: „Und Maigret, Plebejer bis auf die Knochen, bis ins Mark, fühlte Feindschaft gegen alles, was ihn hier umgab.”

Geburtstag hätte heute Philippe Léotard. Ist aber auch schon tot. Wie ich ihn geliebt habe, in „So sind die Tage und der Mond”.

Montag, 19. August 2013 – Zwölfuhrfünf, neunzehnkommavier. Bedeckt. Immer wieder Regen. Viel Sport in den letzten Tagen. Achilles ist sauer.

Vorhin im Autoradio Uli Sonnenscheins Fanfare für Peters Roman „Ein deutscher Sommer”. Schon der Titel hätte besser nicht gewählt sein können. Und ich juble mit. Habe aber noch immer nicht mein Exemplar erhalten.

Auf der Startseite der Online-Ausgabe der Frankfurter Rundschau heute zwei Schlagzeilen:
1. Über eine junge Frau aus der Nähe von Kassel, die vor der Küste Hawaiis schwimmen war: „Hai beißt Hessin den Arm ab”.
2. Direkt darunter über Stephan Schreck, einen Spieler von Eintracht Frankfurt: „Kettenhund mit Biss”.

In der Post der Prospekt des Ares Verlags. Dort angekündigt ist das Buch von General Freiherr Jordis von Lohausen: „Reiten für Russland. Gespräche im Sattel”.

Der Schriftsteller Thomas Brasch war von den DDR-Behörden immer wieder drangsaliert worden. Bereits als Student zwangsweise exmatrikuliert, wurden seine Werke später verboten, er selbst wegen seines Protests gegen den Einmarsch der Roten Armee in Prag ins Gefängnis gesteckt. Mitte der siebziger Jahre ließ man ihn in den Westen ausreisen. Trotzdem hielt er die Bundesrepublik nicht für das bessere Deutschland. „In diesem Land werde ich nicht alt”, soll er nach seiner Übersiedlung gesagt haben, ein Satz, der sich bewahrheiten würde: Brasch starb im November 2001 mit 46 Jahren. Beim Aufräumen finde ich jetzt den schönen Artikel von Georg Diez über Braschs Gedichte. Und dort dessen Satz: „Ich komme aus einer Familie von Kommunisten, und ich hasse diesen Hass auf die DDR, der sich hier durch alle Schichten zieht, auch bei den Linken zu finden ist. Ich habe eine Sentimentalität gegenüber der antifaschistischen Tradition, in der ich groß geworden bin.”

Heute vor vielen Jahren starb Blaise Pascal: „Alles Unglück der Menschen hat eine einzige Ursache: dass sie nicht in Ruhe in ihrem Zimmer bleiben können.” – Tout le malheur des hommes vient d’une seule chose, qui est de ne pas savoir demeurer en repos, dans une chambre. –

Montag, 12. August 2013 – Vieruhrdreiundvierzig, elfkommaacht. Wach seit einer Stunde. Wirre Träume. Seit gestern zurück. Hier kühlt es nachts jetzt auch kaum ab. Hat nicht Atilla heute Geburtstag?

Der Bote mit seinem knatternden Motorroller ist schon durch. Viele Häuser sind es nicht mehr, an denen er noch hält, um eine Zeitung in den Kasten zu werfen. Vielleicht lebt sich’s ja besser, wenn man sich für gar nichts interessiert.

In der Ferne das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Aber kann ja gar nicht sein, gibt keine Züge hier.

Eine Woche die Großspurigkeiten des Atlantik, dann dieses uralte Bauernhaus im grünen, nassen Nichts des Limousin. Und nur langsam wird mir klar, wie wohl ich mich in alten Häusern fühle, wie sehr das jedes Gefühl, jeden Gedanken, jede Bewegung bestimmt.

Feste Regel: Auf dem Land kriegen alle alles mit.

Nachschauen: das Städtchen Richelieu, Martin Nadaud, Tante Lisbeth (La Cousine Bette), die Kathedrale von Limoges, der Bahnhof von Limoges, die Kirche von Dôle (deren Riepp-Orgel Martin gewiss entzückt hätte).

Im Urlaub versucht, Zolas „Nana” zu lesen. Geht aber nur, wenn ich parallel in die deutsche Fassung von Walter Widmer schaue. Aber das ist eine so unterirdisch schlechte, eine so rabiat verfälschende Übertragung, dass man sich fragt, was Widmer der französischen Literatur (und unserem Bild von ihr) noch alles angetan hat. Dabei galt er lange als der wichtigste, als der kongeniale Übersetzer.

Nach „Dimanche” nun Simenons „Les Caves du Majestic”. Schon die ersten Seiten … Was dieser Mann konnte …

Hundertsechsundachtzig neue Mails. Kurz die Versuchung, sie allesamt in den Orkus zu schicken.

Hab ich denn wirklich seit zwei Monaten keine Geisterbahn geschrieben? Na, kann ja sein, dass man der Welt nichts sagen mag, wenn sie einem nichts zu sagen hat.

Und jetzt beginnt ja nun auch wirklich die lange, die asoziale Zeit, in der ich endlich das nächste Buch … Macht’s gut, Freunde!

Tot ist seit elf Jahren Carlo Ross aus Hagen, der erst nach seiner Pensionierung aufgeschrieben hat, was ihm in seiner Kindheit widerfahren ist.

Montag, 10. Juni 2012 – Dreizehnuhrachtzehn, sechzehnkommazwei. Grau, aber okay. Immer mal wieder ein paar Tropfen. Schöne Stunde nach Norden raus gelaufen.

Sonnig war das Wochenende zumeist und wonnig rundum. Die ganze Familie beisammen, haben wir diniert, diskutiert und, in unseren Fauteuils sitzend, Musik gehört.

Deshalb nur diese Trouvaille von Götz, die heute Morgen per Mail kam: Unter der Überschrift „Die Mitschuldigen” notiert Horkheimer 1956: „Wir dürfen uns nicht beklagen, was auch kommt, denn wir sitzen ruhig und bequem in unseren Fauteuils, wir dinieren und diskutieren, wenngleich wir wissen, dass die Hölle los ist. Auch wir gehören zu den Teufeln – auch wir.“

Assad ist tot, der Vater.

Freitag, 7. Juni 2013 – Zwölfuhrsechsundreißig, dreiundzwanzigkommavier. Kann man nicht meckern.

Barbaras „Göttingen” – Immer mal gehört hatte ich dieses Lied über die Jahre, ohne je richtig hinzuhören, ohne dass es mir je etwas bedeutet hätte. Gestern Abend dann eine lange, hinreißend gefühlige Geschichtsstunde, indem ich zwanzig, dreißig Mal auf youtube die Aufnahme aus dem Jahr 1967 angehört, angesehen und mir den Text übersetzt habe. Und erst jetzt verstehe ich, was dieses Lied einer französischen Jüdin, die sich als Kind vor den Nazis hatte verstecken müssen, für Franzosen und Deutsche bedeutet haben muss, damals in den sechziger Jahren.

Bien sûr, ce n´est pas la Seine,
Ce n´est pas le bois de Vincennes,
Mais c´est bien joli tout de même,
A Göttingen, à Göttingen.

Na klar, das ist nicht die Seine,
Na klar, das ist nicht der Bois de Vincennes
Aber schön ist es trotzdem
In Göttingen.

Et lorsque sonnerait l´alarme,
S´il fallait reprendre les armes,
Mon cœur verserait une larme
Pour Göttingen, pour Göttingen.

Und wenn die Sirenen wieder heulen,
Wenn man wieder zu den Waffen greifen muss,
Wird mein Herz eine Träne vergießen
Um Göttingen.

Nun, nachdem ich mir das erobert habe, könnte ich doch tatsächlich mal wieder durch diese Stadt schlendern, die ich bald drei Jahrzehnte lang gemieden habe, trotz Heine, trotz Lichtenberg und dem Gänseliesel, dieses verhasste Göttingen, nach all dem Mist, den ich dort erlebt habe und der mir bis heut in den Knochen sitzt. Kann es denn sein, dass ein kleines, altes Lied einen so sehr besänftigt, dass das möglich ist, nach alledem …?
Und wie charmant Barbara ist in ihrer so liebenswert hinfälligen Décadence … Eigentlich wie Proust, oder? Was für ein schöner, schwarzer, katzenäugiger Vogel. Nein, und nun sehe ich, dass sie auf dem Friedhof von Bagneux beerdigt ist, wo wir doch gerade erst waren, ohne das zu wissen … Wie gern hätte ich auf ihr Grab eine der geliebten Göttinger Rosen gelegt.

Henry Miller ist tot.

Donnerstag, 6. Juni 2013 – Zwölfuhrvierzehn, einundzwanzig Grad. Nix als Sonne.

Gestern Nachmittag in den 30er Bus Richtung Konstabler; auf den Ohren wieder „L’Étranger”. An der Haltestelle „Nibelungenplatz, Fachhochschule” spielt sich eine stille, heitere Szene ab. Eine Studentin, schwarz, ziemlich korpulent, kommt winkend angerannt, obwohl die Türen des Busses schon geschlossen sind. Der Busfahrer, vielleicht ein Marrokkaner, öffnet die Tür noch einmal und lässt die Studentin hinein. Sie bedankt sich, lächelnd, und gibt zu, lächelnd, dass sie nicht einmal Geld für die Fahrkarte dabei habe. Eine ältere Frau mit Kopftuch, vielleicht Türkin, zückt ihre Geldbörse, reicht der Studentin ein paar Münzen, die diese an den Fahrer weitergibt, lächelnd auch er nun.
In die S-Bahn zum Südbahnhof. Alexander Wasner pickt mich vor dem Postamt auf, tanken, Autobahn, Mainz. Was für eine Hitze. In der Staatskanzlei Empfang zum 30. Todestag von Anna Seghers. Schon auf dem Parkplatz kommt uns Christina Schreiber von der Seghers-Gesellschaft entgegen, nett, zugewandt, ein wenig nervös.
Pierre Radvanyi, der siebenundachtzigjährige Sohn von Anna Seghers fragt mich, ob es meine Kriminalromane auch auf französisch gebe; sein Sohn Jean wolle das wissen. Und plötzlich kommt es mir wie eine ungeheure Anmaßung vor, dass der Krimiautor sich seinen Nom de Guerre von der großen Seghers geliehen hat. Aber gut, sie hat sich den ihren ja auch geliehen.
Von einer jungen Frau begleitet, betritt Malu Dreyer die Bühne, begrüßt und hält eine kleine Rede, ganz unprätentiös, freundlich, offen. Hätten wir solch eine Ministerpräsidentin in Hessen, würde es wieder Spaß machen zu opponieren. Was haben wir stattdessen …
Auf dem Podium Felicitas von Lovenberg, Wilhelm von Sternburg, Pierre Radvanyi et moi. Wie alle hänge ich an den Lippen des alten Mannes, der so bedächtig von seiner Mutter erzählt. Die wohl, der Eindruck verstärkt sich, in der DDR nie ganz heimisch geworden ist, die sich immer gesehnt hat nach Mainz, nach dem Rhein und der rheinhessischen Landschaft. Radvanyi berichtet, dass er seiner Mutter, als sie schon alt und gebrechlich war, einmal erzählt habe, dass die Lachse aus dem Fluss ihrer Heimat in die Meere ziehen, bevor sie nach ein paar Jahren zum Laichen und Sterben wieder zurückkehren in ihr Geburtsgewässer. „Ach, wäre ich doch ein Lachs” habe Anna Seghers darauf erwidert.
Buffet, Wein, Buffet, Wein. Als ich mich bei Malu Dreyer für die freundliche Atmosphäre in ihrem Haus bedanke, sagt sie nur: „Das ist normal. So sind wir hier.”
Und bereits beim Abschied, bevor man uns rauskegelt, stellt sich mir noch eine Frau vor, ebenfalls Frankfurterin, sagt sie, lächelnd, obwohl sie das eigentlich nicht sagen dürfe, bei dem Amt, das sie begleite. Wieso das? Ach so, es ist Monika Fuhr, die Sprecherin der rheinland-pfälzischen Landesregierung. Wirklich angenehm, dieser Abend.
Und heute Morgen lese ich, dass auf dem Nachttisch von Anna Seghers immer ein Kriminalroman gelegen habe. Na dann.

Todestag von Mrs. Robinson Anne Bancroft.

Sonntag, 2. Juni 2013 – Elfuhrzwei, elfkommavier Grad. Sonne, blau, Wolken, weiß.

Gestern Blockupy-Demonstration; um kurz vor elf bin ich am Baseler Platz. Rumstehen, warten. Es sind Leute aus ganz Europa gekommen, manche schon vor ein, zwei Tagen. Weil ich niemanden treffe, den ich kenne, suche ich mir eine bunte, laute Gruppe mit Regenschirmen (okay, verstehe, „Rettungsschirme” sind gemeint), wohl Italiener, vielleicht ein paar Portugiesen und Spanier dabei, Männer, Frauen, jung zumeist. Direkt vor deren Transparent hat sich mit etwa hundert Leuten die Spitze des Zuges aufgestellt, dort reihe ich mich ein. Wir sind so Latschdemonstranten, biedere Bürger, Gewerkschafter, Verdi, GEW, du und ich undsoweiter und dazu ein paar gutgelaunte Musikanten in Sixties-Pop-Klamotten. Alles friedlich, klar, und das Wetter scheint zu halten. Wir laufen die Wilhelm-Leuschner-Straße runter und rufen unsere Sachen. Rechts und links in der Mainluststraße und unten an der Neuen Mainzer marschieren mit einem Mal hunderte vermummter Polizisten auf und bringen sich in Stellung. Aber was wollen die? Als die Regenschirmleute hinter uns diesen Straßenabschnitt erreicht haben, stürmen die Polizisten plötzlich los, separieren uns von den Regenschirmen und kesseln diese ein. Aber warum? Es ist nichts, es ist aber auch wirklich gar nichts passiert. Die Behelmten bilden eine Kette und drängen uns in Richtung Schauspielhaus ab. Dort stehen wir hundert Biedermeier und warten, was passiert. Es passiert nichts. Die Polizei macht eine Durchsage: Die Regenschirmleute seien bewaffnet und hätten Straftaten begangen. Das ist ganz offensichtlich eine Lüge. Die Polizei hat diesen Einsatz geplant und vorbereitet. Sie hat ihn genau für diesen Ort geplant. Und sie hat ihn durchgeführt, obwohl nichts passiert ist. Woanders hätte sie ihn gar nicht durchführen können. Sie wollte unseren “Aufzug”, wie sie das nennt, zerbrechen. Die Polizisten tun, was man ihnen befiehlt. Sie sind vermummte Marionetten. Irgendwer hat ihnen diesen Befehl gegeben. Wer war das? Der Innenminister? Der Ministerpräsident? Wir sollen einfach unsere Demonstration fortsetzen, sagt die Polizei. Mit hundert Leuten? Das wollen wir nicht. Wir wollen die Regenschirmleute nicht alleine lassen. Wir wollen mit den zehntausend Demonstranten, die hinter uns sind, zusammen sein. Mit allen. Zwei, zweieinhalb Stunden geht das so hin und her. Gerüchte, Spekulationen. Plötzlich kommt ein Trupp Behelmter von der anderen Seite, vom Willy-Brandt-Platz, und will durchstoßen in die Hofstraße. Das wollen wir nicht. Wir Biedermeier bilden ebenfalls eine Kette. Aber dann kommen sie auch noch von der anderen Seite und kriegen schließlich ihren Willen. Ein paar Demonstranten gehen dabei zu Boden. Nicht so wild. Irgendwann kommt der Veranstalter der Demonstration und sagt, die Polizei habe auch unseren Platz zu ihrem Aufmarschgebiet erklärt, wir seien also ab sofort illegal hier, wir sollen unseren Platz freimachen, sonst würde geräumt. Die echt braven Biedermeier sagen: Nein, das wollen wir nicht.
Ich habe gelernt, dass es bei der Demokratie um Körper geht. Wie viele Körper sind anwesend? Welche Körper dürfen auf welchem Platz stehen? Welche Körper sind stärker? Welche Körper geben nach? Die Polizistenkörper haben unsere Demonstration, die uns die Richter erlaubt hatten, zerstört. Wären wir mehr Demonstrantenkörper gewesen, hätten die Polizistenkörper das nicht so leicht geschafft.
Ich frage mich, warum von den vielen Leuten, die ich in Frankfurt kenne, so wenige anwesend waren. Warum reisen arbeitslose Jugendliche aus Südeuropa an, aber meine Freunde aus dieser Stadt sind nicht da? Was ist mit ihnen los? Zu bequem? Zu ängstlich? Zu feige? Nicht einverstanden? Ich weiß nicht. Ich werde sie nicht danach fragen. Es gibt nichts zu reden. Ich werde einfach auch beim nächsten Mal meinen Körper zur Verfügung stellen. Ich habe gelernt: Man muss sich in die Waagschale werfen. So geht Demokratie. Jeder hat eine Stimme; jeder hat einen Körper, der dabei ist oder eben nicht.

Bo Diddley ist tot.

Freitag, 31. Mai 2013 – Achtuhrfünfundvierzig, zwölfkommasechs. Wind. Regen.

Lieber G.,
ja, ich bin mal wieder in einer Kommunikationsvermeidungsphase, was nicht schlimm ist, sondern mir ein Vergnügen. Das betrifft auch die Geisterbahn. Mein Überdruss am allgegenwärtigen Geschnattere und Geschlaumeiere ist so groß, dass mir selbst die klügsten Wortmeldungen auf den Keks gehen. Am liebsten mag ich nur noch glotzen.
Gestern war ich kurz im Blockupy-Camp am Rebstockgelände, wo zwei autonome Pfiffikusse, angeblich Wirtschaftsexperten, mir mit siegesgewissem Grinsen erklären wollten, warum jeder Versuch etwas zu verbessern, das System am Leben erhält. – Gott, was für eine Selbstgerechtigkeit, als hätte ich nicht auch meinen Adorno gelesen. Ich hab gegähnt, mich umgedreht und bin gegangen. Welt, lass mich in Ruhe!
Zu Deinem Vernetzungstext: Heute morgen gegen 4 Uhr las ich auf meinem Kindle in Camus’ L’Étranger (was ich nur deshalb auf dem Kindle tue, weil dort ein Wörterbuch unterlegt ist und ich nur so die französische Ausgabe lesen kann), als plötzlich die Meldung kam: „Ein Fehler ist aufgetreten, löschen Sie den Inhalt und laden Sie ihn aus der Cloud neu”. Manchmal kommt auch die Nachricht: „Wir haben Ihren Kindle auf den neuesten Stand gebracht” – alles, ohne mich zu fragen. Weißt Gott, wir hängen an der Strippe.
Aber ohne dranzuhängen, wüsste ich nicht, was gerade vor der EZB geschieht.
Sehr herzlich
MA

Gerade twittern die Blockupy-Leute folgendes: „Taunustor/ Neue Mainzer Str.: Die Polizei greift immer wieder Demonstrant_innen an. Hört auf damit! Unser Widerstand ist legitim!”
Was für ein saublöder Appell an die Staatsmacht. Oder stellt sich da nur jemand blöd, um den Empörten spielen zu können?

Todestag von Hannah Höch und Louise Bourgeois.

Dienstag, 28. Mai 2013 – Elfuhrdreiundzwanzig, siebzehnkommafünf. Glaubt man’s denn: Sonne. Wach seit drei.

Dank Philipp eingetaucht in die französische Popmusik der 60er Jahre. Und kann gar nicht genug bekommen von Jacques Dutroncs Auftritt, wenn er in all seiner Schönheit und mit ungläubig-ironischem Lächeln sein „Et moi, et moi, et moi” singt:

Neuf cent millions de crève-la-faim
Et moi, et moi, et moi
Avec mon régime végétarien
Et tout le whisky que je m’envoie
J’y pense et puis j’oublie
C’est la, c’est la vie

Neunhundert Millionen Hungerleider
Und ich und ich und ich
Mit meiner vegetarischen Ernährung
und all dem Whisky, den ich mir reinziehe
Ich denk dran und dann vergess ich’s
So ist das, so ist das Leben.

Heute Nacht dann, etwas hinfälliger gestimmt, in Shakespeares Sonetten und in Christa Schuenkes Übertragung:

Tired with all these, from these would I be gone,
Save that to die, I leave my love alone.

All dessen müd, möcht ich gestorben sein.
Blieb nicht mein Liebster, wenn ich sterb, allein.

Immendorf ist tot.

Montag, 13. Mai 2013 – Zwölfuhrdreiundzwanzig, zehnkommazwei. Regen. Grau.

Gestern „Letzte Bilder” in der Schirn. Und wenn Chr. mich nicht gedrängelt hätte, wäre mir dieses Kleinod wohl entgangen. Mensch! Geh! Hin! Und schau sie dir genau an, die Bilder von Kippenberger, die sich auf Picasso beziehen, aber so viel mit Matisse zu tun haben.

Apropos Joseph Beuys. Wer, als kunstinteressierter Jugendlicher, hätte sich in den siebziger Jahren ihm und seinen lauthalsen Selbstinszenierungen entziehen können? Gesehen habe ich ihn nur einmal, 1977 während der documenta 6 im Kasseler Fridericianum, als er seine Honigpumpe der Öffentlichkeit präsentieren sollte. In einem Hinterraum warteten die Journalisten und ein kleines Publikum. Als er nicht kam und nicht kam, gab ich auf und verließ den Saal. Da kam er dann doch, zu spät, wie es sich gehört, und fliegenden Schoßes, möchte man sagen. Bei sich eine Fotografin, die er unflätig, geradezu kinskiesk beschimpfte. Er drehte sich zu ihr um und versetzte ihr einen solch heftigen Schlag ins Gesicht, dass sie ins Taumeln geriet und ihre Ausrüstung zu Boden ging.
„Jeder Mensch ist ein Künstler” – Einen Moment lang mag dieser Satz befreiend gewirkt haben. Aber dachte man nur kurz darüber nach, ließ einen seine Unschärfe zutiefst ermüden. Beuys, so heißt es, habe mit diesem Satz die Kunst von ihrem Sockel geholt. Auf dem sie freilich schon lange nicht mehr stand. Und auf den er sich selbst dann mit brachialem Gestus stellte.
Vielleicht war Beuys kein guter Mensch. Vielleicht war das Meiste, was er gesagt hat, nicht besonders schlau. Das macht die bis heute andauernde Wirkung seiner Arbeit nicht kleiner. Ein Künstler muss weder schlau noch gut sein. Man sollte nur unterscheiden können.

Dass „wir” – gemeint ist Deutschland – in der gegenwärtigen Krise so vergleichsweise gut dastehen, sei nicht zuletzt das Verdienst Gerhard Schröders und der sogenannten Hartz-IV-Reformen. So hört man es in letzter Zeit fast unisono aus dem Mund jener, die Schröder weder gewählt noch durch seine Politik etwas verloren haben, die aber immer wussten, dass man auch die deutsche Sozialdemokratie mit finanziellen Zuwendungen bedenken muss, damit sie tun kann, was ihre Aufgabe ist: nämlich jene „harten, aber unausweichlichen Einschnitte” bei der eigenen Klientel durchsetzen, zum Nutzen jener, die vor und nach jeder Krise die Gewinner sind.

Schon einundzwanzig Jahre her, dass Gisela Elsner sich das Leben nahm.

Montag, 22. April 2013 – Neunuhrzehn, zehnkommazwei. Grau, regenschwer der Himmel.

Vor dem Ausgang des Supermarktes, dort, wo man seinen entleerten Einkaufswagen parkt, steht ein älterer, versehrt wirkender Mann und bettelt um ein wenig Geld. Ein rundum intakter, frischgeduschter Schnauzbartspießer blafft den Bettler an: „Ich bin es gewohnt, für mein Geld zu arbeiten”. – „Es hat nicht jeder Arbeit”, sage ich, hinzukommend und dem Bettler einen Euro in die Hand legend. – „Arbeit gibt’s immer” ruft der Spießer und rutscht auf den Fahrersitz seines Spießer-SUVs. – „Aber nicht für jeden eine bezahlte”, rufe ich ihm nach, der bereits lächelnd von dannen fährt.
Wohl, um mir beizuspringen, meldet sich der Bettler zu Wort: „Unn wenn erst all die Rumäne komme, werds aach ned bessä für uns”, sagt er.
Und nun? Muss ich ihm jetzt den Euro wieder abnehmen?

Heute vor achtzehn Jahren hat Axel Schulz in Las Vegas seinen Kampf gegen George Foreman verloren.

Freitag, 19. April 2013 – Dreizehnuhrzehn, dreizehnkommasieben. Diesig. (Wie seltsam einen dieses Wort anschaut: diesig.)

Heute Nacht, eigentlich schon gegen Morgen, brechen drei junge, aber nicht mehr ganz so kleine Wildschweine in unseren Garten ein. Ein Leopard kommt hinzu, geht in Lauerstellung, springt und schnappt sich eines der Tiere. Zum Glück zappelt es nur, zum Glück quiekt es nicht. Zum Glück wache ich auf.

Wie schön, dass das Abonnement des „Spiegel” endlich ausgelaufen ist. Jetzt muss ich mir nur noch abgewöhnen, dauernd auf „Spiegel online” zu klicken.

Todestag von Ernst Robert Curtius, der 1922 einen Briefwechsel mit Marcel Proust begann und dessen kleiner, 1925 erschienener, Essay bis heute zum klügsten gehört, was über Proust geschrieben wurde.

Dienstag, 16. April 2013 – Elfuhrfünfzehn, siebzehnkommaacht. Endlich Frühling. Geschlafen wie tot.

Am Samstag mit dem ICE nach Paris, Gare de l’Est. Zum Boulevard Voltaire, wo der Telefonladen lag, in dem Ilan Halimi gearbeitet hat, ist noch da, aber geschlossen. Dann zu Maria und Bernard, Mittagessen. Hotel in der rue Oberkampf, kurz ausruhen, Sachen ablegen. Runter zur Place de la Republique, Boulevard Saint Martin No. 11; hinter dieses Tor hat sich Peter Gingold vor der Gestapo geflüchtet. Dann Montparnasse, rue Campagne-Première. In der Nummer 9 hat Patti Smith gewohnt; selbe Straße: Verlaine, Rimbaud, Duchamp, Man Ray, Yves Klein. Und „Außer Atem” wurde hier gedreht. Dann zum Gefängnis. Hinter den Mauern der Santé saßen: Apollinaire, Léon Daudet, Cheb Mami, Mesrine, Carlos … Aber die Kneipe „À la bonne Santé” gegenüber dem Eingang gibt es nicht mehr. Ins Restaurant „Le Pot de Terre”, na ja, war ein Tipp, aber den Gourmets aus der Provinz ist eben nicht zu trauen.
Am Sonntag beim Frühstück im Fernsehen die Nachrichten über die Flucht von Redoine Faid, der sich durch fünf Sprengsätze aus dem Gefängnis von Lille befreit hat. Die Zeitungen sind voll davon. Raus nach Bangneux auf den riesigen Friedhof mit seinen unendlichen vielen jüdischen Gräbern. Hinter dem zweiten Rond-Point nach links, dort finden wir das Grab von Etty und Peter Gingold. Vor Jahren war ich mit Jürgen und Jürgen schon einmal hier, der Friedhof aber wegen Eisglätte geschlossen. Direkt hinter der Mauer das Hochhaus, in dem Youssouf Fofana bis kurz vor seiner Verhaftung gelebt hat. Rein nach Bagneux in die andere Plattenbausiedlung, rue Prokovief. In der Nummer 1 hat Fofanas Bande Ilan Halimi in einen Keller gesperrt, dann in ein Appartement der Nummer 4, wo er weiter gefoltert wurde. Mit der Metro zurück in die Stadt, Hotel Lutetia, dann nach Saint-Germaine-des-Prés. Wir sind erschöpft, wollen einen Kaffee trinken, aber die Preise hier: obszön – sechseuroachtzig für ein Wasser, pfff. Weiter. Hier starb Oscar Wilde, hier hat Borges gewohnt, dies war das Lieblingscafé von Hemingway, hier hat Picasso „Guernica” gemalt undsoweiter. Place Dauphine auf der Île de la Cité, Dort war die Zirkuswagenwohnung von Montand und Signoret, darunter die Galerie von Heinz Berggruen, daneben das Restaurant „Paul”. Auf dem Boulevard Saint-Michel geben wir auf, das Gedränge ist nicht zu ertragen, tout le monde ist da und die Preise – siehe oben! Schnell weg, schnell zurück nach Belleville, wo wir hingehören. Na also, wir schaffen es noch ins Röllchen – und hier ist das Essen gut und preiswert wie immer. Abends zum Charles-de-Gaulle, ein Stück die Champs-Èlysées runter, was für ein Auftrieb, die Straße ist schwarz vor Menschen bis zum Horizont. Dann in die Salle Pleyel, die Spannung steigt. Wird SIE kommen, wird SIE auftreten? Schöne, lässige Stimmung und ein wunderbar gemischtes Publikum. Das Orchester betritt die Bühne, dann Abbado … und … Sie kommt, sie ist da, wird sofort bejubelt: Martha Argerich, die nie einen Vertrag unterschreibt, aber uns den Gefallen tut, sie einmal in diesem Leben noch zu sehen, zu hören. Beethovens erstes Klavierkonzert, die Argerich zappelt, ruckt, wirft ein ums andere Mal ihre Haare ums Haupt, schraubt an ihrem Hocker, ist supernervös. Und dann spielt sie, so weich, so entschlossen, so selbstverständlich, als wolle sie zeigen, dass man Beethoven spielen kann, wie ihr Lehrer Friedrich Gulda seinen Mozart gespielt hat. Das Publikum aus dem Häuschen, der Beifall frenetisch. Dann Mendelssohns „Schottische”, und auch die ist unter Abbado und mit dem Mahler-Chamber-Orchestra eine Offenbarung. Habe ich je ein schöneres Geschenk bekommen? Zurück ins Viertel, Hunger. Aber nur noch der Kentucky Fried Chicken an der Metro Ménilmontant hat geöffnet – und wir stopfen uns auf einer nächtlichen Bank die frittierten Hähnchenteile in den Mund. Hotel.
Montag Gare de L’Est, Gepäck einschließen, dann zu Fuß die große Runde über Barbès zur Place de Clichy. Aber auch der Laden für Malerei-Bedarf, den es hier 180 Jahre lang gab und in dem Manet seine Farben und Leinwände gekauft hat, ist seit kurzem geschlossen. Was für eine Scheiße. Runter zur Gare Saint Lazare und in den kleinen Park, wo Marie Antoinette und Louis XVI begraben lagen. Alles blüht und die Vögel krawallen. Zurück über die lange Rue de Provence an der Rückseite der Grands Magasins vorbei, laufen, laufen, laufen, bis wir endlich wieder auf der rue du Faubourg-Saint-Denis ankommen. Paris ist plötzlich voller Fahrräder, viele alte Peugeots, die zu Fixies umgerüstet wurden. Und die jungen Streuner haben jetzt alle dieselben Schieberkappen auf ihren Brikettschädeln, vorne kurz und hinten hoch.
Abends um fünf in den Zug.

Tocqueville ist tot.

Montag, 8. April 2013 – Elfuhrsechzehn, dreikommasechs. Schlierig.

Vor ein paar Tagen, abends in der Kulturzeit, ein Beitrag zum vierzigsten Jahrestag von Heiner Carows und Ulrich Plenzdorfs Film „Die Legende von Paul und Paula”. Ich bade in den alten Bildern. Und fange – allein vor dem Fernseher sitzend – plötzlich an, hemmungslos zu heulen. (Darf man das schreiben? – Aber … wenn es doch so war.)

Gesternfrüh mit Chr. nach Seligenstadt zum Rennen am Mainufer. Die Achillessehne schreit, also verkneife ich mir den Lauf und treibe mich in dieser unglaublich schönen Stadt herum mit ihren unglaublich vielen Eiscafés. Kirchgänger, ein paar Touristen, ein paar Bewohner. Alles gedämpft durch die sonnige Kälte und die frühe Stunde. Sonntagmorgensfrühlingsstimmung. In der Turnhalle gibt es Rindswürste, belegte Brötchen und Unmengen der leckersten, selbstgebackenen Kuchen. Und weil viele Kinder da sind, wird auch der Ehrgeiz der Sportler ein wenig gemildert. Eine Atmosphäre, wie sie immer dann entsteht, wenn der Kommerz mal draußen bleiben muss.

Gesternabend in die Katharinenkirche. Martin Lücker hat dreißigstes Dienstjubiläum. Sonne geht auf: Eva Demski ist da. Anke Sevenich spaziert durch die Reihen, ich rufe, kurze Irritation, sie lacht, setzt sich zu uns, kommt gerade vom Dreh und zeigt auf dem Smartphone die Fotos: sie als Hilde Benjamin. Fehlt nur noch der Herl, dann könnten wir – wie sonst in der Nibelungenschänke – Babycalamares bestellen. Martin schenkt uns siebzig Minuten, am Ende die Uraufführung der Orgelfassung von „Mathis, der Maler”. Klasse, eine ganze Oper auf der Orgel. (Da fällt mir ein: Orgue de Barbarie heißt in Frankreich der Leierkasten). Dann ein paar Reden. Martin ist glücklich, freut sich ganz unverhohlen. Und wir mit ihm. Schnittchen? Ach nee, lieber in die Döneria auf der Seckbacher Landstraße.
Hätt ich auch gern, so ein Dienstjubiläum. Hab aber nicht mal einen Dienst.

Unbedingt daran denken, Eva noch mal auszufragen über ihre Freundschaft zu Louise und Ernst Fischer, aus dessen Arbeit ich vor Zeiten so viel gelernt habe.

„Es ist schwer, die Welt zu verändern mit dem Geld von Leuten, die die Welt in Ordnung finden.” – Wolfgang Staudte.

Lektüre: „L’Affaire du Gang des Barbares” von Elsa Vigoureux.

Heute in zwei Jahren hat Louis Pergaud hundertsten Todestag. Ein Glückspilz, wer seinen schönen Roman „Der Krieg der Knöpfe” noch vor sich hat.

Freitag, 5. April 2013 – Fünfzehnuhrnull, sechskommazwei Grad. Grau. Aber gestern fast Frühling.

Die Wucht der Affären um die Regierung des französischen Präsidenten François Hollande wird verhindert haben, dass es diese Nachricht auf die Seiten der deutschsprachigen Zeitungen schaffte: Am Dienstagnachmittag hat sich Noel Robin, stellvertretender Direktor der Pariser Kriminalpolizei, in seinem Wagen mit einer Kugel aus seiner Dienstwaffe das Leben genommen. (Es ist der dritte Selbstmord eines französischen Polizisten in nur drei Tagen). Noel Robin ist nicht nur für den laufenden Fall Bettencourt verantwortlich gewesen, sondern war ebenfalls leitender Ermittler im Fall Ilan Halimi, einem Verbrechen, dass in Frankreich über Jahre hinweg für großes Aufsehen gesorgt hat. Am 21. Januar 2006 fuhr Halimi, ein junger pariser Jude marokkanischer Herkunft, nach Bagneux, einer kleinen Stadt an der südlichen Peripherie von Paris. Ilan Halimi hatte sich mit einem 17-jährigen Mädchen verabredet, das ihn kurz zuvor in einem Handy-Laden auf dem Boulevard Voltaire angesprochen hatte, in jenem Geschäft, in dem der 23-Jährige als Telefonverkäufer arbeitete. Drei Wochen lang blieb der junge Mann verschwunden. Während dieser Zeit erhielt sein Vater immer wieder Anrufe – es waren bis zu vierzig am Tag – mit Lösegeldforderungen und Drohungen. Am 13. Februar 2006 fand man Ilan an einem Bahndamm in Sainte-Geneviève-des-Bois: er war nackt, man hatte ihn mit Handschellen gefesselt, sein Körper wies zahlreiche Stichwunden auf, die Haut war zu 80 Prozent verbrannt, eine Zehe und ein Ohr waren abgetrennt. Ilan Halimi starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
In den folgenden Tagen nahm die Polizei in einer großen Sozialbausiedlung in Bagneux eine Bande von Jugendlichen und jungen Erwachsenen fest – zumeist aus afrikanischen Immigrantenfamilien stammend. Youssouf Fofana, der Kopf der Bande, die sich „Gang des Barbares” nannte, hatte sich in die Elfenbeinküste abgesetzt, wo er ebenfalls festgenommen und kurze Zeit Später nach Frankreich ausgeliefert wurde. Die Bande hatte Halimi zunächst in einen Keller, dann in ein leerstehendes Appartement gesperrt und ihn 24 Tage lang gefoltert. Fofana sagte aus, Ilan Halimi deshalb als Entführungsopfer ausgewählt zu haben, weil man überzeugt gewesen sei, dass ein Jude oder seine Angehörigen Geld hätten.
Von den Beschuldigten kamen 27 vor Gericht, 24 wurden verurteilt. Man geht davon aus, dass weit mehr Bewohner der Siedlung von der Entführung und Folterung gewusst haben, ohne sich bei der Polizei zu melden. Yalda, das damals 17-jährige Mädchen, hatte den „Barbaren” als Lockvogel gedient. Die junge Frau kam ebenfalls in Haft und unterhielt in den Jahren 2009 und 2010 eine Affäre mit dem verheirateten Direktor des Gefängnisses von Versailles, der daraufhin entlassen wurde und ein Buch schrieb mit dem Titel: „Verteidigung der Liebe”.

Dantons Tod.

Montag, 18. März 2013 – Zwölfuhreinundfünfzig, um die sieben Grad. Grau. Gestern erneuter Wintereinbruch. Mir langst jetzt aber mit der weißen Scheiße da draußen. Schließlich wäre gestern Saisonauftakt gewesen.

Wer, wie so viele, den Wert von Kunst nach ihrem Marktwert bemisst, sollte vielleicht einmal hieran erinnert werden: Ernest Meissionier war in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts der berühmteste Maler Frankreichs, vielleicht der Welt. Seine feinziselierten Schlachtengemälde wurden von den Kritikern mit Lob überhäuft, vom Publikum bejubelt und von den Käufern zu Höchstpreisen ersteigert. Zur gleichen Zeit, als für sein Bild “Friedland” die bis dahin unerreichte Summe von 150.000 Franc geboten wurde, hat man die Bilder Edouard Manets ignoriert, verspottet und verrissen. Weil die offiziellen Salons Manets Werke immer wieder zurückwiesen, sah sich der Künstler im Frühjahr 1867 gezwungen, in der Nähe der Pont de l’Alma auf eigene Kosten einen Pavillon errichten zu lassen, um dem Publikum seine Bilder zeigen zu können. Die Leute kamen, aber “beim Anblick dieser Meisterwerke lachten sie. Ehemänner geleiteten ihr Gattinnen zur Pont de l’Alma. Frauen brachten ihre Kinder mit. Die ganze Welt wollte die seltene Gelegenheit nutzen, sich vor Lachen auszuschütten”, schreibt Manets Freund Antonin Proust. Kein einziges der Bilder wurde verkauft. Den Schlachtenmaler Meissonier kennen nur noch die Kunsthistoriker; Manet hingegen …

Nachlesen kann man das in dem Buch “Zum Frühstück ins Freie” von Ross King, das 2006 im Knaus Verlag erschienen ist. Es ist das am besten unterrichtete und unterhaltsamste Werk, dass ich über den Beginn der Moderne und über das Paris des 19. Jahrhunderts kenne. Lesen freilich wollte es so gut wie niemand. Es ist also noch zu haben.

Tot ist Henri Cornet, der während der Tour de France 1904 als Fünfter ins Ziel kam und dennoch Sieger wurde, weil den vier Erstplatzierten nachgewiesen werden konnte, dass sie Abkürzungen genommen und Teile der Strecke mit der Bahn zurückgelegt hatten. Cornet ist bis heute der jüngste Gewinner der großen Schleife.
Todestag hat auch der Schlagerkomponist Rudi von der Dovenmühle, dessen Stück “Fiesta” es in einer Version der Pogues gibt. Incredible.

Mittwoch, 6. März 2013 – Zehnuhrsiebenundvierzig, fünf Grad. Blau. Voll da, der Frühling.

Man muss Marlene Dietrich nicht mögen, ihr Auftreten nicht, ihre Stimme nicht, ihre Lieder nicht. Und doch gehört „Ich werde dich lieben bis zum Tod” noch immer zu meinen Lieblingsschlagern.
Rio Reiser allerdings muss man einfach mögen, seines Auftretens wegen, seiner Texte wegen und wegen seiner unsagbar traurigen Stimme. Nun finde ich auf Youtube eine Aufnahme von ihm mit eben jenem alten Dietrich-Song. Sechs Leute mögen das. Und ich erst.

Am 6. März 1458 wurde Friedrich Reiser in Straßburg verbrannt.

Montag, 25. Februar 2013 – Dreizehnuhrelf, fünfkommadrei. Grau. Schnee.

Am Freitag gegen Mittag in Christians altem Jaguar durch Lyon. Steil runter, dann ein Stück an der Saone entlang, über die Brücke, die SEINEN Namen trägt, rüber nach Collonges-au-Mont-d’Or. Und da liegt sie schon, wie ein buntes Zirkuszelt, die berühmte, ganz und gar geschmacksfreie Auberge von Bocuse. Ein livrierter Schwarzer empfängt uns, lächelnd. Immer schon sei der da gewesen, sagt Christian beschwichtigend. Man zeigt uns die Küchen und Backstuben, man fotografiert uns mit den Köchen und Konditoren; unser Coq hängt schon überm Feuer. Irgendwo in einem Durchgang zwischen den Wirtschafts- und Gasträumen ein verspiegeltes Eckchen mit einem kleinen Tisch, SEIN Platz. Wir werden an unseren geführt, bekommen ein Gebäckchen, eine kleine Gemüsecreme, dann jeder ein Dutzend fette Schnecken, allesamt schwimmend in ihren Häusern, die bis über die Ränder gefüllt sind mit hellgrüner Kräuterbutter. Warum flüstere ich denn? Doch wohl nicht aus Ehrfurcht? Um uns herum wird gegessen, mehr noch fotografiert, als könnten die, die hier sitzen, hinterher nicht mehr glauben, je hier gesessen zu haben. Das erste Viertel des Hahns auf Gemüse, das zweite auf Salat. Zum Dessert riesige Wagen mit Eis, Früchten, Patisserien. Die greise Madame Bocuse macht die Honneurs. Aber wer gibt hier eigentlich wem die Ehre? Zum ersten Mal, sagt Christian, passiere es ihm, dass „Le Chef” nicht selbst komme. Nun ja, in drei Jahren wird der neunzig. C’est pas grave.
Gegen Abend in Montelimar, Hotel du Parc. Am nächsten Morgen ein Stück über die alte N 7, der große, alte, schon nicht mehr wahre Saal des „Routier de Donzère”. Man meint, Jean Gabin müsse gleich herein kommen und sich zu den Camionneurs setzen. Was der nicht mehr kann, ich aber sicher tun werde.
Weiter nach Richerenches zum Trüffelmarkt. Schneidend der Mistral, kalt die Luft, blau der Himmel. In einer Nebenstraße des Dorfs stehen auf beiden Seiten der Fahrbahn aufgereiht die kleinen Lieferwagen der Produzenten. Hinter den offenen Laderäumen immer vier, fünf, sechs Leute, die Rücken rund, scheele Blicke, verschlagene Gesichter, Getuschel, eine ungeheure Drücker-Atmosphäre, als würden hier nicht die teuersten Lebensmittel der Welt, sondern Drogen gehandelt. Die Trüffelsammler (Les Producteurs) verkaufen an die Händler und Gastronomen, nicht an uns. Schwerbewaffnete Polizisten patrouillieren. Dann eine Straße mit den Ständen für die gemeinen Fresser. Nougat, Schinken, Austern und: Les Truffes. Wir kaufen.
Mittags wieder runter ans Rhône-Ufer auf die Rue Nationale, nach Mondragon: „La Beaugravière”. Und das ist es nun wirklich, das Paradies. Wir nehmen das kleinere der beiden Trüffelmenüs, bekommen auch hier als Amuse Gueule ein Cremesüppchen, diesmal in orange und mit Trüffeln, dann Gemüse mit reichlich Trüffeln, dann wieder ein Hähnchenbein mit reichlich Trüffeln, dazu ein getrüffeltes Püree aus Kartoffeln und Blumenkohl, dann einen mit Trüffeln durchzogenen und belegten Brie, dann eine gigantische Scheibe geeisten frischen Nougat auf einer Art Zabaione – ohne Trüffel. Wir werden in den riesigen Weinkeller geführt (dort eine vorrevolutionäre Flasche Champagner aus dem Jahr 1743, verdorben, aber ansehnlich), dann in die Küche zum Chef, Inhaber und Koch: Guy Jullien. Ein kleiner, freundlicher, bescheidener, unscheinbarer Herr, der hier alleine schnippelt, kocht und rührt und brät. Stolz zeigt er uns seinen neuen, fünf Meter langen Herd aus französischer Produktion und noch stolzer seinen riesigen Vorrat an frischen, schwarzen Trüffeln. Seine Augen leuchten, seine Fingernägel kratzen an der festen Haut der Pilze, die er uns unter die Nase hält. Ohne zu zögern würde ich ihm, dem Unausgezeichneten, alle drei Sterne geben, die der alte Lyonnaiser aber bis an sein Lebensende wird behalten müssen, soll es in Frankreich keinen Bürgerkrieg geben. Gestern am Abend gegen zwanzig Uhr zurück. Christiane empfängt uns mit einer duftenden Quiche. Mensch, wie kann man glücklich sein.

Todestag von Christian Schad, auf den ich wohl morgen zurückkommen werde.

Freitag, 15. Februar 2013 – Neunuhrneunundzwanzig, einskommasieben. Welt wieder weiß.

Gestern Abend „Alles wird gut” im Frankfurter Autorentheater. Schön, das eigene Stück endlich so auf der Bühne zu sehen, wie es gemeint war. Schon das Bühnenbild ist wunderbar unangestrengt: eine Chaiselongue, ein Buffet, ein Beistelltisch, dahinter diese luftigen Schleier, die Leichtigkeit und Abstand schaffen. Schauspieler, die ihre Figuren Ernst nehmen und mit Spaß dabei sind. Und Ellen Schulz, die es schafft, genau die richtige Balance zu halten zwischen Groteske und Beklemmung. Die Gags sind mit Tragik unterlegt, die Hinfälligkeit wirkt komisch – so ist die Sommerkomödie daraus geworden, die ich hatte schreiben wollen. „Eben ein bisschen wie bei Tennessee Williams”, sagt Karlheinz. Genau. Und eigentlich war das nun erst die Uraufführung.
Hinterher, auf der Premierenfeier, gehen alle so freundlich, so offen miteinander um, dass man ahnt, warum es gelingen musste. Um kurz nach Mitternacht glücklich durch den Neuschnee zum Bus, und auf der Rückfahrt futtere ich unablässig von der Schulkreide, die Götz mir aus den Niederlanden mitgebracht hat.
„Wenn’s dir gefallen hat”, hat Ellen zum Abschied geflüstert, „schreib doch morgen mal was in der Geisterbahn”. Aber gerne.

Nächste Vorstellungen: 15.2., 16.2., 22.2, 23.2., 24.2., 1.3., 2.3, 8.3, 9.3., 10.3.

Todestag des hinreißenden Richard Feynman.

Montag, 11. Februar 2013 – Fünfzehndreißig, nullkommaacht. Weiß nicht.

Heute, da der Papst seinen Rücktritt bekanntgibt, veröffentlicht der Spiegel ein Foto von Frank Schirrmacher, auf dem dieser aussieht wie Gerhard Polt, wenn er den Papst spielt.

Der gemalte Frauenkopf, der nun als der obere Teil von Courbets Bild „L’Origine du Monde” identifiziert werden konnte, ist auch für sich genommen – nicht nur wegen seiner extremen Untersicht – eine kleine Sensation und kaum minder explizit als der zugehörige entblößte Unterleib. Dass das ungeteilte Bild dieselbe Kraft entfalten würde wie seine beiden Einzelteile, ist kaum anzunehmen.
Das ist doch mal ein interessantes Phänomen, sagte er, und rückte seine Brille zurecht.

Ungelogen, ich habe noch nie das „Dschungelcamp” gesehen.

Man kann nicht alle Kontakte aufrecht erhalten. Nicht mal dann ginge das, wenn man auf alle ausführlichen Briefe und Mails nur kurz antworten würde. Es geht beim besten Willen nicht. Also antwortet man mal dem nicht, mal der nicht, also versucht man in seiner Ignoranz halbwegs gerecht zu sein – und hat am Ende womöglich alle gegen sich aufgebracht.

Heute vor fünfzig Jahren nahm Sylvia Plath Schlafmittel, dichtete die Küchentür ab, drehte den Gashahn auf und legte ihren Kopf in den Backofen.

Sonntag, 10. Februar 2013 – Dreizehnsechsundfünfzig, einskommaacht. Blau. Sonne. Paar Wolken.

Wieder so eine Phase, in der mich fast alles interessiert. Entsprechend fahrig, zappelig. Die Bücher stapeln sich neben dem Bett, die wichtigsten liegen am Rand der Matratze. Ich switche hin und her, gerate vom hundertsten ins tausendste, gehe rasch noch mal zum Rechner, um auf Maps eine Straße in Paris zu überprüfen, verliere mich im Stadtplan, wieder ins Bett, weiterlesen, schlafe darüber ein, irgendwann in der Nacht drehe ich mich um, die Stapel stürzen ein, ich werde wach, kann nicht wieder einschlafen, beginne erneut zu lesen.

Dauernd auf der Suche nach einer gescheiten Manet-Biografie. Gibt nichts. Immerhin Ross Kings „Zum Frühstück ins Freie” (The Judgement of Paris), darüber wieder in den Otto Friedrich geraten. Und die wiederkehrende Frage, ob sich Manet und Flaubert gekannt haben. Es kann doch nicht anders sein; sie haben zur selben Zeit in derselben Stadt gelebt, hatten zum Teil dieselben Freunde. Aber in Lottmanns Flaubert-Buch kommt Manet nicht einmal vor. Gerate auf die Seite „Paris Révolutionnaire” – man kann dort danach, welche Straße in welchem Viertel mit welchen Personen und Ereignissen zu tun hatte – sensationell. Und tatsächlich immerhin ein Treffer: beide, Manet und Flauber haben im Salon von Madame Sabatier verkehrt; die wiederum die Geliebte von Baudelaire war. Heißt aber nicht unbedingt, dass sie sich dort getroffen haben. Am besten mal sämtliche Briefe Flauberts durchscannen, sind ja alle im Netz. Genau wie die Journale der Goncourts. Also los …
Vorgestern die tolle arte-Dokumentation über die Pariser Chansonszene der Nachkriegszeit. Als Serge Gainsbourg auftaucht („Sois belle et tais toi!” – Sei schön und halt den Mund!) wieder die Frage nach der Selbstkonstruktion des Künstlers durch Selbstinszenierung. Das fing an bei Rousseau (siehe Ruthard Stäbleins Sendung „Der moderne Herr Rousseau”), Oscar Wilde war wohl eine ähnliche Nummer (welche Biografie? den Ellman?), Bob Dylan auch. Künstlerdarsteller.

Drei schöne Fundstücke aus dem Friedrich: – „Il faut être de son temps” – Man muss seiner Zeit angehören. Angeblich eine Lebensmaxime von Manet. – „Wir fällen die Ulmen, um Irrenhäuser für die Leute zu bauen, die durch das Fällen der Ulmen verrückt geworden sind”. – James Thurber – Eine Geschichte, die Ernst Gombrich immer wieder erzählt haben soll: Eine Dame kommt zu Matisse ins Atelier, zeigt auf ein Bild und bemängelt, dass „der Arm dieser Frau zu lang” sei. Darauf Matisse: „Madame, Sie irren sich. Dies ist keine Frau; dies ist ein Bild.”

Spät noch in Oscar Wildes langem Brief aus dem Gefängnis an Lord Douglas gelesen, „De profundis”, mal gucken, was das ist. Aber dann sehe ich, dass ich das Buch bereits einmal ganz durchgelesen hatte, aber alles komplett wieder vergessen.

„ganz durchgelesen” und „alles komplett” – Ja, mein Gott, was denn sonst? Was man sich aber auch zusammenschmiert.

Daumier ist tot.

Dienstag, 29. Januar 2013 – Zwölfuhrdreiundfünfzig, siebenkommaneun. Um halbdrei aufgewacht und keine Ruhe mehr. Sturm. Regen.

Auf ewig unvergessen jenes Klingelschild an der Haustür der kleinen Pension im Fränkischen: „Annie + Josef Winkler. Nebst Mutter Kunigunde”. Mutter Kunigunde war es dann auch, die mit einem Schreckensschrei reagierte, als sie sah, dass wir die erst ein paar Monate alte Paula vor den Flurspiegel hielten. Tue man das mit einem Kind, das noch kein Jahr alt sei, so wecke man alle bösen Geister.
Was einem so in den Sinn kommt in schlaflosen Nächten.

Stimmt denn, was Guntram sagt, dass es nur abends „dämmert”, morgens aber immer „graut”? Dann wüssten wir auch das.

Heute im Feuilleton der Süddeutschen gleich zwei wirklich gute, wirklich grundsätzliche Texte.
Catrin Lorch relativiert, was überfällig war, die Bedeutung Max Ernsts (und die des Kunstwissenschaftlers Werner Spies gleich mit, dessen „Doppelkopf” mir neulich schon schwer auf den Zeiger ging).
Und von Kia Vahland ein wunderbar entspannter, demokratischer, emanzipierter Beitrag zur aktuellen Sexismus-Debatte. Dort ein kleiner Exkurs zu Sex und Macht und ein schönes Zitat von Hannah Arendt: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln. … Alle politischen Institutionen sind Manifestationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt.”
Wie vorgestrig und geradezu muffig-borniert dagegen Christiane Hoffmanns Doppelseite zum selben Thema im Spiegel.
Es geht nicht um das Brüderle.

Am 29. Februar 1979 erschoss die sechzehnjährige Brenda Ann Spencer an einer Grundschule ihrer Heimatstadt San Diego den Schulleiter und den Hausmeister. Außerdem wurden im Laufe der über sechs Stunden dauernden Schießerei ein Polizist und acht Schüler verletzt. Während die Schützin sich noch in der Schule verschanzt hielt, nannte sie einem Journalisten am Telefon den Grund für die Tat: „I don’t like mondays. This livens up the day.” Der erste Satz hat Bob Geldof und die Boomtown Rats zu deren größtem Hit angeregt.

Dienstag, 22. Januar 2013 – Zwölfuhrnullnull, minus zweikommaneun. Eis, Schnee, Himmel dunstig. Die Tage rutschen so weg.

Am Sonntag zu Fuß auf die Straße, im Ohr Mozarts KV 421 mit dem besten Streichquartett der Welt, dem Quatuor Ebène. Wie diese Musik pulst, wie sie atmet. Alles schön weiß. Und ich fast alleine, fast glücklich. Einmal am Friedhof entlang, auf die Dortelweiler, die Friedberger hoch bis zum Heilsberg. Dann auf den Lohrberg. Und Schluss ist mit Frieden. Alles voll mit diesen jungen, viel zu reichen Eltern, mit ihren viel zu großen Autos und ihren viel zu lauten Kindern, die auf Schlitten gezerrt werden, gar nicht wollen, sondern brüllen. Wirklich alles voll. So habe ich diesen wehrlosen Buckel über der Stadt noch nie erlebt, so geschunden, so versaut. Und in mir quillt eine Wut hoch, dass ich ebenfalls brüllen möchte. Und erschrocken bin über mich selbst. Am Ende einsvierzig gelaufen. Und darüber dann doch zufrieden.

Gestern Abend wieder eine Folge Downtown Abbey. Hätte nicht gedacht, dass ich noch mal mit solchem Vergnügen Fernsehen schauen würde. Noch dazu eine Adels-Serie. Aber was die auch für Schauspieler haben …

Gerade das munter-verrückte Gespräch mit Baselitz im Spiegel. Dabei war ich eben noch froh, das Abonnement endlich gekündigt zu haben.

Gibt es eigentlich noch einen Politiker, der nicht „ein Ergebnis eingefahren” hat? Merken die noch was?

Kojak ist tot.

Sonntag, 6. Januar 2013 – Siebenuhrsiebenunddreißig, siebenkommadrei. Dunkel. Wach seit halbfünf. In Ordnung.

Vor ein paar Tagen hat Atilla „Johann Holtrup” mitgebracht. Wider Erwarten bin ich gleich gut reingerutscht. Oft glucksend, kichernd über die Volten, die Goetz schlägt. Schon groß. Dann aber auch wieder solche Sätze: „Der Vorgang geschah automatisch und war von stark aufgewühlten Gefühlen begleitet, die aber unterhalb der Verbalitätsschwelle blieben.” So dass man sich fragt …
Aber auf Seite 61 eine gelungene DDR-Ausplünderungszusammenfassung.

„Eine Volte schlagen” – Erst jetzt weiß ich, dass die Redewendung aus der Zauberkunst kommt.

M: „Gibt es eigentlich was Schöneres, Lässigeres, als mit einem tiefsinnigen Freund oberflächliche Gespräche zu führen?”

Das erste Kapitel in Karl Korns Buch über Zola gelesen. Was für ein grauenhaft verstellter Spießer dieser Korn war, der 1949 die FAZ mitgegründet hat, deren Herausgeber und Feuilletonchef er war und der zwei Jahrzehnte lang die Kulturregeln der BRD mitgeprägt hat. Vorher war er Kulturredakteur in Goebbels Wochenzeitung „Das Reich” gewesen und hatte „Jud Süß” gelobt. Das Münchner Landgericht bestätigte ihm noch 1959, ein „Handlanger des Antisemitismus” gewesen zu sein, der „seine Feder dem NS-System verkauft” habe.

Seltsam, dass in der Geisterbahn bisher kein Satz darüber steht, dass ich seit sechs Monaten jeden Tag französisch lerne und seit zwölf Wochen jeden zweiten Tag zum Training gehe. Und wieder angefangen habe zu laufen. Dabei rhythmisiert das meine Tage wie sonst nichts.

Und wie relativ sehr mir doch die Buddenbrooks gefallen haben und die beiden Essays von Thomas Mann über Fontane und Tschechow. Vielleicht sollte ich „Lotte in Weimar” noch mal versuchen.

Und jetzt gefällt mir auch noch Baselitz.

Charlotte von Stein ist tot.

Donnerstag, 20. Dezember 2012 – Fünfzehnuhrsechsundvierzig, zwei kommadrei. Düster.

Ein Tag, zwei Meldungen:

Wie Spiegel online berichtet, hat der Investor Dan Loeb mit seinem Hedgefond darauf spekuliert, dass die EU-Länder Griechenland mit Milliardenhilfen ihrer Steuerzahler in der Währungsunion halten würden. Nachdem diese Prognose sich bewahrheitet hat und Griechenlands Kreditwürdigkeit hochgestuft wurde, habe Loeb 500 Millionen Dollar Gewinn gemacht. Derweil weisen die griechischen Krankenhäuser hochschwangere Frauen ab, putzen die Ärzte die Klos ihrer Kliniken selbst und bringen sich die Rentner reihenweise um.

Katrin Brand vom Westdeutschen Rundfunk kommentiert den Bericht der Nationalen Armutskonferenz: Die Bundesregierung, sagt sie, könne „an vielen Stellschrauben drehen und die Chancen der Menschen verbessern. Wenn sie das nicht tut, nimmt sie die Armut hin. Auch etwas hinzunehmen, ist eine politische Handlung. Also stimmt es. Ja, Armut ist in Deutschland gewollt.”

Und gerade kommt die Nachricht, dass die Zentrale der Deutschen Bank heute zum zweiten Mal binnen vierzehn Tagen von der Polizei durchsucht wurde. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass es sich bei den Banken um kriminelle Vereinigungen zum Zweck der Ausplünderung des Gemeinwesens handelt.

Weiter in den Buddenbrooks.

Todestag hat Egon von Eickstedt, ein deutscher Anthropologe, was sich schon mal gar nicht gut anhört. Dann schaut man nach und siehe da, er war einer der führenden Rassentheoretiker der Nazis und Gutachter für das „Reichssippenamt”, für das er festlegte, wer als „Jude, Halbjude oder Vierteljude” zu gelten habe. Emeritiert wurde er 1961.

Mittwoch, 12. Dezember 2012 – Zehnuhrneunundvierzig, minus einskommasieben.

Eine Formulierung, die Max Weber für unsere Art des Wirtschaftens gefunden hat: „herrenlose Sklaverei”.

Vorgestern ist die schweizer Opernsängerin Lisa della Casa gestorben. Auf die Frage eines Interviewers, was ihr Mann eigentlich mache, hatte sie geantwortet: „Nun, er liebt mich”.

Gregor Gysi glaubt, um seine Verbundenheit mit den Arbeitern und Angestellten von Opel zu bekunden, ein gutes Haar an der Marke lassen zu müssen und bringt sich selbst dadurch ums letzte: „Immerhin haben sie es geschafft, mit dem Zafira das Auto mit dem Goldenen Lenkrad herzustellen.”

„Ein Maler, der sich gefunden hat, hat sich verloren.” – Magritte

Lektüre: „Buddenbrooks”

Clifton Chenier ist tot.

Montag, 10. Dezember 2012 – Dreizehnuhreinundvierzig, dreikommasechs. Tauwetter.

Tanne, Beton, Höhle, Rost, Nacht, Mond, Pfütze, Tropfen, Schlamm, Borke, Barke, Panzer, Schiefer, Fell, Kiefer, Kufe, Schnee, Käfer, Flügel, Putz, Brand, Nebel, Krone, Schlitten, Leinen, Hunde, Abhang, Steinbruch, Moor, Moos, Strick, Seil, Moder, Knochen, Schädel, Leder, Schatten, Schwanz, Loch, Tenne, Asche, Lehm, Grab, Kreuz, Unterholz.
Kein Wunder, wenn man sich gerade mit Joseph Beuys und Anselm Kiefer beschäftigt, dass so etwas dabei herauskommt.

Von Christiane der Hinweis auf eine kleine Geschichte, die Bill Pryson in seinem Buch „At Home: A Short Story of Private Life” über die wohlhabenden Engländer in der Zeit Henry VIII. erzählt: „Even though sugar was very expensive, people consumed it till their teeth turned black, and if their teeth didn’t turn black naturally they blackened them artificially to show how wealthy and marvellously self-indulgent they were.”

Pinochet ist tot.

Mittwoch, 5. Dezember 2012 – Neunuhrneunundzwanzig, dreikommasieben. Grauer Dunst.

Gestern Abend nach langer Zeit mal wieder in dem dicken Band mit Arbeiten von Tapiès geblättert und mit einem kleinen Schrecken festgestellt wie dekorativ, wie geradezu miróhaft gefällig dieser Künstler gearbeitet hat. Gerade so modern, dass seine Arbeiten in jeder Kirche, Kanzlei oder Klinik hängen könnten. Perdu.

In unserer Siedlung leben viele Familien mit kleinen Kindern. Wohl deshalb fand sich dieser Tage im Briefkasten ein Katalog der Firma Intertoys: einhundertvierundzwanzig Seiten, sehr aufwendig gemacht, sehr teuer, Hochglanz, farbig, voll mit fettem, buntem, rundem Plastikspielzeug. Einhundertvierundzwanzig Seiten und jede davon ist ein Anschlag auf den guten Geschmack. Einhundertvierundzwanzig Seiten Schrott. Null Schönheit, null Anspruch, null Qualität. Diese Firma will nichts außer den meisten Menschen so viel wie möglich verkaufen. Diese Firma bedient den Mainstream. Schon klar. Aber man fragt sich, ob man in einer Welt leben möchte, wo die in diesem Katalog abgebildeten Scheußlichkeiten den allermeisten Menschen gefallen.

Tot und vergessen ist Gustav Sack.

Montag, 19. November 2012 – Fünfzehnuhrzweiundzwanzig, neunkommavier. Schöne Sonne.

Es sind noch reichlich Plätze frei im Großraumwagen, aber ausgerechnet neben mich muss er sich setzen. Rasch hole ich den kleinen Edirol raus, stülpe die Koss Porta Pro über die Ohren, lasse den „Monsieur Ibrahim” laufen und schließe die Augen. Nein, ich suche keinen Kontakt, nein, ich will nicht angesprochen werden, nein, ich bin nicht da. Aber schon nach zwei Minuten stupst mich mein Nebenmann sanft an. – „Entschuldigen Sie vielmals die Störung … Ist das ein Diktiergerät?” – Mmmh, ja, und ein digitales Abspielgerät. – „Sehen Sie, so was suche ich nämlich. Wenn ich was zu schreiben hätte, würde ich mir die Typenbezeichnung notieren, aber vielleicht kann ich sie mir ja auch so merken. Ob Sie mich wohl mal schauen lassen …” – Ich schalte das Gerät aus, krame Stift und Zettel raus, schreibe alles auf und reiche ihm die Notiz. – „Und wenn Sie vielleicht auch gleich noch … Ich meine, der Kopfhörer gefällt mir ebenfalls sehr gut, sieht praktisch aus. Sie müssen wissen, ich bin nämlich oft auf Reisen …” – Okay! Okayokayokay, ich gebe auf. Er hat mich sowieso am Wickel. Er redet auf mich ein, nein, er quatscht mich voll, ohne Punkt und Komma. Er ist ein Schwabe, und Schwaben tun so was. Aber der hier ist verrückt, ein vollkommen wahnsinniger Wahnsinns-Schwabe. Ein Esoteriker, ein abergläubischer Bescheidwisser, ein Öko-Wirrkopf, ein Missionar seines Wahnsinns. Nachdem er mir erklärt hat, dass ich mich öffnen müsse für die Anderswelt, dass ich mein Gleichgewicht finden, meine Ernährung komplett auf rechtsdrehend umstellen, den Sternzeichen folgen, meine vergangenen Existenzformen kennen und unbedingt folgende Youtube-Videos ansehen müsse, stellt er mir endlich eine Frage, so dass meine Ohren Gelegenheit haben, kurz Luft zu schnappen. Ob ich den Kopp-Verlag kenne, will er wissen. – Moment, sage ich, sind das nicht diese antisemitischen Verschwörungstheoretiker? – Na ja, sagt er, das finde er auch nicht richtig. Niemand dürfe ausgegrenzt werden. Das nämlich sei ungesund. Der Jude gehöre zum Menschheitskörper dazu. Unter ganzheitlichen Gesichtspunkten würden schließlich auch die Bakterien eine wichtige Rolle spielen … – Was er von Beruf sei, will ich wissen. – Krankenpfleger, sagt er, sei er gewesen, aber das Gesundheitswesen sei bis auf die Knochen korrupt, bevölkert von gierigen Geschäftemachern, wohin man auch schaue. – Und, frage ich, was machen sie jetzt? – „Jetzt”, sagt er, „bin ich in der Immobilienbranche tätig”. Er wird es noch gehört haben bis tief in den Schwarzwald hinein, mein wahnsinniges Lachen.

„Mir passiert so was nie”, sagt Ch., als ich ihr die Geschichte erzähle. „Warum setzten die sich immer neben dich?”

Gestern war Marcel Proust tot.

Samstag, 10. November 2012 – Zehnuhrsechsundzwanzig, siebenkommasechs. Regen, grau.

Gestern, noch an- und aufgekratzt von der Lesung, ins Sofa gesunken. Auf dem Schirm Bettina Böttinger mit Gästen, denen es allen mal auf die eine oder andere Weise „ziemlich dreckig” ging. Tim Mälzer, Friedrich Schorlemmer, Doro Pesch, Nele Neuhaus, Uli Borowka und als Fachmann für den doofen Ernst: Reinhold Beckmann. Die Betonung liegt auf „ging”. Es ging ihnen mal dreckig. Sie waren mal krank, sie waren mal auf Droge, sie hatten mal einen Karriereknick, sie wurden mal von der Stasi gegängelt. Und jetzt? Jetzt haben sie das alles hinter sich gelassen. Jetzt geht es ihnen allen prächtig. Jetzt sitzen sie ja in der Talkshow bei Böttinger und Beckmann. Sie sind geläutert. Sie haben Gottvertrauen, sie denken positiv, sie glauben an sich, sie sind mit sich im Reinen. Sie haben neue Partner, neue Kinder, neue Bücher. Man kann ihnen nichts mehr erzählen; sie kennen sich aus. Jeder, der sie jetzt noch kritisiert, ist ein Neider. Da sind sie sich einig. Sie lächeln, sie nicken, sie grinsen – Jawohl, die Neider muss man ignorieren! Positiv denken!
Ist das noch Autosuggestion oder schon Ausdruck kollektiver Verblödung?

Heute vor drei Jahren hat sich der Torwart Robert Enke das Leben genommen. Hätte er nicht einfach nur „positiv denken” müssen?

Freitag, 2. November 2012 – Zehnuhrvier, achtkommasieben. Sonnig, blau und weiß und schön. Die ewigen Martinshörner in der Stadt.

Gestern um 18.30 Uhr durch den dunklen Hohlweg am Friedhof vorbei zur U-Bahn. Am Römer raus und über den Eisernen Steg. Dann drei laute Schüsse. Sie kommen von der anderen Mainseite, von der MS Wodan, wo die Dreharbeiten zur „Partitur des Todes” stattfinden. Ich soll mal durchs Bild laufen, hatte Lancelot gesagt. Okay, dann werd ich um neun wieder zu Hause sein. Hauptsache, ich darf Christians graue Kappe aufsetzen.
Was für ein Aufgebot, was für ein wuselnder Wahnsinn. Drei Polizeiwagen auf dem Uferweg, ein Rettungswagen, die Spurensicherung, ein Boot der DLRG mit Leuten in Leuchtwesten, ein Taucher, sprungbereit, die Wasserschutzpolizei mit einem Boot. Dunkel, überall Scheinwerfer. Über allem ein riesiger, von innen beleuchteter Ballon, der aussieht wie die überdimensionierte Ausgabe dieser alten, hässlichen Ikea-Pergament-Lampenschirme, die früher in den Wohngemeinschaften hingen. Und Leute, Leute, Leute. Kameraleute, Tonleute, Schauspieler, Komparsen, Schaulustige, Assistentinnen, Produzentinnen, Kabelträger, Best Boys, Catering, Security … Erkan soll ins Wasser springen, wird aber vorher fünfmal gedoublet. Köberlin, Jürgen Tonkel, Tim Seyfi. Und Lancelot, der in seiner dickwattierten Jacke wie Cebulon herumspringt überall gleichzeitig ist, alle antreibt, ermuntert, korrigiert, lobt. “Das war prima, das machen wir gleich nochmal” ist der meistgehörte Satz des Abends. Regen, nasskalt. Hände und Füsse werden langsam taub. Immer, wenn jemand „Matthias” oder „Marthaler” ruft, recke ich den Kopf. Aber freilich: Matthias Köberlin ist gemeint.
Und als er einmal für einen winzigen Moment die Beherrschung verliert, ahnt man, was dieser Beruf an Zumutungen bereit hält. Das alles hat immer noch die Atmosphäre von “fahrendem Volk”, von Zirkus, von „Kinder des Olymp”. Lustig, anstrengend und manchmal herzzerreißend profan, tragisch, schön.
Endlich, gegen halbzwei, sind wir fertig. Einhundertundzehn Leute, die sieben Stunden lang gearbeitet haben. Das alles für vielleicht zwei Minuten im fertigen Film.
Zurück über den Eisernen Steg, über den Römerberg zum Frankfurter Hof. Taxi. Und im Bett noch ein paar Sätze in der französischen Ausgabe des „Monsieur Ibrahim et les fleurs de coran”.

Theo van Gogh ist tot, ermordet von Mohammed Bouyeri, der beim Prozess seinem Richter sagte, er dürfe jedem „den Kopf abhacken”, der Allah beleidige.

Donnerstag, 25. Oktober 2012 – Neunuhrsechsundvierzig, neunkomma- null. Grau. Feucht. Nebel.

Sonntag: Training, abends Ute. Montag: Training und Mozart mit Ellen Schulz und Norbert Saßmannshausen. Dienstag: Training und Mozart mit Wolfgang Eilmes; abends Jürgen.
Gestern mit Martin und seiner kleinen Schar in der Stalburg: Becketts „Glückliche Tage”. Am Ende muss ich mir rasch die Tränen aus den Augen wischen, so hat es mich angegriffen. Dabei spielt Anke Sevenich die Winnie ganz unsentimental, stattdessen wunderbar ausbalanciert, wie der Text es nahelegt: traurig, trotzig, hinfällig, spöttisch, liebevoll. Was für eine großartige Schauspielerin. Und wie sie sich freut, dass mit Paula wenigstens eine Jugendliche unter den Zuschauern war.

„Dass du die Geisterbahn vernachlässigst”, vermutet Martin, “liegt wohl auch daran, dass du dieser Tage oft genug rausgehst.” So wird es wohl sein. Wer in der Welt ist, muss kein Fenster zu ihr aufstoßen.

Peter Handke im Gespräch mit Kulturzeit: „In den Herzen der Menschen ist der Weltkrieg schon in Gang”.

Mary McCarthy ist tot.

Samstag, 13. Oktober 2012 – Achtzehnuhreinundzwanzig, elfkommazwei. Noch blau und weiß. Schon ein wenig dämmerig.

Am Dienstagmittag mit dem schwarzen Mountainbike zum Frankfurter Hof, ins Oscars. Sonnig. Was für ein Auftrieb. Das halbe Verlagsgewerbe schwimmt hier umeinander, vielleicht auch das ganze. In Maßen gut gekleidet. Graue Geschäftigkeit. Lässig-joviale Bewegungen. Lächeln, lächeln, lächeln. Alles Lüge. Sofort reagiere ich mit Fluchtreflex, aber bin ja verabredet. Grusche und Katrin. Na ja, Rowohlt geht’s noch leidlich, vergleichsweise. Die Branche befindet sich im freien Fall. Die Umsätze sind eingebrochen; die Literaturpreise sind wertlos geworden; die Feuilletons werden nicht mehr gelesen; den Kritikern glaubt niemand mehr; die Töne sind zu lange zu schrill gewesen und werden noch schriller. Hilft alles nichts: es geht zu Ende. Noch einmal simuliert man eine Woche lang Leben.
Sollen wir, wollen wir wirklich am Mittwoch in die Schirn, aufs Verlagsfest? Sehr, sehr voll soll es werden, hört man. Man schart sich um einander. Aber nein, allein der Gedanke macht mich panisch.
Donnerstagabend dann Treffen mit Chr. und Rolf-Bernhard in der Stadt. Wieder ist alles bevölkert mit Messebesuchern: der Fundus, das Merkez, selbst das Mosel-Eck, wo jetzt wieder geraucht werden darf.
Freitag um 15 Uhr erneut ins Mozart; scheint, als würde dieses Café mein Aquarium. Katja ist schon da, lacht, ganz offen, ganz bei sich. Soll doch der Buchhandel dicht machen, so lange wenigstens der Wein im Herbst noch gelesen wird …

Zum ersten Mal lese ich Unsicherheitsrat statt UN-Sicherheitsrat …

Todestag von Erich Auerbach.

Montag, 8. Oktober 2012 – Sechsuhrdreizehn, vierkommazwei Grad. Gefühlt: unter Null. Dunkel. Wieder erkältet.

Als ich mich am Freitag mit dem netten Mario Scalla treffe, schon wieder im Café Mozart, und meinen doppelten Espresso Macchiato bestelle, sagt die Kellnerin: „Also wie immer.” – Und? Was mache ich jetzt? – „Ich würde mir überlegen, das Café zu wechseln”, sagt C. – Aber nee, ich denke ja gar nicht dran.

Gestern Jahresabschlussfahrt mit den Ritzeln durch die Wetterau. Nach 50 Kilometern breche ich völlig ein, würde mir am liebsten sofort ein Taxi bestellen. Zum Glück bleibt Gepetto bei mir, kümmert sich rührend, unterhält mich, lenkt mich ab von meinem Elend. Und wirklich, zwanzig, dreißig Kilometer später komme ich wieder in Tritt … nun ja, halbwegs in Tritt.

Am Spätnachmittag stehen wir mit Lea und Jörg auf dieser Wiese am Rheinufer bei Hattenheim, jeder ein Gläschen in der Hand, den kleinen Finger abgespreizt und schauen zu, wie die Sonne hinter den nebligen Höhen des Hunsrück verschwindet.
Um kurz darauf zu erleben, wie sie im Weingut Trenz in Johannisberg noch einmal aufgeht. Echt ein guter Ort.
Aber diese Fleischberge auf den Tellern am Nebentisch …

Todestag der Marie Friederike Leopoldine Georgine Auguste Alexandra Elisabeth Therese Josephine Helene Sophie von Sachsen-Altenburg.

Montag, 1. Oktober 2012 – Vierzehnuhrdreißig. Heute morgen die Winterjacke aus dem Keller geholt und ins Café Mozart gefahren zum Gespräch mit Constanze Kleis. Jetzt siebzehnkommaneun Grad.

Auf einer Reise durch Schottland stellt Fontane fest, dass seine brandenburgische Heimat nicht minder schön sei und fordert sich selbst auf: „Geh’ hin und zeig’ es!” Ein Satz, der über dem Schreibtisch jedes Autors hängen könnte.

Was für ein gigantischer Vergangenheitsflash dieser Tage. Vor einer Woche das Treffen mit Theo und den Mitschülern, dann am Samstag in Marburg: Bernd und Uli, Holger und Andrea. Heute noch Post von Winfried aus Bremen mit zwei CDs von Jahrgang ‘49. Und statt wie sonst, mich vor den Reminiszenzen zu fürchten, aale ich mich darin.

Gestern schöner Nachmittag mit Christian im Garten – drei Stunden, dem Herrgott geklaut.

In der Sonntags-FAZ beschreibt Christiane Hoffmann eine gespenstische Szene. Auf dem großen Festakt aus Anlass des Jubiläums von Helmut Kohls Kanzlerschaft, sitzt der Geehrte am Ende allein im Rollstuhl, umgeben von leeren Stühlen. Schließlich schiebt man ihn, zu dem sich niemand mehr setzen will, in einen Abstellraum mit Wäschewagen, wo er warten muss, bis irgendwer ihn abholt.

Siebzig Seiten in Fontanes „Stechlin”. Aber das ist ja gar nicht auszuhalten, so steif, so statisch, so umständlich. Bräsige Dialoge verstellter Figuren. Oder liegt es an mir? Muss ich es später noch mal versuchen?

Emil Bahr ist tot, der stärkste Mann der Welt.

Montag, 24. September 2012 – Neunuhrdreiundvierzig, dreizehnkomma- acht. Regen. Und das nach diesem wonnigen Wochenende in der alten Mühle von Freienhagen.

Auf der Rückfahrt gestern im Autoradio ein Zitat von Nestroy: „Wenn alle Stricke reißen, hänge ich mich auf. Aber erst dann.”

Und heute in Ernst Johanns alter Monografie drei Sätze aus einem Brief Georg Büchners an seinen Freund August Stöber: „Die politischen Verhältnisse könnten mich rasend machen. Das arme Volk schleppt geduldig den Karren, worauf die Fürsten und Liberalen ihre Affenkomödie spielen. Ich bete jeden Abend zum Hanf und zu den Laternen.”

Achter Todestag von Francoise Sagan.

Dienstag, 18. September 2012 – Fünfuhrneununddreißig, zehnkommadrei. Dunkel. Sterne.

Morgens jetzt ein kalter Hauch. An den Rändern die letzten Wegwarten.
Und Goldruten, das Gold schon verblassend.
Grauhaarige Sonntagsfrauen mit ihren grauhaarigen Sonntagshunden.
Die Felder leer, die Erde wird gewendet.
Auf der Uferwiese noch ein Mädchen im Bikini. Das Gesicht der sinkenden Sonne zugewandt, die Augen geschlossen.
Ein Ruderboot zieht vorbei. Dann ein Lastkahn.
Man hört schon die Raben.

Der Kollege M. am Telefon: „Wenn das doch ginge: In Ruhe gelassen werden, ohne aus der Welt zu fallen. Nichts gefragt werden und trotzdem nicht ganz ungefragt sein.“

Was für eine Entdeckung: „Die Regenschirme von Cherbourg“ von Jacques Demy. Und am Sonntag mal wieder: „So sind die Tage und der Mond“.

Seit einem Jahr ist Kurt Sanderling tot. Immerhin Anlass, das lange Gespräch nachzulesen, das er 2007 mit der „Jüdischen Zeitung” geführt hat.

Mittwoch, 5. September 2012 – Elfuhrneunundfünfzig, achtzehnkomma- sieben. Gräulich.

Aus der Reihe „Knalldoof auf Sendung“: In der Kulturzeit-Ausgabe vom letzten Freitag heißt es über den neuen Film von Leo Carax: „Er gibt keine Antworten; er stellt nur Fragen.“ Da gleicht dieser Film dem deutschen Kulturjournalismus. Statt auch nur eine riskante Antwort zu wagen, stellt man dort lieber die immer gleichen dusseligen Fragen.
Stefan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat – wie viele andere Juden – die Verleihung des Adorno-Preises an Judith Butler kritisiert. Tina Mendelsohn, Moderatorin der Kulturzeit in Deutschland, möchte ihn dafür desavouieren und tut dies sicherheitshalber in Form einer Frage: „Stefan Kramer, der übrigens im Erwachsenenalter zum Judentum konvertiert ist – warum ausgerechnet er sich so aus dem Fenster lehnen muss?“ Um dann Salomon Korn, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Fragen zu traktieren, die alles sagen sollen, aber lieber nichts gesagt haben wollen:
„Herr Korn, wird das langsam zur Routine, dass der Zentralrat der Juden bei wichtigen Preisverleihungen wegen Israelkritik Protest erhebt und sogar mit Boykott droht?“
„Ist das Kritik, Herr Korn, das gab es ja mal, sagen wir mal im Sozialismus der DDR, dass man Kosmopolitismus kritisiert hat, dass man global denkende Menschen kritisiert hat?“
„Muss man eine Anleitung haben, sozusagen, wie weit man Israel kritisieren darf?“
„Das heißt, man darf Kritik üben?“
„Aber würden Sie nicht sagen, auch dem Zentralrat der Juden in Deutschland muss die Meinungsfreiheit wichtig sein?“
„Würden Sie nicht sagen, dass sich der Zentralrat da selber schadet, dass das Deutschland doch in ein gewisses provinzielles Licht setzt, dass man mit einer solchen Frau nicht diskutieren und streiten kann?“
„Das heißt der Zentralrat der Juden wird die Preisverleihung boykottieren, wird dort fernbleiben?“
Es war der israelische Historiker Shlomo Avineri, der Tina Mendelsohn einmal vor laufender Kamera angeschrieen und sie als „das Dümmste und Blödeste“ bezeichnet hat, was er sich vorstellen könne. Der Langmut von Salomon Korn war bedauerlicherweise bedeutend größer.

In der heutigen Süddeutschen Zeitung schreibt die Überlebende der Shoah und Präsidentin der israelitischen Gemeinde Münchens Charlotte Knobloch: „Seit sechs Jahrzehnten muss ich mich rechtfertigen, weil ich in Deutschland geblieben bin – als Überbleibsel einer zerstörten Welt, als Schaf unter Wölfen. (…) Erstmals geraten nun meine Grundfesten ins Wanken. Erstmals spüre ich Resignation in mir. Ich frage mich ernsthaft, ob dieses Land uns noch haben will.“

Am 5. September 1969 starb in Schleswig Hans-Joachim Rehse, Richter am Volksgerichtshof und dort mitverantwortlich für 231 Todesurteile.

Dienstag, 28. 8. 2012 – Elfuhrundzwei, einundzwanzigkommanull. Blau und weiß und Streifen. Wach seit drei.

„Wenn in der Geisterbahn ein guter Geist drinsteckt, dann zahlt Gerhart Polt gerne dafür.” Süddeutsche Zeitung, 28. 8. 2012

Ob es das gibt, ein böses Kinderlachen? Und ob es das gibt!
Gibt es ein schlimmeres Urteil, als zu sagen, etwas sei doch ganz menschlich?

Durch welch verzauberte Spessarttäler uns Tobias am Sonntag wieder geführt hat. Und zum erstem Mal war eine Steigung so steil, dass ich absteigen musste.

Neunter Todestag von Peter Hacks.

Freitag, 17. August 2012 – Dreizehnuhrsieben, siebenundzwanzig- kommaacht. Blau und Wolken. Schon wieder kein Grund zu klagen. Obwohl …

Seit über einer Woche zurück aus der tiefsten Provence, aber immer noch nicht da. Schön, wenn es mal die Schönheiten sind, die einem in den Knochen stecken: die verzauberte Proust-Villa, in der wir vierzehn Tage lang wohnten, das Trüffel-Restaurant in Aupt, der Lac de St. Cassien, der Tag am Strand von Agay, die Badestelle unter der alten Brücke in Salernes, der Mont Ventoux, die Ardeche, der Wein.

Gestern Bahnhofsviertelnacht. Seltsam, die Touristen mit ihren grünen Bändern um die Hälse, die sich durchs Quartier führen lassen wie Besucher durch den Zoo. Vor dem Druckraum in der Elbestraße kommentiert eine junge Frau: „Die viele Leut heut mache misch ganz konfus”. Mich auch. Und dann diese grauenhafte Mahlzeit in …, ach, vergessen wir’s. Niemals schlechter asiatisch gegessen.

In die Zeitungen schaue ich noch mit zusammengekniffenen Augen. Susanne Lothar ist tot. Seeßlen fordert die Abschaffung des Feuilletons. Und dann diese Geschichte mit Steinfeld und Schirrmacher. Wie klein das ist.

Eben die Nachricht, dass die Polizei in Südafrika mehr als dreißig streikende Minenarbeiter erschossen hat. Das jedenfalls ist keine Simulation.

Todestag von Gwen Bristow.

Mittwoch, 18. Juli 2012 – Zehnuhrsiebzehn, zwanzig Grad, in der Sonne dreißig. Der Himmel blau. Bloß paar blasse Wölkchen. Der April geht zu Ende.

Gestern feine Stoffel-Lesung im Günthersburgpark. Wetter hält. Viele Zuhörer, konzentriert. Ich nicht ganz so. Hinterher schwappt der multiple Smalltalk wie eine Welle über mir zusammen. Das Hirn noch heute Morgen ganz verklebt von dem Geschichtenbrei. Wer ist gestorben, wer hat sich getrennt, wer ist wieder zusammen, wer hat mir das alles doch schon mal erzählt? Ich weiß es nicht mehr. Aber so viele freundliche Gesichter von so vielen freundlichen Freunden, dass man für immer darin baden möchte.

Jane Austen ist tot.

Freitag, 6. Juli 2012 – Elfuhrsiebenunddreißig, zweiundzwanzigkommaneun. Wieder tropisch. Gestern Hagel. Tour de France? Mir doch egal!

Wer hätte gedacht, dass man auf die späten Jahre noch mal Julio Iglesias hören würde … Aber seit wir am Dienstag »Tinker Tailor Soldier Spy« gesehen haben, geht mir »La mer« nicht mehr aus dem Kopf, der alte Schlager von Charles Trenet, den dieser, wie es heißt, in nur zwanzig Minuten auf einer Zugfahrt zwischen Perpignan und Narbonne komponiert haben will. Und nun läuft das Chanson und läuft und läuft. Was Iglesias in seiner Interpretation macht, ist so charmant wie effektvoll. Immer wieder verschleift er eine Endsilbe zu einem Gurren, baut kleine Seufzer, Schnalzer, Stöhner ein. Dass aber auch immer das Einfachste, wenn es gut gemacht ist, eine solche Kraft entwickelt.

Schon das Motto von Houellebecqs »Karte und Gebiet« ist ein kleiner Schatz. Stammen soll es, wenn denn wenigstens das stimmt, von Karl, dem Herzog von Orléans:
Die Welt ist meiner überdrüssig,
Und ich bin es ihrer gleichermaßen.

Heute vor zehn Jahren starb John Frankenheimer.

Mittwoch, 27. Juni 2012 – Achtuhrsiebzehn. Vierzehnkommaacht. Könnte was werden.

Als mir die nette Sandra Kegel dringend empfiehlt, den neuen Roman von Houellebecq trotz meiner Vorbehalte zu lesen, denke ich: Na also, hat sich der Abend doch gelohnt. Und trage den Tipp wie eine Beute nach Hause.

Auf der Suche nach einem wenigstens erträglichen Restaurant in Baunatal, gerate ich auf die Seite von „K.Toffels” und schaudere zurück: Dort sind im Juni „Cola-Wochen”. Es gibt einen „knackigen Schmandsalat mit Putenfleisch und Cola-Erdnußsoße”, es gibt „Schweinemedaillons auf Mango-Colasoße”, es gibt ein „Cola-libre-Schnitzel” und „Wackel-Colapudding”. Ist eine zweite Weltgegend denkbar, wo man auf ähnliche Geschmacklosigkeiten verfallen würde?

Mit Schimmel und Raul über die documenta. Sehr heiter und später sogar sonnig. Dass es nirgendwo auf dem Gelände der Kunstausstellung Coca-Cola zu kaufen gebe, erzählt Schimmel, sei ein Verdienst der Leiterin Carolyn Christov-Bakargiev, die in Kassel Lady Gaga genannt werde.

Das Kunst zum Nachdenken anregen wolle – mit diesem Diktum haben ganze Generationen von Kunstlehrern ihre Schüler in ein dumpfes Brüten versetzt. Wenn Kunst nur noch aus Luft besteht – wie im Eröffnungsraum des Fridericianums – bleibt reichlich Raum zum Grübeln. Und zum ausgedehnten Reden, das meist in einer wohligen Ratlosigkeit endet: „Ist halt Kunst, da weiß man nie so genau, da kann halt jeder seine Sicht …” Nun ja.
Viel Wissenschaft, viel Technik, viel Politik, viel Natur und viel Pädagogik sind in Kassel zu finden, aber wenig Kunst. Oder wenn, dann oft nur naive Programmkunst oder reine Artefakte, die aber auch was bedeuten sollen.
Ziemlich krude ist das alles, aber nicht unsympathisch. Im Einzelnen selten gelungen, im Konzept wenig überzeugend, bleibt seltsamerweise trotzdem ein entspannter, demokratischer Eindruck zurück. Vielleicht liegt es daran, dass hier keinerlei Größe behauptet wird, dass die Kunstmarktnamen fast vollständig fehlen, dass man hier mal nicht mit diesem ewigen Rauch-Richter-Meese-Getöse beeindruckt und eingeschüchtert werden soll.
Und ein in Kürze überwucherter Trampelpfad ist mir allemal lieber als ein diamantbesetzter Totenkopf in einer Panzerglasvitrine. Eh man noch ins Grübeln kommt …

Entdeckung: Die von hinten beleuchteten Kritzeleien und Montagen von Anna Boghiguian, die wie säkulare Kirchenfenster wirken. Und wieso habe ich die nicht fotografiert?

Abends dann, auf der Heimfahrt, im Autoradio Dvoráks Violinkonzert mit den HR-Sinfonikern unter Paavo Järvi mit Frank Peter Zimmermann. Viel zu leicht, viel zu heiter. Das Publikum ist begeistert. Als Zugabe spielt Zimmermann seine eigenen Variationen über ein Thema von Haydn. Eine brav aufgepeppte Version der Nationalhymne – schließlich ist Europameisterschaft. So darf endlich auch der kritische Kulturbürger das Deutschlandlied goutieren … und applaudiert frenetisch. Wie man als Musiker dem Dumpfsinn dermaßen zu Diensten sein kann …

Von Jan B. eine Mail mit dem Titelblatt eines amerikanischen Comic-Heftes aus den frühen vierziger Jahren. „HANGMAN” steht fett und groß auf der ersten Seite. Darüber etwas kleiner, als Motto des Heftes, die Zeile: „Nazis and Japs, you rats! Beware! The Hangman is everywhere!”

Das Landgericht Köln hat entschieden, dass die Beschneidung von Jungen aus religiösen Gründen eine „rechtswidrige Körperverletzung” und deshalb grundsätzlich strafbar sei.

Tot ist Wolfgang Grams, der „Förster oder Pastor” hatte werden wollen.

Donnerstag, 21. Juni 2012 – Achtuhrsiebenundfünfzig, achtzehnkommazwei. Grau – wie immer.

Ein Stoßseufzer der Erleichterung und ein Dank an Niklas Maak. Gerade schimpfte man noch über die Boulevardisierung des Feuilletons, da liest man in der FAZ eine ebenso profunde wie gedankenreiche Abrechnung mit der Frankfurter Museumspolitik aus Anlass der beiden Jeff-Koons Ausstellungen, die in der städtischen Halbintelligenz einen so überdreht-schrillen Hype ausgelöst haben, als handele es sich um ein Zeichen des Erlösers und nicht um die ins Gigantische aufgeblasenen Bubble-Gum-Gimmicks eines esoterischen Kunsthandwerkers.

Tot und gründlich vergessen ist der Schrifsteller Max Fürst. Er starb am 21. Juni 1978 in Stuttgart, wo er zuletzt als Tischler gearbeitet hatte.

Mittwoch, 20. Juni 2012 – Neunuhrelf, achtzehnkommaacht. Es langt jetzt mal mit dieser Gräue.

„Gutschein sichern – Jetzt liken auf fem.com und Accessoires shoppen …” 
Was Großmama wohl gesagt hätte, wenn sie diesen Satz hätte lesen müssen?

Unter dem Titel „Vom Wert des Verbietens” fordert Martin Mosebach, dem man ausgerechnet den Büchner-Preis nachgeworfen hat, in der Frankfurter Rundschau dazu auf, die Gotteslästerung unter Strafe zu stellen: „In diesem Zusammenhang will ich nicht verhehlen, dass ich unfähig bin, mich zu empören, wenn in ihrem Glauben beleidigte Muslime blasphemischen Künstlern – wenn wir sie einmal so nennen wollen – einen gewaltigen Schrecken einjagen … Es wird das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird.” So prächtig würde das soziale Klima für Künstler in Deutschland werden, wie es im Iran schon ist.
 Martin Mosebach ist ein aufgeklärter Obskurant, der nach der Knute ruft, und dabei versucht, uns die Zensur schmackhaft zu machen, indem er prophezeit, sie werde unseren Gedanken und unserem Stil zugute kommen. 
Kommentar von F.: „Man würde diesem Mann womöglich einen Gefallen tun, wenn man ihn bei Wasser und Brot in den Keller sperrte. Dann hätte er Gelegenheit, seinen Geschmacksinn zu verfeinern.”

Ich bin nicht schlecht, ich bin nicht gut,

Nicht dumm und nicht gescheute,

Und wenn ich gestern vorwärts ging,

So geh ich rückwärts heute;

Ein aufgeklärter Obskurant,

Und weder Hengst noch Stute!

Ja, ich begeistre mich zugleich

Für Sophokles und die Knute.

Herr Jesus ist meine Zuversicht,

Doch auch den Bacchus nehme

Ich mir zum Tröster, vermittelnd stets

Die beiden Götterextreme.


Heinrich Heine

Mubarak ist klinisch tot.

Mittwoch, 13. Juni 2012 – Sechsuhrdreiundvierzig, vierzehnkommaacht. Stahlgrau der Himmel, nass die Luft, was für ein Juni …

„Die Lust aufs Gewinnen ist das, um was es geht, das weckt die Gier in dir, das macht dich aus, das lässt dich leicht laufen, das lässt dich leicht über deine eigentlichen Möglichkeiten hinauswachsen. Das macht dich besonders stark. Und diese Lust aufs Gewinnen, die tobt in mir.”
Bin ich eigentlich der Einzige, den das kalte Grausen anspringt, wenn ein zähnebleckender Jürgen Klopp allabendlich vor, zwischen und nach den Spielen sein imperiales Mantra wiederholt?
Könnte man doch austreten aus einem Volk, in dem so etwas als Werbung für eine Genossenschaftsbank taugt.

„Erfolg beruht darauf, dass ihn nicht jeder haben kann.” (Ernst Alexander Rauter)

Tot sind Sunshine Sue und Jennifer Nitsch.

Freitag, 8. Juni 2012 – Zehnuhrneunundzwanzig, vierundzwanzig- kommanull. Fette Wolken überall.

Es ist Thomas von der Osten-Sacken zu danken, dass er in seinem Jungle-World-Blog auf eine bemerkenswerte Entscheidung hinweist: auf die geplante Verleihung des Frankfurter Theodor-W.-Adorno-Preises an Judith Butler. Egal, was diese Frau sonst noch gesagt und geschrieben hat, folgendes Zitat sollte ausreichen, diese Ehrung zu überdenken: „Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important.”
Judith Butler ist nicht nur eine Freundin von Hamas und Hisbollah, sie ist außerdem Unterstützerin des antizionistischen BDS-Movements, auf dessen Internet-Seite sich folgender Boykottaufruf an Wissenschaftler, Künstler und Kulturschaffende aus aller Welt findet:
1. Unterlassen Sie jede Teilnahme in jeder Form an akademischen und kulturellen Gemeinschaftsprojekten mit israelischen Einrichtungen.
2. Unterstützen Sie auf nationaler und internationaler Ebene einen umfassenden Boykott von israelischen Institutionen; was auch heißt, jede Form der Unterstützung und Förderung dieser Institutionen zu unterlassen.
3. Befürworten Sie es, Israel von der Förderung durch internationale akademische Einrichtungen auszuschließen und fernzuhalten.
4. Befördern Sie die Verurteilung der israelischen Politik dadurch, dass Sie auf Resolutionen drängen, die von wissenschaftlichen und kulturellen Vereinigungen und Berufsorganisationen verabschiedet werden.
5. Unterstützen Sie akademische und kulturelle Einrichtungen der Palästinenser direkt, ohne für diese Unterstützung eine direkte oder indirekte Zusammenarbeit dieser Einrichtungen mit Israel zu verlangen.
Und eine Frau, die für solche Forderungen eintritt, soll einen in Deutschland verliehenen und nach Adorno benannten Preis bekommen. Wahrhaftig, man schluckt trocken.

Tot ist George Sand.

Mittwoch, 6. Juni 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfzehnkommanull. Wolken.

Insel ist ein kleines Dorf, das zu Stendal gehört und etwa hundertdreißig Kilometer westlich von Berlin liegt. Seit sich dort Mitte vorigen Jahres zwei entlassene ehemalige Sexualstraftäter niedergelassen haben, kommt es immer wieder zu wütenden Protesten der Dorfbewohner, die regelmäßig mit Unterstützung der NPD vor dem Haus der beiden demonstrieren und deren Wegzug fordern. Die Männer, die sich in der Haft kennen gelernt haben und deren Straftaten mehr als 25 Jahre zurückliegen, würden das Dorf gerne wieder verlassen, wissen aber nicht wohin. Zwanzig Wohnheime haben ihre Aufnahme verweigert. Als letztes Wochenende einige Demonstranten versuchten, das Grundstück der Männer zu stürmen, erklärte der Ministerpräsident Sachsen-Anhalts endlich, das man sämtliche Rechtsmittel ausschöpfen werde, um künftig solche Demonstrationen zu verhindern, „die sich gegen die Menschenwürde von anderen Personen richten”. So steht es heute in der Süddeutschen Zeitung. Was dort nicht steht: Es war der Ortsbürgermeister des Dorfes Insel, Alexander von Bismarck (CDU), der Namen und Adresse der beiden Männer öffentlich gemacht und die rechtsradikalen Hilfstruppen als „Gäste” begrüßt hatte.

Am 6. Juni 1948 starb in der Emigration in New York Aron Freimann, der letzte Vorsitzende der Frankfurter Jüdischen Gemeinde vor dem zweiten Weltkrieg.

Dienstag, 29. Mai 2012 – Neunuhrachtundvierzig, fünfundzwanzigkommafünf. Blau. Wach seit halbfünf. Schon gemäht, schon gegraben.

Vor Tagen berichtete Götz, er habe sich im Kasseler Staatstheater „Leonce und Lena” angesehen. Und dann vergnügt einen dieser Schlusssatz Valerios, als hörte man ihn zum ersten Mal: „Und ich werde Staatsminister und es wird ein Dekret erlassen, daß, wer sich Schwielen in die Hände schafft, unter Kuratel gestellt wird; daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird; und dann legen wir uns in den Schatten und bitten Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, um musikalische Kehlen, klassische Leiber und eine commode Religion!”

Lektüre: Helga Einsele, Mein Leben mit Frauen in Haft.

Vor zwei Jahren ist Dennis Hopper gestorben.

Dienstag, 22. Mai 2012 – Vierundzwanzigkommasieben. Wonderful. Blue.

Was für ein schöner Samstag! Noch vor einem Jahr hätte ich nicht geglaubt, dass das noch einmal wahr werden würde. Wenn die Welt so wäre, wie sie sein sollte, wäre sie wohl ein wenig so wie Frankfurt vor drei Tagen: zwanzig-, fünfundzwanzigtausend Leute, die durch die Stadt ziehen, singend, spottend, lachend, skandierend, tanzend, – einander so fremd, einander so nah. Gottlob nicht nur die immergleichen alten Säcke wie man selbst, sondern alles durcheinander: französische Clowns, chilenische Sozialistinnen, deutsche Tierschützer, griechische Kommunisten, spanische Anarchisten, libertäre Sambatänzer, viele Gewerkschafter, Pazifisten, Linke aller Couleur, Lesben, Schwule, Transvestiten, Umweltschützer, Nackte, Autonome …
Selten habe ich so viele Menschen beisammen gesehen, die auf eine so angenehme Weise anders waren als ich selbst, dass ich bei jedem zweiten gerne gewusst hätte, was ihn treibt, was sie macht, was er ist, was sie will. Ja, es war ein Fest der Andersartigkeit, ein Tag, der die Neugier auf Trab gebracht, der jeden, der ihn erlebt hat, für den Rest seines Lebens freier, offener, stärker gemacht haben dürfte. Und zu bedauern jeder, der nicht dabei war.
Nicht, in dem, was man wollte, war man sich einig, sondern in dem, was man nicht wollte. Aber allein dadurch entstand ein so freisinniger Einklang, dass er etwas von dem vorweg genommen hat, was man wollen sollte, nämlich wenigstens: sich gegenseitig lassen. Und denkt man an die freundlichen, wachen, fröhlichen Gesichter, so schienen das auch alle begriffen zu haben. Denn endlich einmal war man nicht umgeben von den ewig gleichgeschalteten Dumfpnasen, die alle vier Jahre ihr Kreuz machen, ansonsten ihre Autos waschen und jeden für weltfremd halten, der kein Fernsehen guckt und immer noch nicht glauben will, dass es das Kapital ist, das arbeitet.
Und diesen Tag wollte man uns verbieten, diesen gottgeilen Tag meinte man, durch eine Armee hochgerüsteter Polizisten klein halten zu können: diese andere Welt, diesen Vorgriff, diesen herrlich freien, kurzen Traum. Kaum zu fassen, von welch mickrigen Luschen wir uns regieren lassen! Aber diesmal sind sie nicht durchgekommen. Dieser Tag war stärker. Man kann ihn uns nicht mehr nehmen.

„Natürlich ist das eine Illusion, dieses vermischte Tanzen …” (Franz Josef Degenhardt)

Todestag von Langston Hughes.

Freitag, 18. Mai 2012 – Zehnuhrneun, vierzehnkommaneun. Bedeckt.

Gestern vor der Paulskirche – verboten, aber fröhlich. Halte Ausschau nach Freunden. Niemand da? Jemand verteilt Grundgesetze, die in die Höhe gehalten werden. Aufgebracht, wütend sind vor allem die Älteren. Rundum Polizei, wie immer: „Verlassen Sie den Platz, Sie machen sich strafbar!” Tja, was muss, das muss. Viele kleine, schöne Aktionen. Ein Anwalt, Inhaber einer Wirtschaftskanzlei, der eine Lautsprecheranlage dabei hat und Grundsatzurteile zum Demonstrationsverbot vorliest. Drei Musiker in schwarzen Hosen und weißen Hemden, die ein klassisches Stück spielen und am Ende, als die Touristen ihnen applaudieren, „Solidarität mit Griechenland!” rufen. Eine junge Frau mit einem Baby im Arm stellt sich vor den Kordon der Uniformierten und singt lauthals und gutgelaunt ein Gospel. Leute mit Rucksäcken und Zelten.
Wo sind die Frankfurter Grünen, wo die Sozialdemokraten? Ach, sie sollen sich schämen!
„Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht, das wir sehr hoch halten”, erklärt die CDU. So hoch, dass wir nicht mehr drankommen. Man wird sich die Namen merken: Boris Rhein, Christean Wagner, Markus Frank.

Ein Buch, dem man wünscht, es würde Pflichtlektüre im Gemeinschaftskunde-Unterricht: „Ricardas Tochter – Leben zwischen Deutschland und Israel” von Jutta Schwerin. Charlotte hat es lektoriert und mir letzte Woche geschenkt. Wie frei, wie klug, wie unbeirrbar die Autorin ist. Sie war für die Grünen im Bundestag, hat die Partei dann aber wieder verlassen: „Ich war zu anders als sie, zu links, zu feministisch, zu lesbisch und zu erschrocken über die Wiederherstellung eines großen Deutschlands”. Und wohl auch: zu jüdisch.
In New York besucht Jutta Schwerin ihre Freundin, die dreiundneunzigjährige Fotografin Ellen Auerbach, die sich selbst für gänzlich unpolitisch hält und erklärt: „Ich wähle nie, mein ganzes Leben lang nicht. Allein das Ansinnen dieser Leute, gewählt zu werden, schon ihr Ehrgeiz bringt mich gegen sie auf!”

Live-Ticker der Frankfurter Rundschau, heute: „12 Uhr: Auf der Kreuzung Wilhelm-Leuschner-Straße/Mainluststraße haben sich etwa 25 Personen auf die Straße gesetzt. Die Aktivisten singen auf Holländisch oder Schwedisch die Internationale. Die deutschen Aktivisten antworten mit dem Arbeiter-Einheitsfrontlied . Die Polizei macht sich bereit, die Blockade aufzulösen.”

Todestag von Heinrich Albertz.

Sonntag, 13. Mai 2012 – Fünfuhrachtunddreißig, vierkommadrei. Die Eisheiligen. Hell.

Am Mittwochabend, ein Platz in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße, der Reisende setzt sich auf eine Bank. Eine ältere Dame, ihr rostiges Fahrrad schiebend, umkreist den Platz und durchsucht die Abfalleimer nach Pfandgut. Ob es denn hier irgendwo ein Lebensmittelgeschäft gebe, frage ich, als sie vorüber kommt. Nein, sagt die Dame, die Großbaustelle habe auch die letzten kleinen Händler im Laufe des Jahres vertrieben. – Was denn gebaut werde? – „Schon wieder eine neue U-Bahn für die Bonzen.” – Für die Bonzen? – „Na, jedenfalls kann ich’s mir nicht leisten.”

Von dem Angler am Großen Wannsee will ich wissen, wie weit denn der Uferweg führe. – Antwort: „Hier kannste loofen bis zur Verjasung.”

Dort auch, auf dem Weg zur Liebermann-Villa, halte ich inne, um eine Siedlung schöner neuer Häuser zu bewundern: aus rotbraunen Klinkern gebaute Kuben mit riesigen Fensterflächen. Am Straßenrand hält ein Mercedes-Kombi, eine große Blonde steigt aus, schaut mich misstrauisch an. Ob es sich hier um private Wohnhäuser handele, frage ich rasch, um mein offenbar verdächtiges Interesse zu erklären. „Um was denn sonst, bitte, soll es sich handeln?” – Na, sage ich, vielleicht um universitäre Institute. – „Das”, patzt sie, „habe ich ja wirklich noch nie gehört!” – Erst jetzt sehe ich im Kofferraum ihres Wagens die beiden spitzmäuligen Kampfhunde. Sie legen die Köpfe schief und schauen mich an.

In der Kundenzeitschrift der Deutschen Bahn ein Interview mit der Fernsehfrau Judith Rakers. Geplapper wie man’s kennt. Dann, auf ihr Engagement in einem Obdachlosenprojekt angesprochen, sagt sie etwas Unerwartetes: „Ist das überhaupt ein Absturz? Oder vielleicht nur ein anderer Lebensentwurf? (…) Die meisten wünschen sich im tiefsten Innern, in ein normales Leben zurückzukehren. Auch wenn sie es nicht so hinkriegen. Aber ich denke auch, dass es viele Facetten gibt, wie man leben kann. Unser Weg ist nicht der einzig richtige. Es muss sich nicht alles an Leistung orientieren und an Geld. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das so ist, und ich mache da auch mit. Aber ich könnte auch darauf verzichten.”

Verspätete Ankunft auf dem Frankfurter Hauptbahnhof, die Menge der Passagiere drängt eilig Richtung Ausgang. Entgegen kommt den Reisenden eine Frau, vielleicht Mitte dreißig, die Augen umschattet, die Arme vernarbt, taumelnd, ohne Zweifel drogenkrank. Sie schaut ins Leere, weint, und ruft dann, an niemanden und alle gewandt, mit ganz und gar jämmerlicher Stimme, wie aufjaulend eingedenk einer kürzlich zugefügten Kränkung: „Es können doch nicht alle so schön sein wie ihr.”

Zwanzigster Todestag von Gisela Elsner.

Dienstag, 1. Mai 2012 – Sechsuhrneunundvierzig, vierzehnkommafünf. Bedeckt.

Weißer Kies und nackte Bäuche; die Schultern schon verbrannt. Ja, ja, und eure Tulpen sehn aus wiene Tüte Lutschbonbons. Guckma, der da, mit seiner fleckigen Jogginghose. Das Mädchen verschwindet hinter einer Ecke, ihm folgen fünf, sechs, sieben junge Männer. Mach schön die Tür zu, hörst du! Mensch, wie der Weißdorn wächst und blüht, lauter Marienkäfer drin, hastegesehen. Nichsolaut, nichsolaut! Von dem Kind auf seinem Rädchen ist nichts zu sehen, außer dem Wimpel, der über der Hecke hin- und herschwimmt wie eine Haifischflosse. Soll ja nochma wieder kälter wern. Weißte was, die Katzen, die jag ich. Wo die Rotschwänze wohl dieses Jahr brüten?

Für den Marienkäfer gibt es über 1.500 unterschiedliche regionale Bezeichnungen. Ein einziges Exemplar frisst bis zu 50 Blattläuse am Tag. Marienkäfer sind auch Kannibalen. Hätten Sie’s gewusst?

Heute feiern wir den hundertsechzigsten Geburtstag von Calamity Jane.

Sonntag, 22. April 2012 – Vierzehnuhrneun, dreizehnkommaneun Grad. Wind, Wolken, Wasser.

„Aber die knappen Zeilen, die Günter Grass unter der Überschrift ‘Was gesagt werden muss’ veröffentlicht hat, werden einmal zu seinen wirkmächtigsten Worten zählen. Sie bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: ‘Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden.’ Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. (…) Es muss uns nämlich endlich einer aus dem Schatten der Worte Angela Merkels holen, die sie im Jahr 2008 in Jerusalem gesprochen hat.”
(Holger Apfel, Bundesvorsitzender der NPD)

Richtigstellung: Anders als oben behauptet, stammt das Zitat nicht vom Bundesvorsitzenden der NPD, sondern von Jakob Augstein, Kolumnist bei „spiegel online” und Herausgeber der Wochenzeitung „freitag”.

Yoav Sapir, Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung „Maariv”, kommentiert: „Grass hat eigentlich nur das geschrieben, was die Mehrheit in Deutschland seit Jahren denkt und fühlt. (…) Durch das Loch, das Grass in ihn gebohrt hat, bricht zusehends der Damm der politischen Korrektheit. Das Schlussstrich-Verbot ist dahin. Kein anderer als Walsers leiblicher Sohn, Jakob Augstein, hat es so explizit zum Ausdruck gebracht.”

Käthe Kollwitz ist tot.

Mittwoch, 18. April 2012 – Sechzehnuhreinunddreißig, zwölfkommasechs. Wolkig, sonnig, schaurig, aprilig.

Spiegel online enthüllt: „Tierfreunde ahnen es schon lange, jetzt scheint es bewiesen: Pferde sind wahre Meister im Erkennen von Menschen. Ein Experiment ergab, dass die Vierbeiner allein anhand von Geruch, Aussehen oder dem Klang der Stimme eine fremde von einer vertrauten Person unterscheiden können.”
Da muss die Frage erlaubt sein, anhand von was ein Spiegel-online-Redakteur sich von einem Vierbeiner unterscheiden kann?

Königin Elisabeth I. habe, so wird berichtet, von ihren Hoffräulein verlangt, „so jungfräulich wie möglich zu bleiben”, was nun wirklich eine hübsche Formulierung ist. – „To remain in virgin state as much as may be”.

Hoffmann von Hoffmanswaldau ist tot. Aber schon ziemlich lange.

Donnerstag, 12. April 2012 – Zehnuhrvierundfünfzig, siebenkommadrei. Alles zu.

Ist es eigentlich normal, in diesem Alter umgeben zu sein von längst in die Jahre gekommenen Freunden und Bekannten, Männern wie Frauen, die immer noch so schwer an ihrer Herkunft zu tragen haben? Die von ihren Eltern, den Vätern öfter als den Müttern, vor Jahrzehnten tyrannisiert, gezüchtigt, gedemütigt, misshandelt, missbraucht, verlassen oder einfach ignoriert wurden? Seitdem, was sonst, hat das Leben der Kinder einen Knacks. Die Mütter und Väter sind zumeist längst gestorben, der Knacks ist geblieben und wird nun bis ins Alter hinein analysiert und therapiert auf Teufel komm raus. Und ob er nun rauskommt oder nicht, der Teufel, er arbeitet weiter. Vergällt den Töchtern und Söhnen bis heute das Leben, zerstört ihre Freundschaften und Ehen, macht sie nervös, säuerlich, verbittert, schlaflos, abergläubisch, depressiv, verrückt, krank, unzumutbar.
Und forscht man nach, was denn das für Eltern waren, findet man heraus, dass es, die Väter öfter als die Mütter, Nazis waren, kleine oder große, solche oder solche – oder sich von diesen zumindest ermuntert fühlten, ihre schlechtesten Seiten als erwünschte auszuleben. Was ja heißt, dass diese zwölf Jahre bis heute ihr Gift verbreiten – bis in jede Verästelung unseres Alltags, bis in die nächste und übernächste Generation. Immer neue Opfer produzierend, die zu immer neuen Tätern werden – solchen oder solchen.
Ist es angesichts dessen spinös, sich wenigstens einmal das Andere, Bessere, Schönere vorzustellen? Dass es nicht so gekommen wäre, wie es gekommen ist. Dass Deutschland eine Republik geblieben wäre, ein ziviles, unzerstörtes Land mit unzerstörten Städten und einer reichen jüdischen Kultur. Was wäre dann heute anders? Die Antwort dürfte sein: Alles wäre anders, fast alles. Wir hätte andere Zeitungen, andere Nachrichten, andere Debatten, andere Bücher, eine andere Kunst, ein anderes Theater, andere Tage, andere Nächte, andere Freunde.

Todestag von Heinrich Nordhoff, ab 1942 Wehrwirtschaftsführer, später mit allen Orden der Bundesrepublik ausgezeichnet.

Mittwoch, 4. April 2012 – Fünfzehnuhrdrei, vierzehnkommanull. Wolken.

Mit seinem als Gedicht bezeichneten Text „Was gesagt werden muss” ist Günter Grass wieder dort gelandet, wo er herkam und hingehört – an der Seite seines Volkes. Die halbe so genannte linksliberale Weltpresse druckt heute diesen Text, und in den Internet-Kommentaren johlt die gebildete Leserschaft (hier: der „Süddeutschen Zeitung”):

„Recht hat er.”
„Die Antisemitismuskeule wird wieder geschwungen … Danke für Ihren Mut, Herr Grass!”
„Der Mann hat so was von Recht.”
„Recht hat er, aber da kommt gleich wieder die Nazikeule raus.”
„Danke Hr. Grass und Danke SZ, dass Sie den Mut haben, die Wahrheit so poetisch brillant auf den Punkt zu bringen.”
„Es wird langsam Zeit, dass wir uns aus dem Schatten der Vergangenheit lösen … Die Ausführungen von Herr Grass sind von daher nicht nur richtig, sondern auch ausgewogen.”
„Grass hat Recht. Das zeigt deutlich die Reaktion aus Israel und vom Zentralrat der Juden.”
„Getroffene Hunde jaulen halt auf, umso stärker, umso mehr.”
„Es ist an der Zeit, dass die Welt ihre Stimme erhebt … Eine dieser Stimmen ist Grass. Endlich.”
„Interessant ist übrigens, dass Volkes Stimme, soweit sie hier im SZ-Forum halbwegs repräsentativ ist, zu völlig anderen Ergebnissen kommt als die offiziellen Verlautbarungen.”
„Glückwunsch, Herr Grass, dass Sie aussprechen, was 80% unserer Landsleute denken.”
„Ich freue mich, dass Herr Grass so schreibt … Sagt man etwas, ist man antisemitisch.”
„Endlich – das Schweigen der deutschen Intellektuellen, Literaten, Künstler war und ist skandalös. Gott sei Dank, wagt Grass es endlich zu sagen, was längst überfällig ist und macht sich unabhängig von der Staatsräson des Schweigens und der allumfassenden Manipulation der nackten Kaiser mit ihrer Propagandaabteilung.”
„Ich kann diesen antisemitischen Zirkus langsam nicht mehr hören. Mein Opa hat keinen Juden getötet …, mein Vater nicht und ich kenne noch nicht mal einen.”
„Nobelpreis war gerechtfertigt – Ganz große Poesie. Ich habe geweint. Danke, dass wir so einen großen Dichter haben!”
„Unsere feige Politiker-Mischpoke schweigt, weil sie die Reaktion der (Rothschild-) Zionisten fürchtet.”
„Meine Meinung ist mein menschliches Geburtsrecht – Da ich niemals einem Juden jemals etwas angetan habe, habe ich alles Recht der Welt, Israel zu kritisieren, was ich hiermit tue.”
„Eine unberechenbare, labile Regierung wie die israelische kann sich die Welt jedenfalls nicht leisten.”

Wenn das Volk einer Meinung ist, will auch die Partei „Die Linke” nicht abseits stehen. Deren Bundestagsabgeordneter Wolfgang Gehrcke teilt mit: “Günter Grass hat Recht … Günter Grass hat den Mut auszusprechen, was weithin verschwiegen wurde.”

Am 4. April 1945 starb im KZ Mittelbau-Dora im Alter von 38 Jahren der französische Widerstandskämpfer Jean Burger.

Montag, 2. April 2012 – Neunuhrsiebenundzwanzig, fünfkommanull. Bedeckt.

Am Freitag landet auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses ein Graureiher, rutscht – bedächtig, wie es scheint – die Schräge hinab, bleibt einen Moment auf der Regenrinne stehen, schaut sich um, segelt dann auf die Rasenfläche des Gartens, schreitet hochmütig über den schmalen Weg zwischen den Häusern, erhebt sich schließlich flügelschlagend, um die Enge der Siedlung zu fliehen, ins Offene, den Himmel …

Am Samstag mit dem Mountainbike durch die Stadt. Überall Polizeifahrzeuge, Motorräder, Streifenwagen, zahllose Mannschaftswagen. Im Kaisersack vor dem Hauptbahnhof Fahnen, Menschen, viele dunkel gekleidet, ein Lautsprecherwagen. Breit grinsen wir uns an, als ich überraschend Alex treffe. Dann Jutta, die ich frage, wer denn eigentlich aufgerufen habe zu dieser Demonstration. Nun, sagt sie, die reformistischen Kräfte habe man fürs Erste absichtsvoll außen vor gelassen, einfach, um mal zu sehen, wie viele Leute man selbst auf die Beine bringe. Immerhin, einige Tausend sind es geworden, ein Aufgebot, gegen das die Occupy-Aktionen wie ein Streichelzoo wirken. Knallt auch bald. Andrea und Peter sind ebenfalls da, eine Weile sind wir beieinander, verlieren uns aber schließlich. Martialisch, die hochgerüsteten Massen vermummter Polizisten, die in bedrohlich schweigenden Kordons die Straßen säumen. Eine solche Kulisse entschlossener Staatsschützer dürfte die Stadt zuletzt im Mai 1990 gesehen haben – während der „Nie-wieder-Deutschland!”-Demonstration.

Tot seit einem Jahr: Marc Fischer.

Mittwoch, 28. März 2012 – Neunuhrfünfzig, zehnkommazwei. Seit Tagen schön. Blau mit Wolkenfetzen.

Gebeten, eine kleine Kolumne zu verfassen, sagte ich ja, schrieb sie und nannte sie „Stiller Sturm”. Als Wochen später das Magazin erschien, fanden sich dort mein Name und mein Foto, aber irrtümlicherweise der Text eines anderen Autors. Deshalb jetzt hier:

Ums Bett stapeln sich Bücher. Wie von selbst. Wie immer. Einschlafbücher, Aufwachbücher. Momentan: mal wieder die alltagswuchtigen Tagebücher John Cheevers, Max Frischs traumwandlerisch modernes „Montauk“, Adornos Poesiealbum der „Minima Moralia“, „The Drop“ von Michael Connelly. Und die gerade mit Vergnügen beendete kecke „Jane Eyre“ der Pfarrerstochter Charlotte Brontë.
Ist noch zu früh fürs Bett, also erst noch ein wenig Fernsehen. Aber überall nur Simulation, nur Bildmüll, Wortmüll, Kopfmüll. Hängen bleibe ich schließlich, als ein alter Mann, einst Mitglied der kambodschanischen Roten Khmer, vorführt, wie er seinen Gegnern mit einem Messer die Kehlen durchtrennt hat. Oft seien es so viele Kehlen gewesen, dass ihm die Hände geschmerzt hätten, dann habe er stattdessen zur Abwechslung in den Nacken gestochen. Aber schon die demonstrative Betroffenheitsmiene der anschließenden Moderatorin lässt mich wieder abrutschen. Fernseher aus!
Stattdessen gerate ich – fast unversehens – auf youtube an ein Gespräch, das Günter Gaus für die ARD im Jahr 2001 in der JVA Bruchsal mit dem ehemaligen RAF-Mann Christian Klar geführt hat. Der sitzt zu diesem Zeitpunkt seit 19 Jahren im Gefängnis. Klar ist kein Verblendeter, kein Spinner, kein Fanatiker. Stattdessen erleben wir einen zutiefst versehrten, aber keineswegs zerstörten politischen Menschen. Seinem Gesicht ist anzusehen, was er gemacht und was man mit ihm gemacht hat. Diese 50 Minuten sind ein stiller Sturm. Man sieht und hört das. Man erschrickt. Und wird es nie wieder vergessen.
Was bleibt? Ein Fernsehabend, der keiner wurde. Und die Erinnerung daran, was Fernsehen einmal konnte. Zurück zu den Büchern!

Tot ist Maria Augusta Trapp, Autorin von „Die Trapp-Familie. Vom Kloster zum Erfolg”, eines der Bücher, die in Opas Regal neben den Buddenbrooks, dem Archipel Gulag und Doktor Schiwago standen.

Mittwoch, 21. März 2012 – Vieruhrzweiundfünfzig, einskommasechs. Dunkel. Schon die Autobahn, schon die Vögel. Schluss mit der Entgeisterung.

Am Sonntag Saisoneröffnung in Niederdorfelden. Achtzig Kilometer durch den kalten Regen. Mit dreißig hausgemachten Bratwürsten als Beute nach Hause.

Montag: Kai Degenhardt im Club Voltaire. Ein Ort, als habe man die frühen siebziger Jahre plastiniert. Und so ist auch das Publikum: jauchzt und feixt, wenn die eigene Gesinnung durch ein Zauberwort des Künstlers gestreichelt wird. Gruselig.
Erich Schaffner erzählt, er sehe sich, seit er in Wolfgang Spielvogels Theaterstück „Buback” die Titelrolle spiele, den Attacken des in Frankfurt lebenden ehemaligen RAF-Mannes Günter Sonnenberg ausgesetzt, dessen Entourage einen Tisch weiter … Was für Geschichten, was für ein Land …
Und diese Frau, die mich so voller Verachtung, so hasserfüllt ansieht, wie es mir eigentlich noch nie widerfahren ist. Regelrecht zerfressen muss sie sein, die Dame, inwendig.
Als Atilla und ich schließlich mit unseren Mountainbikes durch die nächtliche Stadt brettern – jawohl: brettern – stellt uns im Oeder Weg doch prompt ein Streifenwagen, weil wir nicht Gewähr bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten … nein, weil wir angeblich eine rote Ampel undsoweiter …

Dienstag, ins Frühbeet gesät: glatte Petersilie, Thai-Basilikum, Pimpinelle, großröhriger Schnittlauch, Knoblauch-Schnittlauch, rote Asia-Rauke, Rucola, Kerbel, Sauerampfer, Estragon, Tetra-Dill.

In seiner Kolumne wundert sich Jan Fleischhauer über die Zustimmung, die der neue Präsident bei SPD und Grünen findet: „Mit Joachim Gauck haben sie den konservativsten Bundespräsidenten gewählt, den Deutschland je hatte. Was das linke Lager heute als Sieg feiert, wird dort morgen schon als gewaltiger Irrtum gelten.”
Und zum ersten Mal finde ich mich in der misslichen Lage, Fleischhauer Recht geben zu müssen.

Im „Grünen Heinrich” gefunden: „Papierblumenfrühling”.

Passt: Todestag des „Kräuterpfarrers” Hermann-Josef Weidinger.

Dienstag, 13. März 2012 – Neunuhrfünfundzwanzig, sechskommaeins. Und … wo ist sie jetzt, die Sonne?

Wenn einem als Erwachsener ein anderer Erwachsener ein Märchen erzählt – wie Jörg neulich mir das von der „Klugen Else” -, dann wird man das unter die seltenen Momente der Gnade verbuchen dürfen.

Erinnerung: Wie Wolfgang Deichsel einmal in den Verlag kam, unterm Arm eine Kiste toter Frösche, deren plattgefahrene Kadaver er von der Straße aufgelesen hatte. Er wollte sie fotografiert haben – als Anschauungsmaterial für eine „Theorie des Platten”.

Max Reger, heißt es, habe Kritiken seiner Arbeit mit Vorliebe auf dem Klo gelesen. Mit folgenden Worten wandte er sich von dort aus an einen Rezensenten, der ihn verrissen hatte: „Ich sitze hier im kleinsten Raum und habe ihre Kritik vor mir. Gleich werde ich sie hinter mir haben.”

Durch mit André Müllers Buch über seine Begegnungen und Gespräche mit Peter Hacks. So klug Hacks war, so starrsinnig war er auch, so sehr fixiert auf seine Gegner. Seine eigene Haltung ließ er sich von diesen insofern diktieren, dass er immer die am weitesten entfernte Position suchte. Was auch eine Form der Anpassung ist und einem Klassikers, der er partout sein wollte, dann doch nicht recht angemessen.
Seine Opposition reichte bis zur Wahl der Grabstätte. Keinesfalls wollte er auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof beerdigt werden, wo Hegel, Brecht, später Heiner Müller und Marcuse begraben wurden. Hacks: „Die Vereinigung der Konterrevolutionäre ist nun vollständig.”

Todestag von Kieslowski.

Dienstag, 6. März 2012 – Fünfzehnuhrsechsundfünfzig, zehnkommaacht. Schönster Tag des Jahres. Frühstück mit Katja Sämann im »Margarete«, Schlenker durch die Stadt und die halbe Welt läuft uns übern Weg.

Gestern Geisterbahn im Literaturhaus, dort das Gespräch zweier Damen:
„Isch geh gern zu so Dischderlesunge. In Bernem machese so was aach alsemo.“
„Ja, wann isch e Buch les, brauch isch net emo de Fännseher.”
„Isch iwwerleesch grad, ob isch mer gleisch e Buch kaaf.”
„Des braachsde ned, isch hab die all dehaam, die kannste von mir krieje.”
„Isch maan doch des neue.”
„Awwer 25 Euro sinn net wenisch.”
„Ja, awwer da könnt isch heut e Unnäschrift krieje.”
„Ach so. Ei waaste was, wenn de des willst, do deil mers uns halt. Isch geb die Hälft dezu, un dadefier deff ischs zuerst lese. Un wenn ischs fertisch hab, geb isch dirs und da haste dei Unnäschrift.”
„Ei ja, so kenne mers mache.”
(Protokoll Brigitte P.)

James Bowie ist tot. Der mit dem Messer.

Freitag, 2. März 2012 – Zehnuhrsechsundfünfzig, sechskommavier. Verhangen. Nach dem Aufwachen ein bisschen im Pepys gelesen. Auf Diät. Keine Kohlenhydrate, kein Fett. Nichts. Schon wieder März.

In der Braubachstraße hat das „Margarete” eröffnet, zwei lang gestreckte Räume, vorne Glas, hinten Glas – vielleicht das schönste Aquarium der Stadt. Eine Kantine, in der man überall hinschauen mag: Holz, Beton, Stoff und diese wunderschönen Lampen. Das Essen – ja, was soll man sagen, ohne in das Gastro-Jubel-Gestammel eines Gourmetdeppen zu verfallen? Ein süßer Foies Gras mit einem Streifen Mohn, Fisch mit Schweineschauze, geräuchertes Dessert. Und das soll schmecken? Tja, wenn es doch so ist. „Echt lecker”, sagt jemand am Nebentisch, „aber ob die Portionen immer so klein sein werden?” Und Charlotte meint, dass die sich ausbreitenden Edelfressen ihr nicht ganz geheuer seien. Wo nun auch wieder was dran ist.
Die Eröffnungsfische schwimmen so rum. Designer. Funktionäre. Fotografen. Lieferanten. Gastronomen. Politik. Kultur.

Die Kollegin F. beklagt, dass der Dichter M. sich ihr gegenüber in letzter Zeit recht spröde zeige, da er sich offensichtlich „den Anderen” zugewandt habe. Zum ersten Mal begreife ich, dass es selbst in der winzigen literarischen Szene dieser Stadt Fraktionen gibt. Bin froh, es bislang nicht bemerkt zu haben und nehme mir vor, es auch künftig nicht bemerken zu wollen. No, no, no, no, I’m not part of it!

Heute vor vier Jahren starb im Alter von 41 Jahren der großartige Gitarrist und Sänger Jeff Healey an den Folgen eines bösartigen Netzhauttumors, der ihn schon als einjähriges Kind hatte erblinden lassen.

Mittwoch, 29. Februar 2012 – Achtuhreinundvierzig, siebenkommaneun Grad. Alles grau. Wach seit vier. Was ist denn jetzt los? Über Nacht hat sich die Zahl der Geisterbahn-Besucher verdreifacht – „Was soll wohl los sein? Der Fihilm!” – Ach so, der Fihilm, der Fihilm.

An kaum einem Ort benehmen sich die Leute so haltlos wie auf dem Parkplatz einer Raststätte – zumal in einer Sommernacht, zumal bei großer Hitze.
Und selten sind sie befangener, verstellter als beim Betreten eines Restaurants, das sie „fein” nennen.

Der Schrecken sitzt, den mir Annette verschafft hat, als sie darauf hinwies, wie oft das Wort „verkommen” in der Geisterbahn auftaucht. Aus welcher Gemütslage steigt ein solcher Begriff denn auf? Aus einer der Selbstgerechtigkeit? Der Bösartigkeit? Jedenfalls ist es nicht damit getan, das Wort künftig zu vermeiden.

Nur wenige Tote an diesem seltenen Tag.

Sonntag, 26. Februar 2012 – Zehnuhrsiebenunddreißig, fünfkommaneun. Wolken mit was Blau dazwischen.

Gestern Abend im Literaturhaus. Hauke Hückstädt, der freundliche Leiter, schleppt Stühle herbei. „Hier kocht der Chef”, sage ich und helfe ihm. „So kann man sich auch beliebt machen”, sagt er und lächelt. Meint er sich oder meint er mich? Hätte ich mich wirklich beliebt gemacht, wäre das eine Premiere und sollte nicht wieder vorkommen. Ich werde keine Stühle mehr schleppen.
Das Hörspiel „Vier Lehrmeister” des Chinesen Liao Yiwu wird mit dem Preis „Hörspiel des Jahres” ausgezeichnet. Mehrmals wird betont, dass dieser Preis nicht dotiert und mithin ein reiner Ehrenpreis sei. Nach der diesjährigen Entscheidung der Jury kann auch von Ehre keine Rede mehr sein. Zum Glück habe ich nichts zu sagen, sonst hätten die drei Juroren jetzt Berufsverbot. Das Werk ist eine kreuzbrave Weihestunde, poetisch infantil, ästhetisch noch nicht mal schlichtes Biedermeier. Hätte ein deutscher Autor mit einem deutschen Stoff etwas Ähnliches abgeliefert, wäre er nicht zu Unrecht gepriesen, sondern zu Recht ausgelacht worden.
Als ich wiederholt auf Beifall verzichte, wird um mich herum umso frenetischer applaudiert. Ich nehme mir vor: Sollte mich gleich im Foyer jemand fragen, wie es mir gefallen hat, werde ich sagen, ich sei noch zu ergriffen, als dass ich mich schon äußern könne.

Wahrhaftig: Man kann gar nicht genug versäumen.

Todestag von Max Taut.

Freitag, 24. Februar 2012 – Zehnuhrvier, sechskommaneun. Feuchte Welt.

Das Gauck. Es gibt uns schonmal einen Vorgeschmack. Der Mann saß im Taxi, als ihn der Anruf der Kanzlerin erreichte, dass er nun doch Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten werden könne; er solle bitte ins Kanzleramt kommen. Gauck zum Taxichauffeur: „Sie fahren den neuen Bundespräsidenten. Wir ändern die Richtung.” Da war er gerade mal geworden, was er ist und bleiben sollte: ein Kandidat, sonst nichts.
Gestern dann, als in Berlin die Gedenkveranstaltung für die zehn Opfer der Nazimorde stattfand, ließ er ein Foto von sich und drei türkischen Frauen machen. Gauck: „Mit schönen Menschen lasse ich mich gerne fotografieren.”
Frau Merkel wusste schon, warum sie das nicht haben wollte.

Titelseite der rechten Wochenzeitung „junge freiheit” zur Gauck-Nominierung: „Wir sind Präsident”.

Als die Partei „Die Linke” bekannt gab, dass sie als Gegenkandidatin Beate Klarsfeld ins Rennen schicken wolle, dachte man: „Oha, das ist ein Coup!” Nur einen Tag später hieß es dann aber, es gebe innerparteiliche Vorbehalte gegen eine solche Kandidatin, viele Mitglieder hielten Frau Klarsfeld für … Na, für was wohl? Zu israelfreundlich.
Mit Antifaschismus schmückt man sich gerne in dieser Partei. Am liebsten hätte man ihn wohl „judenfrei”.

Tot ist der Rennfahrer René Le Bègue. Er starb an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Wirklich.

Dienstag, 21. Februar 2012 – Achtuhrvier, minus dreikommazwei. Wolkig, aber wird.

Vergesst Wulff, vergesst Gauck, vergesst Kracht, vergesst die ganze Tageszeitungsscheiße! Lest Chotjewitz!
Nach „Mit Jünger ein’ Joint aufm Sofa, auf dem schon Goebbels saß” bin ich gerade durch mit „Mein Freund Klaus” – dem todtraurigen, fünfhundertsiebzig Seiten dicken Vorläufer. Klaus ist Klaus Croissant, jener Anwalt, den man uns nach Baadermeinhofensslins Tod als das damals neueste Megagruselmonster verkaufen wollte und mir erfolgreich als ein solches verkauft hat.
Chotjewitz war mit seinem geächteten, gehetzen, verfolgten, verhafteten, verurteilten Kollegen Croissant befreundet, ohne ihn recht zu kennen. Also macht er sich nach dessen Tod auf Spurensuche – akribisch, penetrant, skrupulös, neugierig, freundlich, fleißig, insistierend. Er reist durch die Republik, fragt Freunde, Geliebte, Genossen, Verwandte, Wichtigtuer, Gegner, Arschlöcher, alle, die etwas zu sagen haben oder das nur meinen und bereit sind, zu sprechen. Und schreibt das alles auf.
Es geht um die RAF, um den Staat, um Moral, um Mut, um Unterwerfung, um Verrat, um Demokratie, um Hoffnung, um Anstand, um Wahnsinn, um Hysterie, um niederträchtiges Beamtentum und täglichen Faschismus, um die DDR, die Stasi, die Nazis, die Zukunft. So. Und jetzt? Die RAF ist tot und vergessen, die DDR ist tot und vergessen, Croissant ist tot und vergessen, Chotjewitz ist tot und vergessen. Alles spricht dagegen, dieses Buch zu lesen, das keinen außer mich interessiert. Und als ich die ersten Seiten hinter mir habe, spricht alles dagegen, es nicht zu lesen.
Das Buch ist die Flaschenpost für eine Zukunft, die es nicht geben wird ohne dieses Buch. Man möchte Chotjewitz dauernd widersprechen, möchte aufbegehren gegen seinen Starrsinn, zuckt zurück vor seiner Konsequenz. Und weiß doch im selben Moment: Es geht nicht weiter, ohne das alles zur Kenntnis zu nehmen. Chotjewitz mag nicht frei von Irrtümern, von Verstiegenheiten sein, aber immerhin ist er frei von Lügen, von Kriecherei, was man von kaum einer anderen Darstellung dieser Ereignisse behaupten kann. Und glaubt mir, ich habe sie fast alle gelesen: Stefan Aust, Mario Krebs, Willi Winkler, Butz Peters und die Dokumente, Aussagen, Beichten, Kniefälle und Selbstrechtfertigungen der zahlreichen mehr oder weniger Beteiligten auf der einen oder der anderen Seite. Vergesst das alles! Lest „Mein Freund Klaus”!
Was Brigitte Reimanns Tagebücher für die Wahrheit des deutschen Ostens, sind Chotjewitz’ Bücher für die Wahrheit des deutschen Westens. Sie korrigieren einander gegenseitig. Lest beides, wenn ihr wissen wollt, wo wir herkommen! Und wenn ihr immer noch nicht ganz davon überzeugt seid, dass Gauck und Merkel das Ende aller Geschichte sind.

So, und ich reite nun in die nächsten Jagdgründe. Peter Hacks, ich komme …

Und weil es so schön passt, gleich die erste Beute:
„Recht hin, Recht wieder her, das habt ihr lernen müssen:
Wenns euer Recht nicht ist, seid ihr mit Recht beschissen.”

Allein der zweite Satz hat drei Bedeutungen; und jede stimmt. Wem da nicht das Herz aufgeht …

Auch das noch: Die Reimann hat heute neununddreißigsten Todestag.

Mittwoch, 15. Februar 2012 – Elfuhrfünfzehn, dreikommacht – plus, wohlgemerkt. Trotzdem vollkommen durchgefroren vom Fototermin auf dem nasskalten Lohrberg zurück.

Im gestrigen Spiegel beschreibt Georg Diez den Schriftsteller Christian Kracht als eine Art Stehgeiger des neuen Salonfaschismus. Die Argumente und Belege von Diez sind nicht schlecht; könnte also sein, dass an seinem Befund etwas dran ist. Könnte aber auch sein, dass Kracht bewusst die Grenzen zwischen Ästhetizismus und Antisemitismus verwischt hat, damit Diez so reagiert wie er es nun getan hat. Könnte also sein, dass Kracht nur wollte, dass es in den Feuilletons kracht. Das tut es schon heute, mithin wäre sein Kalkül aufgegangen, sein Ziel erreicht. Dumm dastehen werden, so oder so, wieder die deutschen Juden – wie nach all diesen Debatten um Jünger, Fassbinder, Botho Strauß und Martin Walser. Denn vom Betrieb nobilitiert wurden am Ende immer die kurzzeitig inkriminierten Autoren. Das weiß Kracht. Das weiß auch Diez. Mithin hätten beide die Juden instrumentalisiert. Heißt das nun, dass man auf solche Debatten lieber verzichten sollte? Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass der deutsche Jude Ignatz Bubis es vorzog, sich in Israel bestatten zu lassen.

Tot ist Daniel Fenner von Fenneberg.

Donnerstag, 9. Februar 2012 – Elfuhrneun, minus neunkommaeins. Bedeckt.

Gesternmorgen 40 Minuten auf dem eisigen Bahnsteig am Frankfurter Hauptbahnhof. Dann Köln. Maritim Hotel am Heumarkt, Bistro Irgendwas. Pressekonferenz zur Ausstrahlung der „Braut im Schnee” mit Matthias Köberlin und Lancelot von Naso. Häppchen, Tässchen, Stoffserviettchen. Die Journalisten sehen alles so mürrischmüde aus, als müssten sie seit vielen Jahrhunderten die Klatschspalten des Müngersdorfer Wochen-Anzeigers füllen. Sofort fühle ich mich zu blöden Clownereien genötigt. Peter und Tanja kommen, setzen sich an den Katzentisch, Elvis bellt. Köberlin hat halbhohe Budapester aus Wildleder an. Lancelot reißt das Ganze raus mit seiner Geschichte von den vor Kälte „zitternden Leichen” bei den Dreharbeiten. Später auf dem Klo textet mich ein Fotograf zu, „Boulevardfotograf”, sagt er, „aber nicht von der Bild”. Und dass der Schauspieler Jan-Gregor Kremp bei ihm gegenüber wohne und dass der so ein Guter sei, den man mal so richtig hochpushen müsse, so gut wie der sei undsoweiter undsoweiter. Bis ich sage, dass ich jetzt aber echt dringend mal … Hinterher kleine Sause mit Tanja, Peter und Lancelot, ins Parkhaus, in den Hasen … Zwei Kilo Moxxa-Espresso in der Aachener Straße. Retour. Am Gleis in Frankfurt dann überraschend ein fröhlicher Martin, der einen Freund abholt, welcher heute schon dreimal mit Napoleon und zweimal mit dem lieben Gott gesprochen habe. – ??? – Die Lösung: Der Mann ist Arzt in einer psychiatrischen Klinik.

Sylvia Rafael ist tot.

Montag, 6. Februar 2012 – Neunuhrsiebzehn, minus vierzehnkommaacht. Heiter.

Anhaltender Glücksrausch seit Samstag, seit die Postbotin geklingelt hat, seit ich Katja Sämanns Paket ausgepackt habe, seit das erste Exemplar des fetten Geisterbahn-Buches vor mir liegt. Ist das schön, fasst sich das gut an, liegt das gut in der Hand! Auf einem Bein drum herum getanzt. Schon lange nicht mehr so blödestolz gewesen. Voll Dankbarkeit. Nehme es immer wieder auf, blättere darin, lese mich fest, lache.
Chr.: „Echt gut geworden, sieht aus wie Brinkmann”.
P.: „Voll cool!”

Keiner tot!

Donnerstag, 2. Februar 2010 – Achtuhrachtunddreißig, minus zehnkommaacht. Hell. Windig. Heiter.

Gestern wurde Helmut Dietls neuer Film in der Süddeutschen Zeitung prominent und gründlich verrissen (»ein sprachloses, aber immerhin gemeinschaftsstiftendes Entsetzen befiel die versammelten Kritiker«). Überschrieben wurde der Verriss mit zwei Wörtern: „Dietl’s Albtraum”. Nun darf man fragen, was der für Titel und Dietl zuständige Redakteur, der gewiss Headliner heißt, sich bei diesem Apostroph gedacht haben mag. Wahrscheinlich hielt er seine knackige Überschrift für die Abkürzung von: „Dem Dietl sein Albtraum”.

Angesichts solcher Absurditäten sollte man es nicht meinen, aber: Charms ist tot.

Mittwoch, 1. Februar 2012 – Fünfuhrsiebenunddreißig, minus achtkommaeins. Dunkel.

Linker Antisemitismus, Teil III – Am 5. Januar 2012 veröffentlichte die Tageszeitung „junge welt” einen Aufruf, in dem es hieß: „Mit ständigen Kriegsdrohungen, dem Aufmarsch militärischer Kräfte an den Grenzen zu Iran und Syrien sowie mit Sabotage- und Terroraktionen von eingeschleusten ,Spezialeinheiten’ halten die USA gemeinsam mit weiteren Nato-Staaten und Israel die beiden Länder in einem Ausnahmezustand, der sie zermürben soll”. Unterschrieben hatten diesen Aufruf unter anderem eine Reihe von Bundestagsabgeordneten der Partei „Die Linke”. Wieder prostestierte der Bundesarbeitskreis „Shalom” der Linksjugend: „Entgegen der Einschätzung des Appells sind es nicht die Nato, die USA oder Israel, die einen Bürgerkrieg in Syrien anfachen, sondern das syrische und iranische Regime … Beide Regime gehen dabei mit unglaublicher Brutalität gegen die eigene Zivilbevölkerung vor, z.B. mit Tötungen durch Scharfschützen, die sogenannte ,Abschussquoten’ zu erfüllen haben … Mit plumpem Hass auf Amerika und Israel versuchen die Regime vom Terror gegen die eigene Bevölkerung abzulenken.” Die Protestnote von „Shalom” ist überschrieben mit den Worten: „Gegen linke Solidarität mit den Schlächtern von Syrien und Iran!”
Die Mandatsträger der Partei „Die Linke” schienen von diesen Einwänden unbeeindruckt zu bleiben und auch davon, dass ihre Unterschriften nun gemeinsam mit denen von bekennenden Antisemiten, Esoterikern, Verschwörungstheoretikern und rechtsradikalen Holocaust-Leugnern unter ein und demselben Appell stehen. Ganz im Gegenteil schien dieser Umstand die Anhänger und Funktionäre von DKP und „Die Linke” erst recht zu beflügeln: Die Zahl der Unterschriften aus diesem Spektrum vervielfachte sich in den Wochen seit Erscheinen. Egal, mit wem man paktieren muss, so scheint es derweil bei Linkspartei und DKP zu heißen, Hauptsache, es geht gegen die USA und gegen Israel. Nicht die Antisemiten, nicht Ahmadinedschad, nicht Ali Chamenei und Assad sind die Gegner, sondern die Kritiker aus den eigenen Reihen, die „Shalom-Denunzianten”, die „Dreigroschenjungen”, die „Kriegstreiber des Tages” der Bundesarbeitsgemeinschaft „Shalom” – wie die „junge welt” schreibt.

Am 1. Februar 1934 wurden die Kommunisten John Schehr, Eugen Schönhaar, Rudolf Schwarz und Erich Steinfurth von Männern der SA erschossen.

Dienstag, 31. Januar 2012 – Fünfuhrachtundfünfzig, minus nullkommasechs. Dunkel. Wach seit Viertel vor Vier, aber okay. Weiter in den Minima Moralia.

Linker Antisemitismus, Teil II. Selbes Thema, selbes Schema – Der Jugendverband der Partei „Die Linke” heißt „solid”. Innerhalb von „solid” gibt es einen Bundesarbeitskreis, der sich „BAK Shalom” nennt. Samuel Salzborn, Sozialwissenschaftler aus Gießen, und Sebastian Voigt, Mitbegründer von „Shalom”, haben gemeinsam einen Aufsatz verfasst, in dem sie antisemitische Tendenzen in der Linkspartei untersuchen. Obwohl die Autoren eher vorsichtig argumentieren und im Zweifel keine Böswilligkeit bei den Akteuren der Linken unterstellen, erregte das Papier bundesweit Aufsehen. „Die Linke” wies die Ausführungen zunächst in Bausch und Bogen zurück (Gysi: „schlicht Blödsinn”), sah sich dann aber aufgrund der sachlichen Darstellung und einer Fragestunde im Bundestag doch in Zugzwang und gelobte Besserung. Allerdings nur, um schon bald genervt auf die anhaltende Kritik von „Shalom” zu reagieren. Dieser Tage rang Knut Mellenthin in der „jungen welt” nach Worten, um die unangenehme Diskussion zu beenden und befand abschließend, dass das Dokument nichts weiter als eine „primitive Kampfschrift” sei: „In Wirklichkeit handelte es sich bei der ,Studie’ um politische Agitation, und zwar von der schmutzigsten, unredlichsten Sorte.” Statt innezuhalten und sich der eigenen Defizite gewahr zu werden, brandmarkt man die zaghaften Kritiker als Feinde und gibt sie damit gleichsam „zum Abschuss frei”.

Am 31. Januar 1911 starb Paul Singer, zu dessen Beerdigung fast eine Million Menschen kamen.

Montag, 30. Januar 2012 – Elfuhrvierundfünfzig, nullkommazwei. Ostwind.

Linker Antisemitismus, Teil I – Wer sich die Texte der Hiphop-Gruppe „die bandbreite” ansieht, wird rasch gewahr, das hier im Gewand antikapitalistischer Phrasen sexistische, verschwörungstheoretische und strukturell antisemitische Inhalte transportiert werden. Die Deutsche Kommunistische Partei hatte die Musiker zu ihrem letztjährigen UZ-Pressefest zunächst ein-, nach interner Kritik jedoch wieder ausgeladen. Daraufhin aber erhob sich innerhalb der Partei ein so lautstarker Protest gegen die internen Kritiker, dass man die Ausladung wieder rückgängig machte und das nun doch stattfindende Konzert der Antisemiten „zu einem Höhepunkt des Festes” der Kommunisten werden konnte. Die unterlegenen Gegner der „bandbreite” waren derweil zu „Meinungsterroristen” (Rainer Rupp) erklärt worden, die „von innen her das Rot aus den Wangen der Linken saugen” (Diether Dehm). Die kommunistische „Neue Rheinische Zeitung” schrieb: „Die Linke demontiert sich selbst und zerfleischt sich in aufgepflanzten Debatten, zum Beispiel über real weitgehend nicht existierenden Antisemitismus”. Man schloss die Reihen und verwahrte sich gegen „die üble Kampagnen-Masche” und die „dubiose, teils anonyme Internethetze”: „Keinen Fußbreit dürfen wir weichen.” Wem? Den Judenfreunden? Den Juden?

Gandhi ist tot.

Sonntag, 29. Januar 2012 – Elfuhreinundfünfzig. Nullkommavier. Bedeckt.

In unserer Siedlung, wo Einkommen, Wohnfläche und Bildungsniveau ein wenig über dem Durchschnitt liegen, wo man den Rücken zur Stadt, mithin zur umgebenden Welt ein wenig rund macht, kann man sonntagmorgens an der Bäckereitheke des Supermarktes Brot und Kuchen erwerben und trifft dabei fast unausweichlich auf einen Typus Mann, der nicht nur Sympathie weckt. „Ich weiß gar nicht”, sagt F., „warum mich diese jungen, gut verdienenden Väter so aufbringen. Aber sie sind so leutselig, so selbstgerecht, sie gehen so demonstrativ verständnisvoll mit ihren Gören um, dass alles an ihnen zu sagen scheint: Seht her, was ich für ein guter, neuer Vater bin! Wirklich, man möchte ihnen eine Rotte rüpelner Russen auf den Hals …”

Das Glück, Adorno zu lesen. – Mit ihm geht nicht alles, aber ohne ihn geht nichts.
Fehler macht gottlob auch er: So freut man sich über den Superlativ „blindeste”, den man dennoch lieber nicht lesen möchte.

Sprichwort: „Die Heuchelei ist ein Kompliment an die Moral.”

Hermann Bang ist tot.

Dienstag, 24. Januar 2012 – Achtuhrzweiundfünfzig, dreikommadrei. Wolken, Sonne, Schnupfen.

Sonntag nach Hamburg – Dammtor, Sternschanze, Neuer Pferdemarkt, Hotel Pacific, deprimierend, schnell wieder raus. Zu Fuß durch Sankt Pauli Richtung Fischmarkt. Unterwegs durch das Fenster einer Sportkneipe auf dem Riesenfernseher das Spiel HSV gegen den BVB. Der Zwischenstand 0:5. Kleiner Hunger, durch die Große Elbstraße, durch die Dunkelheit, durch den Fusselregen auf und ab. Überall nur solche Edelfressen, Hummerrestaurants etc. Dann aber doch eine verkommene Kaschemme, ich der einzige Gast, fettiger Wirt, schlechteste Frikadelle der Welt. Vor dem Golem steigt Ebermann aus dem Taxi, gebückt. Freue mich, Gremliza zu sehen, geht gleich um Rennräder (de Rosa, Gios), Wolfgang, Philipp, Dorothee, dann Katrin, mit der ich mir am 28. Januar 1985 im Treppenhaus der Goebenstraße 9 eine ganz unmetaphorische Kopfnuss geteilt habe, woran sie sich schrecklicherweise erinnert.
Dann diese Diskussion, kein Gespräch, sondern mehr eine Vorlesung mit verteilten Rollen, von Ebermann dominiert, klug, aber schrecklich closed, monologisch, frei von jeder Neugier. Hinter allem so eine „erledigende Gebärde”. So dass ich am Ende dumm dastehe, wofür ich wohl auch einbestellt war. Na.
Als Zugabe noch ein kurzer, tragikomischer Auftritt von Tomayer. Gremliza: „Es gibt kein richtiges Leben in Flaschen.”
Zum Glück dann munter am Tisch mit Piwitt und Ingrid. Als ich uns an der Theke einen Korn holen will, bescheidet mir der Schnöselkeeper, man habe nur Gin für 40 Euro das Glas, rückt dann immerhin einen bezahlbaren Wodka raus. Seltsam, dass sich – außer Gremliza – alle ohne Abschied verkrümeln.

Todestag von Alexander Kanoldt, einem der langweiligsten Vertreter der Neuen Sachlichkeit. 1932 der NSDAP beigetreten, ‘33 gleich Professor geworden. Hat seinem Werk nichts genützt, wurde trotzdem als „entartet” verboten.

Montag, 16. Januar 2012 – Vierzehnuhrdreizehn, einskommasechs und wunderschön.

Spiegel online: „Europas Krise, Deutschlands Segen – Die Euro-Zone driftet immer stärker auseinander. Italien und Spanien zahlen für ihre Anleihen hohe Zinsen, der Bundesregierung dagegen schenken Investoren sogar Geld, damit sie bei ihnen Schulden macht. Auch bei Export und Arbeitsmarkt gilt: Viele EU-Länder leiden, Deutschland profitiert.”

George Steiner auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass Europa zusammenbreche: „In seinem jetzigen Zustand ist das schon möglich. Doch irgendwie werden wir damit zurande kommen. Die Ironie ist, dass Deutschland wieder dominant werden könnte.”

Ingo Schulze über eine Lesung in Portugal: „Eine Frage aus dem Publikum ließ die gesamte freundlich-interessierte Atmosphäre von einem Moment auf den anderen kippen. Plötzlich waren wir nur noch Deutsche und Portugiesen, die sich feindlich gegenübersaßen. Die Frage war unschön – ob wir, gemeint war ich, ein Deutscher, nicht jetzt mit dem Euro das schafften, was wir damals mit unseren Panzern nicht geschafft hätten. Niemand aus dem Publikum widersprach.”

„Und ich habe Deutschland so geliebt.” – Das sollen die letzten Worte Mildred Harnacks gewesen sein, bevor sie am 16. Januar 1943 in Plötzensee unter dem Fallbeil starb.

Samstag, 14. Januar 2012 – Elfuhrdreiundvierzig, vierkommazwei. Ganz hübsch, der Himmel.

Lieber Götz,
es ist nett, dass Du Dich so eingängig mit meinen hingeworfenen Gedanken beschäftigst.
Freilich ist mir das schöne Jäger-Fischer-Hirte-Zitat seit Jugendtagen vertraut, nur: Es bezieht sich eben auf eine Gesellschaft, in der etwas erreicht ist, von dem wir weit entfernt sind. Nämlich auf „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist”. Und die „Kritik der kritischen Kritik” in der „Heiligen Familie” wird Dir doch auch nicht unbekannt sein.
Aber lass uns nicht mit Bibel-Zitaten fuchteln!
Es gibt vielleicht ein Defizit der Theorie aneignung, aber ein Theorie-Defizit sehe ich nicht. Es ist doch alles analysiert, es ist doch alles gesagt, was über die Zustände zu sagen ist – und bei Brecht, bei Peter Weiss, bei Piwitt und in Chotjewitz’ wunderbarem nachgelassenen Buch finden wir es auch auf beredteste Weise gesagt. Interpretiert ist die gegenwärtige Welt doch von allen Seiten – und „konkret” tut das jeden Monat aufs Neue. Langsam kommt es mir vor, als würden wir immer wieder versuchen, eine Kugel von allen Seiten zu beschreiben. Aber: Kommt es nicht irgendwann mal darauf an, diese Welt zu verändern?
Kernpunkt unserer Auseinandersetzung scheint mir Deine Vermutung zu sein, dass jede politische Praxis jenseits der Theorie – jedenfalls momentan – affirmativ wirke. Ist das so? Sind wir also, wollen wir unserer Sache nicht schaden, zum „reinen Denken” verurteilt?
Du schreibst: „Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.” Klingt einleuchtend, kann aber auch zu ganz und gar zynischen Schlussfolgerungen führen. Denn Dein Satz heißt ja auch: Soll der Kapitalismus doch den eigenen Karren ruhig noch tiefer in den Dreck fahren! Aber was, wenn nicht er auf dem Karren sitzt, sondern wir es sind, genau wie wir es auch sein könnten, die auf den Ästen sitzen, die er absägt. Können wir die Kriegs- und Hungertoten verantworten, die es geben wird, wenn die Äste fallen? Und was kommt dann? Nicht vielleicht doch aufs Neue die Barbarei?
Und wirkt nicht – folgt man Deiner Argumentation – Deine Arbeit im Gefängnis ebenfalls stabilisierend? Machst Du die Jungs nicht erst wieder „fit for life”, damit sie aufs Neue verwertbar werden? Nein, das glaube ich nicht. Heiner Müller meinte, es sei wirkungsvoller, neben einem Bettler einen Hummer zu verspeisen, als ihm etwas in den Hut zu werfen. Ich kann und will da nicht mitmachen; lieber werfe ich ihm etwas in den Hut. Es kann richtig sein, der arbeitslosen Nachbarin zu helfen, ihren Antrag auszufüllen. Es kann richtig sein, eine Kreuzung zu blockieren. Es kann richtig sein, einen Hafen zu besetzen. Es kann richtig sein, alle Rechner lahmzulegen. Es kann richtig sein, ein Camp vor der Europäischen Zentralbank zu errichten.
Es sieht mir nicht so aus, als würde der Kapitalismus sich in absehbarer Zeit selbst abschaffen. Stattdessen ist er dabei, die bürgerliche Demokratie abzuschaffen. Und mir wird dieser Tage zum ersten Mal klar, wie sehr ich entschlossen bin, das Meine zu tun, sie zu verteidigen. Gegen den Kapitalismus. Und mit oder gegen Occupy.

Todestag von Philipp Reis, Erfinder des größten Folterinstrumentes der Menschheitsgeschichte.

Freitag, 13. Januar 2012 – Siebenuhrneunundvierzig, dreikommaacht. Noch dunkel.

Von Götz Eisenberg eine Replik auf meine letzten Einträge:

«Matthias ist seit Tagen damit beschäftigt, auf der Geisterbahn seine Enttäuschung über die Entwicklung der Frankfurter Occupy-Bewegung, sein Scheitern in ihr und die dumm-bösen Attacken auf ihn zu verarbeiten. Gestern notiert er – wohl als Frage an sich selbst: „Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.“
Warum konnotiert er das Handwerk der Kritik so negativ – als wäre nicht auch Denken eine Gestalt von Praxis. „Kritik … ist das theoretische Leben der Revolution”, schrieb Hans-Jürgen Krahl in seinen Thesen Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates. Besonders in Zeiten revolutionärer Flaute besteht die Aufgabe der linken Theoretiker darin, sich auf den Hosenboden zu setzen und das Bestehende unter dem Aspekt seiner Veränderbarkeit zu analysieren, damit wir dann, wenn sich die Wirklichkeit wieder zum Gedanken drängt, imstande sind, den Massen zu interpretieren, was mit ihnen und uns los und was zu tun ist. Jeder Maulwurf hat seine unterirdischen Gefilde, hat der alte Marx gesagt und sich im Britischen Museum bei der Ausarbeitung seiner Kritik der politischen Ökonomie Furunkel in den Arsch gesessen. Im Übrigen träumte er ja von einer Gesellschaft, in der man im Laufe des Tages Jäger, Fischer, Hirte oder kritischer Kritiker sein kann und darf. Freilich kann die Rolle des Theoretikers mit einer Distanz zur Praxis verbunden sein – und ist in aller Regel damit verbunden – und für den Theoretiker eine gewisse Einsamkeit mit sich bringen. Aber das ist ja noch lange kein Autismus. Autismus ist ja der vollkommene Abbruch der Kommunikation und des Weltbezuges.
Wäre es nicht eine für Matthias/Jan Seghers angemessene Form der Praxis, wenn er sich im Medium seiner Lebenstätigkeit, also schreibend, mit den Praktiken der Hedgefonds-Manager und Spekulanten auseinandersetzen würde? Sein nächster Krimi könnte im Frankfurter Banken-Milieu spielen und auch die ganzen schrägen Vögel, denen er bei Occupy begegnet ist, könnten dort ihren Auftritt haben. Würde er der Occupy-Bewegung und ihren Anliegen auf diese Weise nicht mehr nützen als durch seine Präsenz im Camp?
Peter Brückner, der sich ständig einem Praxisterror ausgesetzt sah und aufgefordert wurde, doch endlich mal „was zu tun“, hat darauf stets gelassen geantwortet: „Diejenigen von uns, die das nach Lage der Dinge können, sollten sich gefälligst wieder zum kollektiven Theoretiker der Emanzipation entwickeln. Wie anders sollen wir lernen, zu interpretieren und zu intervenieren? Die theoretischen Köpfe sollen sich gefälligst an ihren Schreibtisch setzen, allerdings nicht nur an ihren Schreibtisch. Es wird ja auch auf der Straße erkannt, wie ja überhaupt die revolutionäre Theorie, die wir erarbeiten müssen, deutlich neben dem Systematischen auch ganz grob anti-systematische Züge tragen und auch in ihren Methoden praktisch sein wird.“
Wo ist denn unsere kritische Theorie der gegenwärtigen Gesellschaft, die das Leiden der Menschen an und in ihr beredt werden lässt und ihnen einen Weg aufzeigt, wie die Gesellschaft, in die sie eingespannt sind und die sich ihnen gegenüber als „alternativlos“ aufspreizt, geschichtsangemessen zu verändern wäre? Gegenstand unserer Kritik wären auch antreffbare Gestalten linker oder vermeintlich linker Praxis, die dem Typus der „realitätsgerechten Empörung“ angehören und letztlich nur tiefer ins Verhängnis hineinführen oder gegen die gegenwärtige Entwicklungsstufe des Kapitalismus dessen nächst höhere propagieren. Unser Interesse kann nicht sein, den Kapitalismus daran zu hindern, die Äste abzusägen, auf denen er sitzt.
Slavoj Zizek hat im Gespräch mit der TAZ die vorherrschende linke Praxis mit dem Verhalten eines Bauern verglichen, der mit seiner Frau unterwegs ist und auf der Straße einem Reiter begegnet. Dieser teilt dem Bauern mit, dass er nun dessen Frau vergewaltigen werde. Da die Straße schmutzig ist, soll der Bauer während der Vergewaltigung die Hoden des Reiters halten, damit sie nicht mit dem Straßenschmutz in Berührung kommen. Nachdem der Reiter seine Vergewaltigung beendet hat und weiter geritten ist, lacht der Bauer. Seine gedemütigte Frau ist empört und stellt ihren Mann zur Rede. Dieser entgegnet: „Ich habe ihm ein Schnippchen geschlagen. Ich habe seine Hoden gar nicht gehalten und nun sind sie schmutzig!“»

Am 13. Januar 1945, zwei Wochen vor der Befreiung, starb in Auschwitz-Birkenau der Berliner Arzt Victor Aronstein.

Mittwoch, 11. Januar 2012 – Neunuhrneunzehn, fünfkommsieben. Bedeckt. Gut geschlafen. Trainer.

Oder verzichtet man gleich ganz auf jede politische Praxis? Dann bliebe man kritischer Kritiker. Hätte immer Recht. Und wäre Autist.

Im Archiv der taz ein Porträt über Hadayattullah Hübsch, der am 4. Januar vorigen Jahres gestorben ist. Dort wird ein Brief aus dem Jahr 1979 zitiert, in dem der FAZ-Redakteur Erich Helmensdorfer seinem freien Mitarbeiter nach acht Jahren die Zusammenarbeit aufkündigt: „Ich halte es nicht für möglich, dass die FAZ einen freiberuflichen Mitarbeiter im Namen der Zeitung beschäftigt und damit in der Öffentlichkeit auftreten lässt, der in persönlichem Habitus und Umgang eine außergewöhnliche, jeglichen bürgerlichen Rahmen des Abendlands sprengende Erscheinung ist.”

Neunter Todestag von Mickey Finn (T. Rex).

Dienstag, 10. Januar 2012 – Elfuhrvierundzwanzig, achtkommaeins. Bedeckt. Westwind.

Dennoch, durch bin ich mit der Sache nicht. Denn schließlich, wie lange hat man gewartet, dass sich etwas rührt? Und das am Freitag Geschilderte ist ja auch nur ein Aspekt der Sache. Gibt ja eben doch eine ganze Menge kluger, wacher, einsatzfreudiger Leute in dieser Bewegung. Muss man nicht diesen helfen, sich durchzusetzen?
Oder setzen wir gar nicht mehr auf soziale Bewegungen? Aber was dann? Parteiarbeit? Gewerkschaftsarbeit? Bildungsarbeit? Publizistik? Wieder ein Marsch durch die Institutionen? Stadtguerilla?
Wenn ich doch nur aufhören könnte, die Welt retten zu wollen. Aber einmal zum Widerspruch entschieden, hat man wohl nicht mehr die Wahl.
Bei jeder Berührung mit dem sogenannten Volk dieses Frösteln. Bei jedem erschöpften Rückzug das Gefühl zu kapitulieren.

Todestag von Georg Forster, dem es ähnlich ging.

Freitag, 6. Januar 2012 – Sechskommadrei. Wolkig.

WS ist ein junger Mann, der seit Anfang Oktober, also von Beginn an, bei Occupy:Frankfurt aktiv ist. Schnell galt er den Medien als „das Gesicht” der Bewegung, oft wurde er als deren „Sprecher” bezeichnet. Da man bei Occupy:Frankfurt aber nicht den einen Repräsentanten der Bewegung wollte, wurde WS des öfteren ermahnt, nicht eigenmächtig Interviews zu geben und nicht im Namen aller zu sprechen.
Hinzu kam, dass WS immer wieder mit dem antisemitischen Zeitgeist-Movement in Verbindung gebracht wurde, was sich in Teilen der Öffentlichkeit nicht gut macht.
Allerdings: Der junge Mann mochte die Mikrofone allzu gerne, als dass er von ihnen hätte ablassen wollen. Am 27. Dezember war dann auf der Internet-Seite von Occupy:Frankfurt eine Presseerklärung zu lesen, dass man sich von WS distanziere.
Indes war diese Distanzierung nicht allzu beliebt, denn schließlich sei man eine offene Bewegung, an der jeder teilhaben, wo jeder alles sagen dürfe. So ließ man die Erklärung zwar auf der Internet-Seite stehen, verzichtete aber auf deren Umsetzung. Nur wenige Tage später, am 31. Dezember, war WS bei der Demonstration und der Silvester-Party von Occupy:Frankfurt dabei – als „Chef vom Dienst”, wie ein Besucher bemerkte. WS trat als Redner bei der Demonstration auf, und – so steht es im Forum der Bewegung – „die Masse hat geklatscht”. Auf der Party betätigte sich der junge Mann als DJ und sprach zum „deutschen Volk”.
Wer nun – wie der Autor dieser Zeilen – in besagtem Forum kritisch nachfragte, dem konnte es passieren, dass er der Paranoia bezichtigt oder als „Spalter”, gar als „Untermensch” mit einem „genetischen Defekt” bezeichnet wurde.
Heute Nacht nun hat sich WS selbst in die Diskussion eingeschaltet und zu den Vorwürfen Stellung genommen: „Antisemitismus: Schwachsinn, damit ,zieht man uns Deutsche auf’. In anderen Ländern lacht man uns dafür schon aus, hier darf ja keiner mehr den Mund irgendjemandem gegenüber aufmachen und es hagelt immer direkt Antisemitismusvorwürfe bei den kleinsten Anzeichen irgendeiner hypothetischen Verbindung zu eventuellen Gedanken im Unbewussten der betroffenen Person. PS: Zu sagen, dass ein das Sich-Aufhängen-an-einem-Wort falsch ist, heißt nicht, dass man irgendetwas gutheißt. Ja, ich habe das Deutsche Volk angesprochen.”
In einem anderen seiner nächtlichen Einträge platziert WS ein paar Links zu Beiträgen, die sein Wohlwollen finden. Einer dieser Links verweist auf einen Song der Musikgruppe „Crüxshadows”, der auf „Gedanken und Ideen der Tempelritter” basiert. Im Text findet sich die Aufforderung: „Sei dieser Welt ein perfekter Ritter / Selbst wenn es dein Leben bedeutet”.
War nicht kürzlich schon einmal von jemandem zu lesen, der sich als moderner Tempelritter versteht? Stimmt, sein Name ist Anders Breivik.
Hätte ich das Tagebuch meiner Erfahrungen mit Occupy:Frankfurt geführt, es wäre das Tagebuch einer Ernüchterung – zuletzt: des Entsetzens – geworden.

Heute vor 71 Jahren starb Franz Hessel in Sanary-sur-Mer an den Folgen seiner Haft im Lager Les Milles.

Dienstag, 3. Januar 2012 – Vierzehnuhrzwei, sechskommadrei. Kopf im Nebel. Nebel im Kopf.

Ein Blick auf den Terminkalender zeigt, wie vielfältig die Aufgaben des Bundespräsidenten im Inland sind. Neben den „amtlichen” Funktionen, die sich aus den Vorschriften des Grundgesetzes ergeben, obliegen ihm als Staatsoberhaupt Aufgaben, die sich unter dem Begriff der „Staatspflege” zusammenfassen lassen.
Der Bundespräsident ist „lebendiges Symbol” des Staates. Über den Parteien stehend, wirkt er in Reden, Ansprachen, Gesprächen, durch Schirmherrschaften und andere Initiativen integrierend, moderierend und motivierend.

Hübsch formuliert. Diese Sätze habe ich gerade auf der Seite des Bundespräsidenten gefunden. Mal sehen, ob ich sie online bekomme, bevor der Amtsinhaber zurücktritt.

Im zweiten Teil wird „Jane Eyre” dann streckenweise doch recht schmockig, romantisch überspannt. Aber egal, jetzt stehe ich es durch.

Passt: Todestag der Schauspielerin Rachel, die sich Charlotte Bronte zum Vorbild ihrer Vashti in dem Roman „Villette” wählte.

Dienstag, 27. Dezember 2011 – Elfuhrsieben, siebenkommazwei. Alles öde, alles grau, alles still.

Der Baum ist geschmückt. Im Radio ist ein Ros entsprungen. Die Glocken läuten zum Kirchgang. Das Nordend begrüßt einander zwischen den Bänken. Feistes Lächeln, brünstiges Gestöckel. Man lässt die Plagen gewähren. So unruhig wie dieses Jahr … man versteht kaum ein Wort. Adeste fidelis, Krippenspiel, sein Name ist Wunderbar, der Herr sei mit Euch. Brot für die Welt. Der Pfarrer lächelt, reicht uns die Hand. Die Autobahn ist trocken und frei. Seid ihr gut durchgekommen? Frohe Weihnachten. Der Rote schmeckt noch besser als im vorigen … Kinder, bin ich müde, ich glaube, es wird Zeit. Gut geschlafen? Selbst die Brust ist schön saftig geblieben. Tässchen Kaffee geht aber noch. Das war’s dann fast schon wieder. Zum Glück werden die Tage jetzt länger. Kommt gut heim, fahrt vorsichtig. Und meldet euch mal.

„Jane Eyre” – was für ein hinreißendes Buch. „Lady Ingram hielt es für geraten, die Hände zu ringen, und rang sie ausgiebig …”

Kay Boyle ist tot.

Samstag, 24. Dezember 2011 – Zwölfuhrdrei, sechskommasechs. Mächtig Sonne zwischen den Wolken. Wird Frühling.

Gestern Morgen vor dem Supermarkt: „Jungä Mann, isch waaß ned, ob Sie sisch erinnern könne. Mir hatte ma’n Außenministä, der hieß Fischä. Diesä Fischä war frühä die größte Sau im Frankfurtä Taxigewerbe gewese. Der hat immä am Funk gelauert und geguckt, ob er nem annän Fahrä die Kunde abfische kann, der Fischä. Einma hab ischn erwischt, wie er in Sachsehause in de Bindingstraß grad zwei Fahrgäst von mir einlade wollt. Isch habn gejahcht, dass er Schuh und Strümp verlorn hat. Die Fischä-Sau, die dreckisch.”

Ich weiß nicht, wie viele Leute ich inzwischen kennengelernt habe, die Joschka Fischer in seiner Frankfurter Zeit gekannt haben. Es war keiner darunter, der etwas Freundliches über ihn gesagt hätte.

Tot ist Sergei Stepanowitsch Tschachotin, der Erfinder der drei Pfeile.

Donnerstag, 22. Dezember 2011 – Siebzehnuhrachtzehn, sechskomma- null. Sprühregen. Dunkel.

Gestern, in der Stettenstraße mir gegenüber sitzend, rezitierte Michael Quast über die Gans hinweg diesen Kommentar zur aktuellen Finanzkrise:

Unser Schuldbuch sei vernichtet
Unbezahlt die ganze Welt!
Die verlieren nicht ihr Geld
Die das Unglück angerichtet!
Friedrich Stoltze, 1816-1891

Dave Dudley ist tot.

Montag, 19. Dezember 2011 – Zwölfuhrfünfzig, zweikommaeins. Heute Nacht erster Schnee.

Gestern Nachmittag kleines Glück in der Basilika von Ilbenstadt – von Martin Lücker beschert. Fröhlicher, heiterer habe ich das Esurientes aus Bachs Magnificat noch nie gehört als mit diesen Musikern und unter diesem Dirigat. – „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen” – Und die Mezzosopranistin Alison Browner sah aus, wie ich mir Mary Poppins vorstelle. Warum eigentlich arbeiten, wenn man stattdessen solche Musik hören kann? Am Ausgang treffe ich dann Wolfgang R., den revolutionären Postboten, der seinerzeit keine Briefe mehr austragen durfte, weil er nicht Gewähr bot, jederzeit für diese freiheitliche undsoweiter … na, Sie wissen schon!

Im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine ganzseitige Anzeige mit dem Slogan: „Streame alle Musik der Welt wireless in jeden Raum”. Grübele, welche Strafe für einen solchen Satz wohl angemessen wäre?

Lektüre: Jane Eyre

Gerade lese ich, dass die wunderbare Cesaria Evora am Samstag gestorben ist.

Dienstag, 13. Dezember 2011 – Siebenuhrsechsundfüfnzig, fünfkomma- eins. Wach seit halbfünf. Wieder in der Albaret gelesen.

Heute mal nur ein Link: hier

Und noch einer: hier

Vor zwei Jahren starb Lester William Polsfuss, genannt Les Paul.

Montag, 12. Dezember 2011 – Elfuhrvier, siebenkommavier. Graue, schwere Wolken. Regen.

Am Samstag schüttere, aber gut gestimmte Demonstration durch die Innenstadt. Als es ans Händchenhalten geht, schere ich rasch aus, ist mir zu touchy. Überhaupt, die Stammesfolklore dieser Bewegung ist nicht mein Ding – muss ja auch nicht. Dann zwei schöne Stunden im Camp. Eine solche Ausnahmesituation, erzählt mir einer, habe keiner der Bewohner zuvor erlebt. Das Camp sei wie ein Fleischwolf, psychisch, physisch, emotional extrem aufreibend. Ein anderer klagt über die sanitären und hygienischen Bedingungen. Untragbar, sagt er und zeigt seine verbundene Hand. Er hat sich eine Blutvergiftung zugezogen. Später wird er um ein paar Euro bitten, um sich ein Ticket für die Straßenbahn kaufen zu können. Die Schmerzen sind stärker geworden, er will in die Notaufnahme der Uniklinik … Am Sonntag soll die große Versammlung sein, wo entschieden wird, ob und wie es mit dem Camp weitergeht. Werdet ihr durchhalten?, frage ich. Schulterzucken. Mal sehen. Alle sind am Rand ihrer Kräfte. Ausgang offen.
Gestern auf die Autobahn nach Kassel. Papas fröhliche Sause im Fasanenhof. Abends erfüllt und erschöpft retour.
Heute früh gleich ins Netz. Gute Nachricht: das Camp hält durch. Es soll, hat man beschlossen, ein wenig straffer, ein bisschen geordneter zugehen. „Mehr Protest, weniger Urlaub!” sei die Devise. Gut so. Erleichtert.
Es gibt so viele Gründe, Distanz zu dieser Bewegung zu halten. Warum bekomme ich dann sofort ein schlechtes Gewissen, wenn ich mich ein paar Tage nicht im Camp habe blicken lassen?

Janácek ist tot.

Freitag, 9. Dezember 2011 – Neunuhrzweiunddreißig, siebenkommafünf. Nieselig. Westwind.

Und was, wenn wir weiter gelebt hätten, ohne diese Musik zu kennen? – Wären wir schön doof gewesen, oder? – Gestern Abend Daniel Kahn and The Painted Birds auf der Bühne der Brotfabrik. Klezmer, Irish Folk, Walzer, Märsche, Latin Groove, jiddisch, englisch, deutsch – alles vermanscht und vermischt. Das schnurrt und grölt und röhrt und lacht und stampft und schleicht und schwingt. Sehr charmant ist das, sehr entschlossen, wütend, lässig, zärtlich. Irgendwie kommen mir dieser Daniel Kahn und seine Musik … ja, wie kommt mir das eigentlich vor? Ziemlich kommunistisch. Doch, ja, ziemlich lustig und entspannt kommunistisch. Nee, nee, Leute, das ist schon das Beste, was es im Moment zu hören gibt. Zum Schluss tritt der Sänger an den Rand der Bühne, lächelt, hebt den Arm, ballt die Faust und fordert das Publikum auf: „Steht weiter auf verlorenem Posten!”
(Am 5. Januar 2012 wird hr2-kultur um 21.30 Uhr die Aufzeichnung eines Konzertes mit Daniel Kahn and The Painted Birds senden).

Heute vor einhundert Jahren wurde Ödön von Horvath geboren. Am 1. Juni 1938 hat ihn im Pariser Exil ein herabstürzender Ast auf den Champs-Élysées erschlagen. Und eben bringt hr2-kultur das schöne Gedicht, das man in der Jackentasche des Toten fand (Überhaupt ist das meiste Angenehme, das einem in dieser Region hier widerfährt, mit hr2-kultur verbunden – dass es mal gesagt ist).

Und die Leute werden sagen
In fernen blauen Tagen
Wird es einmal recht
Was falsch ist und was echt.
Was falsch ist, wird verkommen
Obwohl es heute regiert,
Was echt ist, das soll kommen,
Obwohl es heute krepiert.

Donnerstag, 8. Dezember 2011 – Elfuhrvierundvierzig, fünfkommavier. Leicht bewölkt, Wind aus Südwesten.

Gestern Abend lief in „kulturzeit” die 12. Folge von Michael Bubacks sogenanntem Stammheim-Tagebuch, in dem es um den Prozess gegen Verena Becker und um den Versuch von Buback junior geht, Licht in das Dunkel um den Mord an seinem Vater zu bringen. Nun könnte ein filmisches Tagebuch in vieler Hinsicht reizvoll sein, wozu es allerdings eines reflektierten Umgangs mit einer solchen Form bedürfte. Stattdessen sehen wir das Ehepaar Buback im simulierten Zwiegespräch durch den herbstlichen Wald bei Göttingen flanieren, wir sehen Buback vor Gericht, in der Kantine und im Theater. Wir hören ihn und seine Frau über den Lauf der Zeit und ungerechte Behandlung lamentieren und erleben, wie andere ihnen zustimmen. Schließlich umarmt sich das Paar noch einmal im sonnendurchfluteten Wald und freut sich darüber, dass man das alles manchmal sogar vergessen könne. Ein Tagebuch ist das nicht. Mit seriösem oder gar Qualitätsjournalismus hat es auch nichts zu tun, mit Aufklärung schon überhaupt nicht. Dagegen viel mit einer Werbung für Protefix-Haftcreme.

Rubén González ist tot.

Donnerstag, 1. Dezember 2011 – Neunuhrfünfundzwanzig, dreikomma- fünf. Grau, aber lau. Im November neuer Besucherrekord in der Geisterbahn.

Das Interview mit Karl Theodor zu Guttenberg ist Anfang der Woche in Buchform erschienen. Einer der ersten Rezensenten bei amazon wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es im Berchtesgadener Land an der Graflhöhe ein Ausflugslokal gibt, das den schönen Namen „Windbeutelbaron” trägt. Allerdings wurde dieser Kommentar, wie so viele andere muntere Verrisse der letzten Tage, inzwischen von der amazon-Redaktion gelöscht.

Heute in der Süddeutschen Zeitung eine Reportage über Trinkhallen im Ruhrgebiet, die andernorts Büdchen, Kioske, Wasserhäuschen heißen. Dort wird von einem typischen Dialog vor Ort berichtet:
Wat krisse?
Tüte Lakritz.
Wie gehts?
Muss.

Ein weiterer Höhepunkt der Volksdichtung stammt aus Martin Lückers westfälischem Poesiealbum: Durch den Wald, da fliegt ein Vogel: Dies wünscht Dich Deine Tante.

Am 1.Dezember 1948 starb gegen zwei Uhr morgens im australischen Adelaide ein unbekannter Mann an einem unbekannten Gift. Herkunft und Identität des so genannten Somerton Man konnten bis heute nicht geklärt werden.

Donnerstag, 24. November 2011 – Elfuhrachtundfünfzig, nullkommaeins. Nebel. Nass.

Unser Dorf soll schöner werden? Es ist (fast) vollbracht! Dazu die Meldung des Tages aus der Süddeutschen Zeitung: „Die Stadt Frankfurt will nach dem Umzug der Europäischen Zentralbank die berühmte Euro-Skulptur des Künstlers Ottmar Hörl vor dem aktuellen Bank-Hochhaus wegwerfen. Die Skulptur besteht aus einem blauen Euro-Zeichen mit gelben Sternen und ist ein Geschenk des Künstlers an die Bank. Ein Sprecher des Geldhauses deutete an, dass dieses kein gesteigertes Interesse mehr an dem Kunstwerk hat: ,Manche Geschenke mag man eher als andere.’”
Da fragt man sich, warum die Banker ausgerechnet jetzt beginnen, mit ihrem Goldenen Kalb zu fremdeln und ob man sie so einfach davonkommen lassen sollte? Oder ob es nicht besser wäre, den Klotz mit grauem Spritzputz zu versehen und ihn als Mahnmal – wie Oliver Reese eben vorschlug – in ein Museum zu verfrachten.

Heute Nacht hat sich der Sänger Ludwig Hirsch („Komm, großer schwarzer Vogel”) aus einem Fenster des Wiener Wilhelminenspitals zu Tode gestürzt.

Montag, 21. November 2011 – Siebenuhrsechsundvierzig, einskommasechs. So ein zarter, lachsfarbener Streif über der Dachbegrünung.

Sinne immer noch darüber nach, was Charlotte, Adrian und Atilla am Freitag auf der Bühne eigentlich veranstaltet haben, um den Saal dermaßen zu verhexen. Mann, war da Strom in der Luft …

Es gab einige dumme Nachrufe auf Degenhardt. Die dümmsten erschienen in der jungen welt und im Neuen Deutschland, an Dummheit nur noch übertroffen von jenem in der UZ, der Zeitung der DKP. So viel Denkfaulheit ist von Niedertracht kaum noch zu unterscheiden.

Durch mit Eva Demskis „Rheingau”-Büchlein. Glitzernd, schwebend, aufs Feinste ausbalanciert. Lange her, dass man so beglückende, so anregende Reisebilder lesen konnte. Und dann kommt Jörg und schlägt vor, doch mal nach Johannisberg ins Weingut Trenz zu fahren, wo es Dreierlei vom Handkäs …

Heute vor einem Jahr starb Luis Corvalán, den ich einmal von weitem gesehen habe.

Mittwoch, 16. November 2011 – Elfuhrelf, nullkommaein Grad. Leicht bewölkt.

Gestern Abend gegen Mitternacht, als ich alles hinter mir gelassen hatte, die Nibelungen, den Herl und die Demski, die freundliche Wirtin mit ihren traurigen Geschichten aus Griechenland, die Bürgermeisterin mit ihrem Kohlenkastenlachen und die Nobelpreisträgerin, die so dünn und verloren am Katzentisch rauchte und so offenkundig gar nicht fassen wollte, dass wir einfach munter weiter quatschten, wo doch sie, keine drei Meter von uns entfernt … Als das alles hinter mir lag, nur die Gedanken an den toten Degenhardt nicht, suchte ich noch eine halbe Stunde Ablenkung in dem grünen Büchlein, das Eva uns zugesteckt hatte. Und fand dort stattdessen Trost in einer Prosa, die so luftig, so beherzt, so traumwandlerisch vom Rhein, vom Wein, von den Katzen, den Gänsen und Mädchen erzählt, dass ich gleich auch noch das schönste aller Rheinlieder hören wollte: „Am Strom und bei der Lorelei”.

Saramago hat Geburtstag.

Dienstag, 15. November 2011 – Achtuhrzweiundfünfzig, minus einkommanull Grad. Wieder Nebel.

Vor diesem Moment habe ich seit Jahren Angst gehabt. Der Degenhardt ist tot.

Mittwoch, 9. November 2011 – Zehnuhrneun, vierkommavier. Grau, Ostwind, neblig.

Am Abend mit der U4 in die Stadt, vergesse an der Konstabler auszusteigen, fahre weiter bis zum Willy-Brandt-Platz, ein Gang durchs dunkle Camp. Um die Feuertonne eine Gruppe Roma, viele Obdachlose. Mir gefällt das. Es war Joss Fritz, der die Bettlerbanden Süddeutschlands zur Unterstützung der aufständischen Bauern organisiert hat.
Zu Fuß zum Club Voltaire, wo ich sicher zwanzig Jahre nicht mehr war. Ein Biotop aus den Sechzigern. Klaus Bittermann hatte eingeladen zur Titanic Sneak Preview, zu der er als auswärtiger „Stargast” gebeten war. Vor der Tür steht Jürgen Roth und sagt: „Bittermann ist krank. Ich bin heute Bittermann”.
Aber erstmal kommen die Titanic-Leute: Das Hauptobjekt ist Occupy; ist halt am einfachsten. Das Meiste ganz treffend, ganz fix. Trotzdem so eine Atmosphäre irgendwo zwischen Stefan Raab und einer intelligenten Schülerzeitung. Ziemlich verschwitzt. Nicht mein Milieu, aber muss ja auch nicht. Jürgen hat es schwer, liest Ausschnitte aus dem Chotjewitz-Buch – ein Autor, den in diesem lachwilligen Publikum kaum noch jemand kennt.
„Sich kaputtlachen” bekommt in solcher Umgebung eine neue, deprimierende Bedeutung.
Immerhin verspricht man mir die gesammelten „Titanic”-Kolumnen von Boehlich, womit es sich doch gelohnt hätte, aus dem Haus zu gehen.

Am 9. November 1848 wurde um 9 Uhr morgens Robert Blum am Jägerhaus in der Brigittenau bei Wien erschossen. Priestergebet und Augenbinde hatte er abgelehnt. „Alles, was ich empfinde, rinnt in Tränen dahin.”

Dienstag, 8. November 2011 – Achtuhrvier, fünfkommaeins. Hell.

Am Wochenende wurden in der Frankfurter Oper die Faust-Theaterpreise verliehen. Gegenüber vom Theater steht das Hochhaus der Europäischen Zentralbank, davor die große Skulptur des Euro-Symbols und drumherum lagern die Occupy-Leute in ihren Zelten. Oliver Reese, Intendant des Frankfurter Schauspiels zu „Kulturzeit”: „Ich bin erstmal ganz froh, dass das scheußlichste Pseudokunstwerk der Stadt, dieser abartige Groß-Euro von dem Möchtegern-Künstler Ottmar Hörl, dass dieses Ding endlich seine optische Rechtfertigung bekommt. Ab jetzt wird man es sich nicht mehr ohne die Zelte und ohne die Transparente vorstellen können. Und das macht es auf einmal zum Gegenstand einer Performancekunst, womit man gar nicht mehr rechnen durfte”.
So dankbar ich Ihnen bin, verehrter Oliver Reese, nicht mehr allein zu sein in meinem Feldzug gegen dieses Schandmal unserer Stadt, schlage ich doch vor, dass wir uns nicht zufrieden geben mit seiner optischen Infragestellung, sondern stattdessen eines Nachts im Schutze der Dunkelheit, jeder mit einer Stange Dynamit in der Hand …

Tot ist der Zahnarzt und Revolverheld Doc Holliday

Donnerstag, 3. November 2011 – Siebenuhrvier, achtkommaneun. Im Osten über den Dächern ein langer Streifen blau und rot und pink und grau und violett …

Bin zum zweiten Mal in den Erinnerungen von Chotjewitz versunken und lese ganze Passagen wie zum ersten Mal. Ich hatte sie bei der ersten Lektüre nicht aufgenommen, weil hier jede Seite so anregend ist, dass man dauernd freudig ins Sinnieren kommt oder aufspringen möchte, um einen vorher nie gedachten Gedanken zu notieren. Unendlich viele Überraschungen, Erfrischungen stecken in diesem Text. Und man ahnt, dass seine außerordentliche Wirkung auch darauf beruht, dass es eben zunächst eine mündliche Erzählung war, deren Abschrift allerdings von Jürgen Roth zu einem so federnden, luftigen, offenen Buch gemacht wurde, dass man meint, den Autor sprechen zu hören und das einem, egal, wo man es aufschlägt, schon seiner Form wegen gute Laune bereitet. Ein armer Tropf, wer meint, auf dieses Vergnügen verzichten zu können.

Sonst? Steuererklärung abgegeben. Mit Occupy demonstriert. Internationale gesungen. Die Freitreppe der Commerzbank besetzt. Die erste Hälfte der „Geisterbahn” korrigiert. Mit dem Wintertraining begonnen …

Am 3. November 1783 wurde der Straßenräuber John Austin als letzter Verurteilter am Galgen von Tyburn gehängt. Tyburn hatte bis dahin sechs Jahrhunderte lang als öffentliche Hinrichtungsstätte der City of London gedient. Die Redewendung „You’ll dance the Tyburn jig” hieß: Du wirst am Galgen zappeln.

Termine

Samstag, 29. Oktober, 12 Uhr, Rathenau-Platz, Frankfurt, Demonstration OCCUPY:FRANKFURT

Freitag, 18. November, 20 Uhr, DGB Haus Frankfurt, Ein Konzert für OCCUPY:FRANKFURT mit Jan Seghers und Atilla Korap (Ein kleiner Abend Glück) und Komaläufer (Musik für die kommende Zeit)

Freitag, 28. Oktober 2011 – Sechsuhrdrei, vierkommazwei. Dunkel. Das erste Mal auf der Rolle gesessen, mühsam, was auch sonst. Heute zweiter Versuch.

Gestern weiter mit der Steuererklärung. Zwischendurch anderthalb Seiten für das Pressematerial des ZDF geschrieben – “Die Braut im Schnee” wird am 9. Januar um 20.15 Uhr ausgestrahlt. Angenehmes Hin und Her wegen der Flyer für unser Konzert im DGB-Haus. Abends nach Gelnhausen in die Marienkirche, wo Heiner und Sarkowicz ihre Grimmelshausen-Biografie vorstellen. Kurz ins Romanische Haus mit Alf, der erzählt, dass Gelnhausen von den Nazis zur „ersten judenfreien Stadt” Deutschlands erklärt worden sei. Döneria in der Frankfurter Str. 22, Autobahn, heim, Bett.

Schönste Lektüre des Tages: Der Erfahrungsbericht einer Bewohnerin des Frankfurter Occupy-Camps. So hat man gedacht, dass es sein würde.

Kann denn das sein – schon der fünfte Todestag von Peter Gingold?

Dienstag, 25. Oktober 2011 – Achtuhracht, achtkommavier. Himmel: blau. Uund Wolken mit hübschen Lichträndern.

Die Offenheit der Occupy-Bewegung ist momentan ihre Qualität. Weil sie Projektionsfläche vieler Unzufriedenheiten ist, hat sie eine Dynamik entwickelt wie kaum eine andere Bewegung der letzten dreißig Jahre. Erstaunlich ist das, da es in ihr ja nicht um Partikularinteressen geht – wie um die Verhinderung einer Startbahn, eines Atomkraftwerks oder eines unterirdischen Bahnhofs -, da sie stattdessen ja auf das unsichtbare Herz des Systems zielt, da sie die Eigentumsfrage zu ihrer zentralen macht. Sie nennt sich mit einer gewissen Keckheit „revolutionär”, erklärt die Überwindung des Kapitalismus zu ihrem Ziel und schreckt damit erstaunlicherweise weder die christliche Buchhändlerin ab, noch den esoterischen Chemiestudenten oder den pensionierten Wirtschaftskundelehrer. Die Offenheit der Bewegung ist keine taktische, sondern eine faktische. Ausgeschlossen werden von den Aktivisten lediglich rassistische, nationalistische, antisemitische, sexistische und homophobe Inhalte. So nennt sich die Bewegung zwar nicht links, kann aber nicht anders genannt werden. Wer sich an ihr beteiligt, bestimmt ihre Richtung mit. Es gibt für einen Linken im Moment keine wirklich guten Gründe, sie nicht zu begrüßen, zu unterstützen und durch eigene Erfahrungen und Einsichten zu stärken.
Freilich: Die Occupy-Bewegung ist so bunt, so offen, dass in ihr jede Dummheit zu Wort kommen kann und auch zu Wort kommt. Anstatt nun korrigierend einzugreifen, nehmen einige linke Kritiker solche Dummheiten zum Anlass, sich wortreich zu distanzieren. Mehr noch: Sie suchen geradezu nach Fehlern und nach Verstößen gegen das Reinheitsgebot der eigenen Lehre, um unter sich bleiben zu können und ihre Einsichten auch diesmal wieder nicht in politische Praxis münden lassen zu müssen. Bei manchen dieser linken Kritiker hat man den Eindruck, dass ihr gedanklicher Aufwand allein das Ziel hat, die eigene politische Praxis zu verhindern. Man darf noch unentschieden sein, ob es sich hier nur um akademisches Muckertum oder doch um eine Form von Feigheit handelt.
So offen sie jetzt noch ist, wird und kann die Occupy-Bewegung nicht bleiben. Was momentan ihre Stärke ist, würde sonst zu ihrer Schwäche werden.

Tot ist Geoffrey Chaucer.

Mittwoch, 19. Oktober 2010 – Fünfuhrfünfundfünfzig, sechskommaacht. Leichter Regen.

Gestern Nachmittag erst zu Meister Gepetto, der ganz aufgeräumt wirkt, dann weiter in die Stadt. Direkt unter dem Euro-Symbol gegenüber vom Theater campen seit Samstag die Occupy-Leute. Sie haben ein Schild aufgestellt: „Wir sind die neuen Nachbarn”. Zwei junge Männer stehen in der Feldküche, geben Kaffee und Müsli aus. Von weiter hinten kommt Musik, Gitarre und Bongos. Ein Feuer blakt in der Tonne. Schon erstaunlich, was sich hier innerhalb nicht mal einer Woche getan hat. Unentwegt kommen ganz unterschiedliche Menschen vorbei, um Spenden zu bringen, Geld, Kleidung, Lebensmittel. Und um zu reden, zu gucken, zu hören, um etwas Demokratie zu schnuppern. Wie offen, zuversichtlich, freundlich, neugierig man hier ist. Die junge Frau hinter dem Infostand sagt den Satz, den man gerne von ihr hört: Sie habe in den letzten fünf Tagen mehr gelernt als in den bisherigen fünf Semestern ihres Politik-Studiums. Und dass sie dauernd merke, wie viel sie noch lernen muss. Sie erzählt, dass immer wieder Angestellte aus den umliegenden Banken vorbeikommen, die den Protestierern zu ihren Aktionen gratulieren und dabei bekennen, dass sie selbst nicht mehr weiter wissen. Da steigen also diese bedrängten, grauen, gut verdienenden Kreaturen aus ihren Türmen herab und wärmen sich am Anblick ihrer ungezähmten Gegner. Wäre es nicht eine Illusion, so könnte man vermuten: Das System zerbröselt von innen. Und dieses zottelige Zeltlager wird zum Gegenentwurf: Seht ihr, so geht es auch! – Ach, die Tage der Commune …
Dann klingelt das Handy der jungen Frau, sie entschuldigt sich und nimmt den Anruf entgegen: „Hallo, Papa. Ja, ich steh gerade am Infostand und erklär ein paar Leuten, was wir hier machen. Klar war ich heute Morgen in der Uni; ich bin doch eine fleißige Studentin. Hier ist alles gut. Bisschen windig halt. Ja, wenn du ein paar Seile mitbringen könntest, das wäre prima. Bis später!”

Occupy Frankfurt!

Heute vor 15 Jahren haben Spürhunde der Polizei die Leiche Jakub Fiszmans in einem Waldstück bei Reckenroth im Taunus entdeckt.

Montag, 17. Oktober 2010 – Elfuhrzweiunddreißig, achtkommafünf. Grau.

Kaum dreht man der Welt den Rücken zu, schon spielt sie aufs Hübscheste verrückt.
Am Freitag mit Christiane und Jürgen nach Verdun – Fort Douaumont, Toter Mann, Höhe 304. Weiter ins Burgund. Und während wir uns in Accolay bekochen lassen, in Vezelay erleuchtet werden und in Fontenay den Hüftschwung der Madonna bewundern, wird in den USA der Klassenkrieg ausgerufen, marschieren in Rom 200.000 Regierungsgegner auf, brennt in Frankfurt vor dem Euro-Symbol ein Lagerfeuer, werden die Kreditinstitute von führenden Politikern zu Staatsfeinden erklärt und der Deutsche-Bank-Chef vom Acker- zum Buhmann umbenannt. Und die FDP wird als verfassungsfeindliche Organisation verboten. Na, das nun noch nicht … Aber schon lustig, wie jetzt alle versuchen, ihren Hintern ins Trockene zu bekommen.

Willi Eichler ist tot.

Donnerstag, 13. Oktober 2011 – Zwölfuhrsechsundzwanzig, elfkommasieben. Wieder Sonne.

Gestern mit Grusche und Jan Weiler im Taxi aus dem Holbein zur Schirn. Wir sind zu spät, C. wartet schon, ist aber nicht böse. Am Eingang gleich Feridun, will nach draußen. Warum? Zeigt mir die hohle Hand: Zigarette und Feuerzeug. Dann Helge – alles wieder ganz unverkrampft, gelöst. Bittermann geherzt, den ich seit … wie vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte? Trägt immer noch die spitzen, weißen Schuhe. Paar Worte mit Delius. Tanja kommt, im Schlepptau: Veruschka Lehndorff. Ein Blick auf diese Frau und ich bin gefangen. Sie ist nicht gekleidet, sie ist gewandet. Hat wahnsinnig dicke Plastikschuhe an und irgendwelche Tücher um den Kopf und die Schultern. Eine scheue Exzentrikerin, eine schüchterne Exhibitionistin. Und dann diese hübsche, spontane, nudelige Geste von KS, als sie erfährt, wer ihr da gegenübersteht: Lacht, beugt den Oberkörper kurz nach vorne und schwingt ihren Handrücken leicht auf den Oberarm von Frau Lehndorff: „Ach, Sie sind das!” Später noch länger mit Rudi und Eva-Marie. Viel Rotwein, viele Frikadellen. Taxi. Heim. Bett.

Erich Auerbach ist tot.

Montag, 10. Oktober 2011 – Zehnuhreinundfünfzig, vierzehnkommaeins. Wolken im Wind.

Gestern früh mit Jörg durch den sonnig-wabernden Nebel über die Berger Höhe und zwischen den Streuobstwiesen hindurch nach Niederdorfelden. Eine Morgenwelt wie von Caspar David Friedrich. Das Thermometer im Auto warnt vor Bodenfrost. Mit Lutz und Ralf und sechs weiteren Waden auf die Straße. Hundertzehn Kilometer Achterbahn durch die Wetterau. Letzte Kontrollstelle in Stammheim. Es riecht nach faulenden Äpfeln, moderndem Laub und Pferdedung. Zum Schluss machen Jörg und ich noch leckere Beute: für jeden zehn hausgeschlachtete Bratwürste, tiefgefroren und in Plastik verschweißt.

Das Buch von Chotjewitz lege ich nicht aus der Hand. Nehme es mit in die Küche, an den Frühstückstisch, ins Bett, selbst ins Bad. Das passiert nur ganz selten und nur mit Büchern, in denen mich alles etwas angeht oder längst etwas hätte angehen sollen. Bin begierig auf jede Seite, jeden Satz. Ob er Sonnenaufgänge beschreibt, seinen Zusammenstoß mit Helmut Kohl, seine Besuche bei Andreas Baader in Stammheim, seine Zeit bei der Freiwilligen Feuerwehr und dem Männergesangsverein in Kruspis – wie dumm ich diesen Mann unterschätzt habe. Schon jetzt fast unvorstellbar der Gedanke, dass es dieses Buch um ein Haar nicht gegeben hätte …

Am 10. Oktober 1966 starb in Wesel am Niederrhein Otto Pankok, Maler und Freund der Zigeuner vom Düsseldorfer Heinefeld.

Freitag, 7. Oktober 2011 – Tag der Republik. Zwölfuhrzweiundzwanzig, elfkommazwei. Schweres Gewölk. Immer noch mit der Buchausgabe der Geisterbahn beschäftigt.

Die brachialen, gockelhaften Auftritte von Pit Chotjewitz waren mir jedes Mal ein Greuel. Aber was für ein wunderbares Buch hat Jürgen Roth dem bereits todgeweihten Autor entwunden. 360 Seiten mäanderndes, atemloses und zugleich lässiges Erzählen. Und erst jetzt begreife ich, welch unkorrumpierbaren Mann wir da verloren haben. „Aber rühmen wir nicht nur den Weisen / Dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt. ” (Brecht)

Zum Eintrag vom 4. Oktober eine reizende Mail von Alf mit dem Betreff: „je m’accuse”: “… ich muss jetzt doch mein Gewissen erleichtern: die ‘Börne-Spitzfeder-Anmod’ stammt, glaube ich, tatsächlich von mir; ist allerdings schon 1 1/2 Jahre alt, d.h. entstanden, bevor ich von Deinem Kreuzzug gegen das Spitzfederwesen in hr2-kultur erfahren habe. Wird wahrscheinlich nicht wieder vorkommen. – So, jetzt kann ich wieder reinen Gewissens weiterarbeiten.”

Gar nicht zu zählen, wie oft Steve Jobs in den Sendungen des gestrigen Abends ein Visonär genannt wurde, ein Genie. Und wenn das nicht reichte, auch noch ein genialer Visionär, ein visionäres Genie. Passend dazu dann die Bilder der Occupy-together-Aktivisten, wo eine Frau ein Plakat trug mit der Aufschrift: MORE JOBS!

Vor zwei Jahren starb Irving Penn.

Dienstag, 4. Oktober 2011 – Siebenuhrdreiundfünfzig, zwölfkommavier. Schon wieder die Sonne. Bis zum Wecker geschlafen.

Gestern Nachmittag der alte Herr mit seinem Einkaufstrolley vor der verschlossenen Tür des Supermarktes: „Feierdahch? Was dann fürn Feierdahch?”

Auf HR2 die hübsche Formulierung: „Ludwig Börne, der Altmeister der spitzen Feder”. Wobei man sofort geneigt ist, das Gegenteil zu versuchen – vielleicht so: „… der Jungstümper des stumpfen Keyboards.”

Max Planck ist tot.

Montag, 26. September 2011 – Vieruhrdreißig, elfkommafünf. Dunkel. Wach seit einer Stunde. Ging halt nicht mehr.

Das Hinweisschild nach Trutzhain lockt uns von der Strecke. Wo jetzt ein Dorf diesen Namens liegt, gab es vor siebzig Jahren nichts, dann Zelte, dann wurden die langen Reihen aus Fachwerkbaracken gebaut. StaLag IX A hieß das „Stammlager Ziegenhain”, das größte hessische Kriegsgefangenenlager, das die Nazis von den Insassen selbst errichten ließen. Bis zu 8000 Gefangene waren hier gleichzeitig untergebracht, unter ihnen auch der spätere französische Staatspräsident Mitterand. Die Baracken stehen noch, aus ihnen sind jetzt geranienbewehrte Reihenhäuser geworden. Katzen huschen über die Wege, die Straße wird gekehrt, Autos gesaugt. Wenig soll an das StaLag erinnern, aber alles erinnert daran.

Dann nach Leimsfeld und zu Fuß über die Wege und Wiesen der Kindheit zur Ziegelhütte in den Schützenwald. Schöner hätte der Tag nicht sein, schöner hätte man den Ort nicht wählen können für unser Familientreffen. Die Erinnerungen fliegen: War da nicht …? Da war doch …! Es ist, als ob der Wärmestrom der Großeltern die Sippe noch immer erreicht – nun schon bis zu den Ururenkeln. Alles ist da: Heiterkeit, Wohlwollen, Trauer, Befangenheit, Misstrauen, Hinwendung, Kraft, Schwäche, Trost. Die Toten sind mitten unter den Lebenden, und auch die beiden Tanten, die längst in ihren eigenen Welten versunken sind, werden ganz selbstverständlich umschlossen.

Gestern mit Lutz die Tour de Götzenhain gefahren. Abschied vom Sommer, eine letzte Bratwurst an der Mauer in der Sonne …

Der Papst will die Kirche „entweltlichen”. Dann aber soll man bitte auch die Politik „entkirchlichen”, anstatt diese Nebelkrähe zu hofieren und ihr vor dem weltlichen Parlament ein Forum zu bieten.

Heute vor einundsiebzig Jahren hat sich Walter Benjamin in Portbou das Leben genommen.

Mittwoch, 21. September 2011 – Fünfuhrfünfundvierzig, sechskomma- neun. Dunkel. Wach seit kurz nach zwei. Die Tage dieser Tage: voll, voll. voll.

Er schaut auf der Straße verstohlen einer Frau mit tiefem Dekolleté nach. Seine Begleiterin: „Die mit ihren schönen, arroganten Brüsten …”

Nachdem ich vor zwei Tagen nach langer Zeit mal wieder auf das Leserinnenforum der Frauenzeitschrift „Brigitte” geriet, die Gewissheit: Es gibt Menschen – nicht nur Männer – die sich ganz und gar durch das Ficken definieren.

Tot ist Peter Vogel („Kottan ermittelt“). Und das schon seit 33 Jahren.

Montag, 12. September 2011 – Sechsuhrsiebenundvierzig, dreizehnkommaacht. Wie blau und rosa gerade der Himmel im Osten noch glühte. Und wie das Glühen jetzt rasch erlischt.

Freitag, 13 Uhr. Atilla steht mit dem sandfarbenen Volvo am Rand der Aral-Tankstelle auf der Homburger Landstraße. Wir fahren zum Bunker an der Kaiser-Sigmund-Straße. Proben. Schleppen die Anlage zum Wagen. Fahren nach Wiesbaden zur Villa Clementine. Schleppen die Sachen ins Haus. Bauen auf. Der freundliche Hausmeister. Frau Lewalter, Kathrin Fischer, der Haslinger. Bisschen was essen. Haslingers Lesung. Bisschen Pause. Auftritt, schön. Bisschen lungern. Abbauen. Sachen ins Auto schleppen. Nach Frankfurt fahren. Als wir wieder vor dem Bunker stehen, sagt Atilla: „Es ist null Uhr”. Sachen hochschleppen. Um zwei Uhr bin ich schließlich wieder so weit unten, dass ich einschlafen kann.

Was für ein schöner Satz: „Löwen sind nicht oft in Schränken”. Stammt aus den Willi-Wilberg-Geschichten, von denen ich nicht einmal gehört hatte. Lothar Müller zitiert ihn in einer Besprechung, deren Untertitel schon wohltut: „Endlich wieder ein erzromantischer, unrealistischer Roman voller Wirklichkeit: Sibylle Lewitscharoffs ,Blumenberg’”. Jetzt, da die unromantische Wirklichkeit brandet wie lange nicht mehr.

Gestern zum ersten Mal die „Last Night of the Proms” gesehen. Mit Vergnügen und belustigt der fremden Stammesfolklore gefolgt.

Vor einem Jahr ist Claude Chabrol gestorben.

Dienstag, 6. September 2011 – Neunuhrsiebenunddreißig, dreizehn- kommafünf. Wolkig, aber recht hübsch. Wach seit kurz nach vier.

Geld verloren. Hektische, vergebliche Suche. Kleine Verzweiflung. Trost spendet nur die Hoffnung, es möge jemand gefunden haben, der es nötiger braucht. Dann freilich wäre es eine gerechte Umverteilung – und somit okay.

Gestern Stalburg. Herl müde. Braun munter. Erzählt begeistert von Petrenkos Lohengrin-Dirigat in Bayreuth und noch begeisterter von Stefan Herheims Parsifal-Inszenierung. Gespannt auf das Buch „Chronik der Lektoren”, wird wohl ein Stück bundesdeutscher Geistesgeschichte. Und auf Boehlichs ausgewählte Schriften mit dem schönen Titel: „Die Antwort ist das Unglück der Frage”.

Gestern die Mail an D. mit meinem Vorschlag. Keine dreiviertel Stunde später die Antwort: „Das finde ich eine sehr gute Idee.”

Heute Morgen legt Chr. eine DVD auf den Tisch. Ich glaub es nicht, es „Police Python 357“. Der unglaubliche Ungureit hat sie mit in den Verlag gebracht. Wenn dieses Tagebuch je einen Sinn hatte … Und gerade sehe ich noch die nette Mail eines Geisterbahnfahrers, der mir einen Link schickt …

Hanns Eisler ist tot.

Dienstag, 30. August 2011 – Fünfuhrelf, zehnkommasechs. Dunkel. Laut. Wach seit kurz vor vier. Immer noch dieselben Meldungen wie vor sieben Stunden: Gaddafi-Familie flüchtet nach Algerien. Westerwelle klammert sich ans Amt. Hurrikan frisst Kälteloch in den Atlantik.

C. kommt aus ihrem Französisch-Konversationskurs, den sie gemeinsam mit zwei dreißigjährigen Bankern belegt hat. „Weißt du was”, sagt sie, „die beiden wussten nicht, wer Daniel Cohn-Bendit ist. Sie hatten den Namen noch nie gehört.”
Mir kommt diese Information so bodenlos vor, dass ich einen Moment lang nicht sicher bin, ob ich sie glauben will. Wenn die beiden Banker gesagt hätten, sie mögen Cohn-Bendit nicht oder er sei ihnen egal, aber so … Sie wissen, wo man Stretchlimousinen mieten kann, sie wissen, wo es den saubersten Tabledance gibt, welche lustigen, neuen Apps gerade auf dem Markt sind und wo das Sushi am leckersten ist. Sie und ihresgleichen stürzen gerade die Welt ins Verderben, aber sie, die in Frankfurt leben, haben den Namen Cohn-Bendit nie gehört. Wahrscheinlich halten sie Willy Brandt für den neuen Hauptdarsteller des Münchner „Polizeiruf” und Adolf Hitler für einen Rentner aus Braunau, der seine beiden Töchter vierzig Jahre lang missbraucht hat.

„Du hasst zu viel”, sagt Christian, „du darfst nicht hassen!” Und das werde ich mir jetzt auf einen Zettel schreiben, den ich in die Hosentasche stecke, damit ich es nie, nie, nie mehr vergesse.

Erster Todestag von Alain Corneau, dessen „Police Python 357? ich immer noch nicht gesehen habe. Sollte jemand im Besitz einer Aufnahme sein, bitte ich um Benachrichtigung unter altenburg@wpfw.de

Freitag, 26. August 2011 – Elfuhrachtundvierzig, vierundzwanzig- kommasechs. Schleierig, tropisch. Nachts vom Unwetter aufgewacht. Nicht wieder eingeschlafen. An die offene Terrassentür gestellt und dem himmlischen Gelichter zugeschaut.

Kleine Runde über Bonames. In Harheim, unten in der Sackgasse an den Sportplätzen: Irgendwas stimmt mit dem Sattel nicht. Ich steige ab, schiebe das Rad über die kleine Wiese, setze mich auf eine Bank und beginne zu schrauben. Auf der Straße, fünfzig Meter von mir entfernt, hält mit quietschenden Reifen ein verrosteter weißer Polo. Die Türen werden geöffnet, wummernde Bässe sind zu hören, zwei laute Männer steigen aus. Ein Kleiner mit dunklen, verfilzten Haaren, ganz in dreckiges Schwarz gekleidet. Ein Großer in Jogginghose – ärmelloses Shirt, blondierte Haare, Muskelpakete, tätowiert. Man meint, sie zu riechen. Sie gucken zu mir rüber, grinsen. Der Große klappt den Fahrersitz nach vorne und lässt einen Pit Bull ins Freie. Das Tier bewegt sich schwerfällig, wird auf die Wiese geschickt, in meine Richtung. Die Männer gucken zu mir rüber, schauen sich an, sagen irgendwas, lachen. Lachen böse. Grölen. Der Pit Bull kackt und guckt mich an. Die Männer lachen wieder. Gucken. Grölen. Ich verstehe nur zwei Worte: „Schwule Ratte.” Drei mal höre ich die beiden Worte: „Schwule Ratte”. Eine Walkerin kommt aus dem Kleingartengelände. Als sie sich meiner Bank nähert, frage ich sie nach der Uhrzeit. Sie zieht ihr Handy hervor. Ich will nur, dass sie kurz in meiner Nähe bleibt. Ich muss ihr nichts erklären, sie versteht. Der Hund wird zum Auto gepfiffen und auf den Rücksitz verfrachtet. Die Männer steigen ein, fahren davon. Ich bedanke mich bei der Frau und wünsche ihr einen schönen Tag.

Er ist müde, muss morgen wieder früh raus, will nach Hause, will sich aber nicht von jedem einzeln verabschieden. Was also sagt er? „Ich sag dann mal global tschüß!”, sagt er.

Vor sechs Jahren ist Anne Bärenz gestorben.

Mittwoch, 17. August 2011 – Neunuhrnull, sechzehnkommazwei Grad.

Alles ist offen. Die Supermärkte sind offen. Die Tankstellen sind offen. Die Museen sind offen. Die Banken sind offen. Die Fahrkartenschalter sind offen. Der Himmel ist offen. Nur ich bin zu. Vernagelt. Verrammelt. Geschlossene Gesellschaft.

„Ich werde nie auf der Liste derer stehen, die Dinge tun. Ich tue nichts. Überhaupt gar nichts. Ich habe Nägel gekaut, aber selbst das tue ich nicht mehr.” (Dorothy Parker)

Lektüre: Karl Schlögels „Terror und Traum. Moskau 1937”.

Grimmelshausen ist tot.

Freitag, 12. August 2011 – Sechsuhrfünfzehn, siebzehnkommaneun. Bewölkt. Hat geregnet. Wach seit kurz nach drei. Gelesen: die unglaubliche Geschichte über Kurt Lichtenstein und Kurt Müller und die Rolle Max Reimanns.

„Daher kommt es denn auch, daß der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, hier offen erklärt ist. (…) Und was von London gilt, das gilt auch von Manchester, Birmingham und Leeds, das gilt von allen großen Städten. Überall barbarische Gleichgültigkeit, egoistische Härte auf der einen und namenloses Elend auf der andern Seite, überall sozialer Krieg, das Haus jedes einzelnen im Belagerungszustand, überall gegenseitige Plünderung (…), und das alles so unverschämt, so offenherzig, daß man vor den Konsequenzen unseres gesellschaftlichen Zustandes, wie sie hier unverhüllt auftreten, erschrickt und sich über nichts wundert als darüber, daß das ganze tolle Treiben überhaupt noch zusammenhält.”
(Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, 1845).

Tot ist der Maler Franz Radziwill, auch Naziwill genannt.

Donnerstag, 11. August 2011 – Zwölfuhrvierzig, zwanzigkommasechs. Wolken.

In keinem anderen westeuropäischen Land, so konnte man dieser Tage in vielen Zeitungen lesen, ist die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie in Großbritannien. Die oberen zehn Prozent der Gesellschaft verfügen über hundertmal so viel Geld wie die unteren zehn Prozent. Damit das so bleibt, gibt es Politiker wie David Cameron. Er hat den depravierten Revolteuren ein „fightback”, einen Gegenschlag angekündigt, bei dem es „keine falsche Rücksichtnahme auf die Menschenrechte” geben dürfe. Man beginnt zu ahnen, dass solche Politiker die Demokratie gleich ganz drangeben würden, um ihren Klassenauftrag zu erfüllen.

Carlo Mense ist tot. Und Jane Digby, die „Nomadin der Herzen”.

Mittwoch, 10. August 2011 – Zwölfuhrneunzehn, sechzehnkommanull. Wolkig.

Der britische Premierminister David Cameron bezeichnet die Jugendrevolten in England als „pure Kriminalität”. Seine Innenministerin Theresa May verurteilt die Riots als „Verbrechen”. Allein, das beide sich genötigt sehen, dies so ausdrücklich zu betonen, weist darauf hin, dass nicht einmal sie selbst glauben, damit die Ereignisse erklären zu können.

Seiner zuerst 1967 im Suhrkamp Verlag erschienenen Studie „Was ist Stalinismus?” stellte der Soziologe Werner Hofmann eine Widmung voran: „Den Leidenden und den Denkenden”.

Frank Loyd ist tot.

Montag, 8. August 2011 – Zwölfuhrnull, sechzehnkommafünf. Regen, Sonne, Regen. Wind.

Samstag nach Essen ins Folkwang Museum. Dann Düsseldorf ins K 20 und K 21. Dann nach Bergisch Gladbach, Essen im Restaurant Fachwerkhaus, schlafen im Hotel Malerwinkel. Samstag nach Köln ins Museum Ludwig. Fette Augenbeute.

Im Folkwang:
Matisse: Nature morte aux asphodeles, 1907
Valloton: Quai de Seine au sable rouge, 1901
Picasso: Bouteille, guitare et pipe, 1912/13
Heckel: Hockende, 1912 (Plastik)
Pollock: Two Sided Painting, 1950/51
Emilio Vedova, Tensione, 1958

Im K 20:
Klee: Omphalocentrischer Vortrag, 1939, 690 (KK10)
Klee: Gedanken bei Schnee, 1933, 32 (L12)
Beuys: Tram Stop Venedig, 1977
Alberto Burri, Wheat, 1956
Rauschenberg: Wager, 1957-59
Duchamp: La broyeuse de chocolat, 1914
Picasso: Fenêtre ouverte, 1919
Schwitters: Kleines Seemannsheim, 1926
Tàpies: Grand diptyque avec raies, 1988
Pollock: Number 32,1950

Im K 21:
Valerie Favre: Ohne Titel (Zebra)
Armin Boehm: Ohne Titel (Combine)

Im Ludwig:
Kirchner: Weiblicher Halbakt mit Hut, 1911
Beckmann: Selbstbildnis mit schwarzer Kappe, 1934
Picaia: La nuit espagnole, 1922
John de Andrea: Ohne Titel (Studioszene, Figurengruppe), vor 1977
Jasper Johns: Eddingsville, 1965
Jasper Johns: Large White Numbers, 1958
Rauschenberg: Autobiography, 1968
Rauschenberg: Odalisque, 1955-58
Kippenberger: Ohne Titel (Vögel und Panzer), 1991
Gerhard Richter: Abstraktes Bild, 1992
Gerhard Richter: Betty, 1977
Richard Hamilton: Bathers, 1966/67
Öyvind Fahlström: Roulette, 1966

Tot ist der kubanische Boxer (Superfedergewicht) mit dem schönen Namen Kid Chocolate.

Donnerstag, 4. August 2011 – Zwölfuhreinundzwanzig, dreiundzwanzigkommanull. Grau.

Dem Entführer und Mörder Magnus Gäfgen waren während eines Verhörs durch die Frankfurter Polizei „unvorstellbare Schmerzen” angedroht worden, wenn er den Aufenthaltsort des von ihm verschleppten Jungen nicht preisgebe. Wegen dieser „schwerwiegenden Rechtsverletzung” hat ihm jetzt das Frankfurter Landgericht ein Schmerzensgeld in Höhe von 3.000 Euro zugesprochen. Kommentar von Spiegel online: „Das Urteil stellt das Rechtsempfinden vieler Menschen auf die Probe”. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Hätte das Gericht ihm dieses Schmerzensgeld nicht zugesprochen, hätte es die verbotene Folterdrohung nachträglich gutgeheißen und damit Unrecht zu Recht erklärt. Der Entführer und Mörder ist für seine Verbrechen verurteilt worden. Rechtlos darf er niemals werden.

Es gruselt einen, wenn man weiß, das einer, der eine solche Sprache schreibt, Träger des nach Ludwig Börne benannten Preises ist: „Tatsache ist, dass der staatlich organisierte Pogrom, der derzeit in Syrien stattfindet, dem linksreaktionären Gutmenschenpack dermaßen an seinem Moralarsch vorbeigeht wie ein Furz einer Fanfarenkapelle.” (Henryk M. Broder am 3. August 2011)

Ernst Bloch ist tot.

Dienstag, 2. August 2011 – Vieruhrachtunddreißig, vierzehnkommasieben Grad. Dunkel. Wach seit halbvier. Zahnschmerzen.

Gestern auf breiten Reifen in die Stadt. Auf der Friedberger Landstraße ein tiefrotes, altes Basso. Ich sage dem Fahrer, wie gut mir sein Rad gefällt. Danke, sagt er, Baujahr 1981. Und wie das blitzt.
Schon an einem normalen sonnigen Wochentag ist die Zeil kaum auszuhalten. Seit man aber meint, alle naselang etwas feiern zu müssen, ist nicht einmal mehr in der Ferienzeit ein Durchkommen. Dieser Tage: Settimana italiana. Gibt trotzdem Rindswurst mit englischsprachiger Popmusik. Wie eine Trutzburg steht die Katharinenkirche im Trubel. Martin lädt mich ein, mit hoch zur Orgel zu kommen. Er spielt César Franck und Bach. Ob er weiß, was er seinen Zuhörern mit diesen 30 Minuten schenkt? Für eine halbe Stunde ist man aus der Welt und bei sich. Dann sitzen wir noch eine Weile in der Frühabendsonne, spinnen, planen. Eine Arme, eine Verrückte kommt vorbei, bittet um Geld und sagt, dass es jetzt so weit sei, sie werde nun endgültig einen Brief an die Rundschau schicken. Sie gibt mir die Kopie eines eng bekritzelten Zettels. Dort ist von Ärzten die Rede, von Obdachlosen, von Jesus Christus und den Ameisen …

Götz berichtet, er sei in Marburg an einigen Mietshäusern vorbei gekommen, wo jemand über den Namen auf den Klingelschildern in Schönschrift die Aufforderung angebracht habe: „Folgende Personen werden zum Klassenkampf aufgefordert”.

Raymond Carver ist tot.

Donnerstag, 28. Juli 2011 – Zehnuhrachtundfünfzig, achtzehnkommaeins. Wetter? Jeden Tag dasselbe.

Der Publizist Henryk M. Broder, der zu Recht, aber allzu eifrig auf die ideologischen Hintergründe islamistischer Gewalt hinweist, ist von dem norwegischen Attentäter in dessen Manifest mehrfach und ausführlich als Referenz genannt worden. Broder scheint darüber jeden klaren Gedanken verloren zu haben, denn er weist in diesem Fall alle Bezüge zwischen Wort und Tat zurück: „Was aber hat einer, der als Polizist verkleidet Kinder und Jugendliche wie herumfliegende Tonscheiben abknallt? Wie wäre es damit: Spaß am Töten?” Das freilich ist das einzige Motiv, für das es bei diesem offensichtlich intelligenten und kühl planenden Täter weder einen Hinweis, noch gar einen Beleg gibt. Ob er sich keine Sorgen mache, nun in einem solchen Umfeld genannt zu werden, wurde Broder, der sich gerade in England aufhielt, vom Tagesspiegel gefragt. Seine Antwort: „Das einzige, worüber ich mir Sorgen mache, ist, woher ich Ersatzteile für meinen Morris Traveller aus dem Jahre 1971 bekomme. Sogar in England werden die Teile knapp.”

Der gescheiterte und nach einem Jahr scheidende Chefredakteur des Focus sei zuletzt auch von seinen Kollegen fallen gelassen worden, berichtet die SZ. „Das liegt wohl auch daran, dass Menschen, vor allem Journalisten, gerne bei denen stehen, die gerade oben sind”, schreibt Marc Felix Serrao.

Bach ist tot.

Dienstag, 26. Juli 2011 – Elfuhrneunundzwanzig, achtzehnkommavier. Wolken. Prognose: Regen, Regen, Regen.

Wie ruhig und schön diese Tage schwingen. Nach dem Auftritt beim Stoffel das youtube-Video mit Kai Degenhardt und „Weiter draussen”. Am nächsten Tag die freundliche Mail von Kai. Der französische Terrassenabend mit Ute. Am Samstag mit Annika und Rainer in der Maaschanz, während draußen der Regen prasselt, und dann in der Harmonie „Nader und Simin”. Am frühen Sonntagmorgen Paulas Anruf von der Île d’Oléron …

Jens Breivik, der Vater des norwegischen Attentäters, ein pensionierter Diplomat, der in Südfrankreich lebt und seit sechzehn Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn hat, steht inzwischen unter Polizeischutz. Warum brauche ich dann nicht mal eine Minute, um seine Adresse und Telefonnummer heraus zu bekommen?

Auf Perlentaucher ein langer, kluger Essay von Christina Striewski zum christlichen Fundamentalismus und zur Überwältigungs-Ästhetik in Terence Malicks „Tree of Life”. Unbeabsichtigt liest sich der Text wie ein Kommentar zu den Anschlägen in Norwegen.

Von Götz ein Lichtenberg-Zitat: „Fanatiker sind zu allem fähig, sonst aber zu nichts”.

Lektüre: Nach Bergruens „Hauptweg und Nebenwege” und dem dümmlich-egozentrischen Buch von Catherine Allegret über das Leben mit ihrer Mutter Simone Signoret und Yves Montand nun Artur Londons „Ich gestehe”.

Heute vor einem Jahr hat Brigitte Schwaiger „den kürzeren Weg” gewählt.

Mittwoch, 20. Juli 2011 – Zwölfuhrachtunddreißig, sechzehnkommadrei. Mäßiger Regen, was sonst?

Gestern zusammen mit Komaläufer der Auftritt beim Open-Air-Festival der Stalburg. Irgendwann ist sogar das Wetter egal. Die Leute kommen ja trotzdem. Ist ja sowieso alles ein Rausch. Die Wahrnehmung geschärft und zugleich vernebelt. Alles ein bisschen wie im Aquarium. So viele Freunde, so viele Gesichter, paar Worte da und hier, Leuchten, Lächeln, Lachen, girrender Zuspruch. Man ist selbst nie ganz da und freut sich über jeden, der da ist. Ein alter Mann wird zu den Bänken geführt, er tappt, unsicher, das weiße Haupt erhoben, leicht mit den Armen rudernd, er scheint nichts zu sehen, er trägt die drei schwarzen Punkte am Revers. Und dann erkenne ich ihn – es ist Kurt; sogar der Genosse Kurt ist gekommen. Und ist jetzt blind. Und kann meine Rosen nicht sehen. Ein guter, sonniger Schub geht aus von diesem verhangenen Sommerabend. Alles grundiert von der lässigen Spannung der Musik. Und immer wieder Hugo, überall Hugo – auf der Bühne, hinter der Bühne, vor der Bühne, mit seiner Fischrassel, auf dem Stuhl in der Künstlerkabine, an seiner Litschi-Bionade nuckelnd, tanzend, trommelnd, Luftgitarre spielend, später schlafend in seinem Kinderwagen. Hugo, über den ich mich schier dummfreuen kann.

Sechzehnter Todestag von Ernest Mandel.

Montag, 18. Juli 2011 – Vieruhrachtundvierzig, dreizehnkommazwei Grad. Beginnt schon zu dämmern.

Weites, offenes Gelände – wie ein riesiges Fußballfeld. Mitten darauf steht ein alter PKW, unter dessen Bodenblech ich mich verkrochen habe. Denn über die Wiese laufen nackte, junge Männer, die sich gegenseitig erschießen. Einer der Jünglinge entdeckt mich, legt sich auf den Bauch und robbt auf mich zu. Bevor er abdrücken kann, erwache ich.
Und schlafe wieder ein.
Nun sitze ich auf dem Beifahrersitz des Wagens. Die Tür steht offen. Eine Frau behauptet, belästigt zu werden von den Männern, die aber nicht mehr zu sehen sind. Geppetto, der zufällig vorbeikommt, soll die Frau beschützen. Als er sich einverstanden erklärt, verlangt sie von ihm, er müsse ihr auch dann beistehen können, wenn sie eine brasilianische Nonne sei. Sofort verwandelt sie sich zu einer Art Sophia Loren in Ordenstracht. Geppetto wirft sich eine Mönchskutte über, legt der Frau den rechten Arm um die Schulter und fasst ihr mit der linken Hand an die Brüste. Die beiden entfernen sich.
Eine andere Frau kommt auf mich zu gerannt. Gut, dass sie mich noch erwische, ruft sie atemlos, ich müsse unbedingt für den Elternbeirat kandidieren. Alles in mir sträubt sich gegen eine solche Vorstellung. Ich fuchtele mit den Armen, stottere, suche nach Ausreden, finde keine und entziehe mich auch dieser Gefahr, indem ich mit dem Schlaf den Traum beende.
Und bin nun wirklich wach. Nebenan gehen bereits die Rollläden hoch. Die Nachbarn verlassen das Haus und steigen auf ihre Räder. Der Tag beginnt.

Gestern die Jubiläumsausstellung des MMK angeschaut: „Zwanzig Jahre Gegenwart”. Erstaunlich, wie viele raumgreifende Fehlkäufe in diesen zwei Jahrzehnten zusammen gekommen sind. Beutlers „Outdoor Yellow” – eine variable Spass-Skulptur fürs Erlebnisbad. Kabakovs „Series of Albums” – kaum mehr als hübsches Briefpapier aus der manufactum-Kollektion. Katharina Fritschs deutungsheischende „Tischgesellschaft” ruft nur noch ein schütteres Achselzucken hervor. Und Balkenhols „Pinguine” sehen auf ihren 57 Stelen aus wie ein Holocaust-Mahnmal fürs Kinderzimmer. Hauptsache harmlos. Dass man trotzdem glücklich und beunruhigt nach Hause geht, liegt an Isa Genzkens „Oil”, an Clay Ketters „John” und vor allem an Julian Schnabels „The five Graces”, einem der schönsten Stücke der Sammlung.

Vor sechzehn Jahren starb der Radrennfahrer Fabio Casartelli. Bei der Abfahrt vom Col de Portet-d’Aspet in den Pyrenäen geriet er in einen Massensturz und erlag drei Stunden später seinen schweren Kopfverletzungen.

Dienstag, 11. Juli 2011 – Elfuhrneunundfünfzig, fünfundzwanzigkommaneun Grad. Blauweiß quergestreift.

Zwei Wochen in Kärnten, im Ossiacher Gulda-Häuschen. Viel mit dem Olmo unterwegs. Mit Bernd zwei Mal von Villach aus an der Drau entlang. Die Vermieterin Frau Jost bringt Kirschen, Marillen, ein Sträußchen Zitronenverbene. Geräucherte Forellen bei Simone und Leo. Um den Wörthersee herum und über die Tauern zurück. Nach Slowenien, in das Dörfchen Konjsica zum Grab von Stanislava und Carlos Kleiber. Die Holzreliefs im Dom zu Gurk, die das Leben der heiligen Hemma zeigen. Am letzten Tag noch über Tiffen, Himmelberg, Arriach und Treffen um den Gerlitzen herum. Abends dann am See auf der Terrasse der Stiftsschmiede. Auf der Rückfahrt zwei strahlende Familientage in München, am Steinsee, in den Isarauen – ganz traut, ganz wohlig.

Seltsame Leseerfahrung: Franziska Augsteins „Von Treue und Verrat – Jorge Semprún und sein Jahrhundert“. Ein Buch, das mir mit fortschreitender Lektüre immer besser gefällt, dessen Gegenstand, nämlich Jorge Semprún, mir dabei aber zunehmend fremder und unsympathischer wird, bis ich nur noch einen eitlen, nicht sehr großen Geist sehe, dessen Texte die Grenze zum Kitsch zu oft überschreiten, als dass ich an die Aufrichtigkeit ihres Verfassers glauben könnte. Am Ende interessiert mich Franziska Augstein mehr als Jorge Semprún. Nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei scheint der Spanier den Rest seines Lebens damit zugebracht zu haben, seine Vergangenheit neu zu deuten, sich neu zu positionieren, sich ins Recht zu setzen. Immerhin mache ich noch kurz den Versuch, Semprúns Buch über Yves Montand zu lesen. Aber nein, das ist nicht auszuhalten – sprachlicher Aufputz, nichts als vollmundige Phrasen, stilistischer Machismo …

Dann aber Simone Signorets „Ungeteilte Erinnerungen“ – was für ein Feuerwerk, was für ein Spaß, was für ein Glück. Zwanzig Jahre lang stand das Buch ungelesen im Regal, jetzt gehört es zu den Heiligen Schriften.

Todestag von Slátan Dudow.

Freitag, 24 Juni 2011 – Sechsuhrsiebenundfünfzig, elfkommaneun. Der Himmel: vielversprechend.

Der Künstler Ai Weiwei und die Literaturwissenschaftlerin Birgit Hogefeld sind aus der Haft entlassen worden. Festgenommen wurde nach sechzehn Jahren Flucht James Bulger, der Pate von Boston. In Gaston County (North Carolina) hat der bis dahin unbescholtene 59jährige James Verone eine Bank überfallen, einen Dollar verlangt und sich anschließend widerstandslos abführen lassen. Er hoffe, sagte er, da er keine Krankenversicherung besitze, auf eine dreijährige Haft, um im Gefängniskrankenhaus sein Rückenleiden behandeln lassen zu können. Aus Franziska Augsteins Biografie über Jorge Semprún ist zu erfahren, dass der spanische Schriststeller 1992 bei einem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, wo er 1944 und 1945 interniert gewesen war, vor laufender Kamera erklärt hat, es komme ihm vor, als sei er nach Hause zurückgekehrt. Es gebe sogar ehemalige Häftlinge, die sich erkundigen würden, ob es möglich sei, in Buchenwald beerdigt zu werden.

Die „Sterbekasse der Leichenbrüderschaft Elgershausen 1620 e. V.” hat wie in jedem Jahr das Schützen- und Heimatfest ausgerichet. Diesmal mit dabei: Reiner Irrsinn und die Wild Birds.

Little Tasja ist tot.

Mittwoch, 15. Juni 2011 – Zehnuhrzweiundzwanzig, neunzehnkommazwei. Bewölkt. Neu ist das Wort Blutmond.

Bei Annette und Stefan, viel über Patti Smith, Warhol, Rauschenberg, Julian Schnabel etc. Seitdem noch tiefer im Pop-Universum. Aber so peu à peu wächst auch der Widerwille gegen Warhol. Edie Sedgwick war eines der frühen Wahrhol-Girls, eine haltlose Schönheit aus reichem Elternhaus. Als die Spannungen mit den Factory-Leuten zunahmen, schluckte sie immer mehr Drogen. „Ob Edie wohl Selbstmord begeht?” fragte Warhol. „Ich hoffe, sie gibt uns vorher Bescheid, damit wir es filmen können.”

Lustig die Geschichte, die Patti Smith erzählt. Sie lernte den Drummer einer Folkrockband kennen, stellte sich ihm vor und erfuhr, dass er Slim Shadow hieß. Die beiden freundeten sich an und gingen gelegentlich miteinander aus. Eines Tages lud er sie zum Hummer-Essen ins Max’s ein. Jackie Curtis, eine Bekannte, die am Nebentisch saß, gab Patti Handzeichen, ihr aufs Klo zu folgen. Dort erfuhr die Sängerin, dass ihr neuer Freund nicht Slim Shadow, sondern Sam Shepard hieß.

Jocco Abendroth ist tot.

Samstag, 11. Juni 2011 – Achtuhrnullnull, dreizehnkommafünf. Wolkig. Vom Regen aufgewacht. Spektakel der Sittiche.

Am Nachmittag die Nachricht, das Birgit Hogefeld nach achtzehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und wen grüße ich jetzt, wenn ich an der JVA Preungesheim vorbeikomme?
Mal raus. „Der Oeder Weg ist die schönste Straße in Frankfurt, und im Aroma-Imbiss gibt es die beste Falaffel der Stadt.” Stimmt schon. Aber warum stehen hier so viele junge, geklonte Anzugträger in weißen Hemden und teuren Business-Schuhen? Erdal kommt um die Ecke. Wollen wir Pfingsten mit den Rädern auf den Feldberg fahren? Wollen wir!
Filmforum Höchst, Josef-Emmerich-Straße. Wir sind zu früh. Bier und Wein auf den Treppenstufen. Enge Fahrbahn, alle zweieinhalb Minuten ein Bus. Gewummer aus offenen Autofenstern. Kann man hier wohnen? „Godard trifft Truffaut – Deux de la Vague”. Interessiert nur ein paar Fünfzigjährige. Und ist ja auch schwer zu ertragen, diesem schlecht gelaunten Godard ins Gesicht zu schauen. Ein Großbürger spielt Stalinist.
Wieder zu Hause. Angeblich soll Patti Smith in Godards letztem Film mit dem Titel „Film Socialisme” von 2010 mitspielen. Nachschauen …!
Stimmt:
Lalanne: Why did you invite Alain Badiou and Patti Smith to be in your latest film, but ended up filming them so little?
Godard: Patti Smith was there, so I filmed her. I don’t see why I should have filmed her for any length of time greater than I would, say, a waitress.
Lalanne: Why did you ask her to be involved?
Godard: So that there would be one good American. Someone who embodies something other than imperialism.

John Wayne ist tot.

Mittwoch, 8. Juni 2011 – Zehnuhrneunundzwanzig, achtzehnkommanull. Nass.

Die Techniken, sich unbeliebt zu machen, sind zahlreich. Ich scheine die meisten davon zu kennen. Es geht mit Lügen so gut wie mit Offenheit. Mit Schweigen so gut wie mit Reden. Aber was ist das für ein unterschwelliger Drang, in der eigenen Umgebung alle paar Jahre abzuräumen? Nicht im ersten, engsten Kreis, aber doch schon im zweiten, weiteren. Platz schaffen. Türen zuschlagen. Das stumme Gehocke beenden, das entsteht, wenn man sich zu lange, zu gut kennt, wenn man mit jedem Wort, mit jeder Geste berechenbar für einander geworden ist. Die Differenz, die schon vorher da war, die vielleicht die Attraktion ausgemacht hat, wird zum Ärgernis. Man muss sie nur ein wenig deutlicher machen, um zu verstehen: jetzt langts!
Wäre es angenehmer, alle könnten sich ein Leben lang entspannt um- kreisen wie Fische, mal näher, mal ferner, irgendwann wieder näher…?

Vor drei Jahren ist Rühmkorf gestorben.

Samstag, 4. Juli 2011- Sechsuhrfünfundvierzig, siebzehnkommafünf. Strahlend schon jetzt.

Was geschieht, wenn nichts geschieht: Ein Wind kommt auf. Der Uhrzeiger rückt eine Minute weiter. Der Wind bewegt die Blätter. Der Kühlschrank springt an. Der Rettungshubschrauber startet und dreht nach Westen ab. Ein Rosenblatt fällt. Vor dem Fenster geht eine Frau mit Rucksack vorbei. Ein Handwerker sitzt in einem kleinen Lieferwagen und wickelt sein Frühstücksbrot aus. Es beginnt zu regnen. Das rote Standby-Lämpchen leuchtet. Eine Hummel sitzt auf dem Parkett vor der Terrassentür. Das Telefon klingelt. Niemand hebt ab. Es hört auf zu regnen. Ich öffne die Terrassentür und lasse die Hummel ins Freie.

Lektüre: Patti Smith’ „Just Kids”.

Am 4. Juni 1942 starb im Ghetto von Krakau Mordechaj Gebirtig.

Mittwoch, 1. Juni 2011 – Neunuhracht, elfkommafünf. Herbst.

Zum Mousonturm. Charlotte und Atilla winken auf der Straße. Das Foyer überfüllt. Bier. Annette und Stefan, beide ganz dünn. Wir sind uns einig: So wie die anderen fünfhundert Menschen, die zu diesem Konzert wollen, sehen wir nicht aus. So alt, so von gestern. Aber genau so sehen wir aus. GENAU SO! Patti Smith hat eine Erkältung. Wie immer in Jeans, weißem T-Shirt, schwarzem Jackett. Sie lacht, sie hustet, sie flirtet, trinkt Tee, krächzt, lutscht Eukalyptusbonbons, entschuldigt sich wieder und wieder für ihre schüttere Stimme. Was für eine umwerfend charmante Hexe. Sie ist fünfundsechzig Jahre alt. Sie hält eine kleine Predigt. Dass man auf die Straße gehen muss, dass man kämpfen muss, dass man seine Stimme erheben muss. Auch wenn es vielleicht nichts ändert. Use your voice! Und dann fügt sie an: Even such a voice. Lustig. Eigentlich eine gute, einfache Lebensregel. Erheb Deine Stimme! Sag Deine Meinung! Wirf Dich in die Waagschale! Mehr geht nicht, aber das geht. USE YOUR VOICE! Sie singt: People Got the Power. Dann gehen wir ins El Pacifico. Bier. U-Bahn. Regen. Heute erheben wir unsere Stimmen nicht mehr. Heute sinken wir mal nur noch ins Bett.

Aber wo ist der Patti-Smith-Film? Dream of Life. Ich brauche ihn, jetzt, sofort. Aber ich finde ihn nicht, er ist nicht da. Ich bin gerichtet.

Anna Seghers ist tot. Und der Pfarrer Oberlin.

Samstag, 28. Mai 2011 – Zwölfuhreinundzwanzig, sechzehnkommasechs. Wolken. Wind.

Gestern Literaturhaus. Fast ein wenig gespenstisch, wie gut die Stimmung ist, wenn sich die Gesellschafter des Verlags der Autoren einmal im Jahr treffen. Die Angestellten strahlen alles aus, was man sich wünscht: Kompetenz, Freundlichkeit, Konzentration, Engagement. Wie haushälterisch auch mit kleinen Beträgen gerechnet wird. Wie angenehm man mit einander umgeht. Gelöst, gespannt. Fast nur Wohlwollen, Offenheit auf den Gesichtern. Kaum zum Aushalten. Eine Tankstelle für den Alltag.

Kurz vor neunzehn Uhr fährt Christian im Offenen vor. Ich springe rein. Sonnenschub. Zu Bärbel Gräßlin in die Schäfergasse. Eröffnung der Ausstellung mit Bildern von Helmut Dorner. Hier dieselbe Stimmung. Leicht schwebend, manchmal ein Wort, das witzig zuschnappt. Man lacht, geht weiter, trifft sich vor einem anderen Bild wieder. Ein guter Ort. Was ist los? Oder liegt es an uns? Sind wir heute einfach gut bei einander? Kurz zu Iwase San einen Sake mit Salz aus dem Holzkästchen schlabbern. Dann wieder ins Literaturhaus. Bis halbdrei. Schwer heim.

Gestern sagte Brigitte, der letzte Geisterbahn-Eintrag sei aus ihrem Computer verschwunden. Heute von Martin eine Mail, ob alles in Ordnung sei: „Seit fast einer Woche Geisterstille auf der Geisterbahn.”
Kann das denn sein … ? Ja, doch, stimmt. Aber es ist alles in Ordnung.

Immerhin ein Satz, den vor ihm lange kein amerikanischer Präsident mehr gesagt hat, immerhin ein Satz, an dem man die Politik des Westens wird messen dürfen: „Wir haben die Chance zu zeigen, dass Amerika die Würde eines Straßenhändlers in Tunesien höher schätzt als die rohe Macht eines Diktators.” (We have the chance to show that America values the dignity of the street vendor in Tunisia more than the raw power ot the dictator.) – Obama.

„Omega de Ville Automatik Herrenuhr Traumuhr Bestzustand + Klassiker + Elegant + Zeitlos” – Ob das Adjektiv „zeitlos” bei einer Uhr wirklich eine Empfehlung ist?

Am 28. Mai 1936 starb Bertha Pappenheim in Neu-Isenburg.

Sonntag, 22. Mai 2011 – Fünfuhrdreiundfünfzig, dreizehnkommafünf. Hell. Seit zwei Stunden wach.

Götz berichtet, er habe in der Kulturgruppe des Butzbacher Gefängnisses die Fragebögen aus Max Frischs Tagebüchern vorgelesen. Schließlich sei er auch zur 22. Frage gekommen, welche lautet: „Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: wie erklären Sie sich, dass es dazu nie gekommen ist?”
Als keiner der Häftlinge reagierte, habe er, Götz, erwartungsvoll in die Runde geschaut. Darauf der Gefangene F.: „Was schauen Sie mich so an: Ich erfülle leider die Voraussetzungen dieser Frage nicht, sondern quäle mich seit nunmehr fünf Jahren mit der Frage rum, wie es dazu kommen konnte.”

„I mean, everybody does something for everybody else – your shoemaker does shoes for you, and you do entertainment for him – it’s always an exchange, and if it weren’t for the stigma we give certain jobs, the exchange would always be equal … But there’ll always be people who don’t clean who think they’re better than the people who do clean.” – Warhol

Charles Aznavour wird heute siebenundachtzig Jahre alt.

Donnerstag, 19. Mai 2011 – Zwölfuhrzwölf, sechsundzwanzigkommaeins. Schäfchen.

Wieder dauernd auf youtube Nina Simones „Ain’t got no” vom Harlem Festival 1969 angeschaut. Als ginge allein von diesem Song, von diesem Gesicht, von dieser Stimme die Rettung aus. Bis gestern wurde das Video fast siebeneinhalb Millionen mal angeklickt. „Gefällt 19.197, gefällt 260 nicht.” Ich stelle mir diese 260 Gefällt-Nicht-Menschen als ganz und gar Verlorene vor.

Gestern noch über Dolores Ibárruri gelesen. Von ihr stammt der Satz „Lieber stehend sterben, als auf Knien leben” und die Parole der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg: „No pasarán!” Heute nun kommt die Nachricht, dass genau diese zwei Worte auf den Transparenten der Jugendlichen stehen, die dieser Tage zu Zehntausenden in Spanien protestieren.

Gabriele Münter ist tot.

Dienstag, 17. Mai 2011 – Siebenuhrdreiundvierzig, dreizehnkommafünf. Bewölkt.

Gestern, die kluge Kamerafrau, die schon vielen Schuften ins Auge geblickt hat.
Über Rainer Körppen sagt sie: „Absolut zu allem fähig”.
Über Magnus Gäfgen: „Ein vollkommen leerer Mensch. Da war nichts: keine Reue, kein Trotz, kein Hass – nur Leere”.
Über Volker Bouffier: „Zitronenhäubchen. – Aber man muss ja auch erstmal einen Friseur finden, dem es gelingt, immer denselben Gelbton ins Haar zu zaubern.”

„Seit zwanzig Jahren fotografiere ich meinen Mann. Aber er ist auf allen Fotos unscharf.” – Dann solltest du dich vielleicht damit abfinden, dass es sich bei deinem Mann um einen unscharfen Charakter handelt.

„Everybody has a different idea of love. One girl I know said, ‘I knew he loved me when he didn’t com in my mouth.” – Warhol

Sehe gerade, dass sich Sven Körppen bereits im November letzten Jahres das Leben genommen hat.

Samstag, 14. 5. 2011 – Fünfuhrneunundzwanzig, achtkommasieben. Wieder wach seit vier. Schlieriger Himmel. Kurz noch aufs Rad? Ja! Heute Vormittag Probe, heute Abend Auftritt.

Samstagmorgen, vielleicht irgendwo in der Provence. Vielleicht in Apt. Ein kleines Hotel am Marktplatz, das Zimmer im ersten Stock. Ich hätte gut geschlafen. Ich würde die grünen Fensterläden öffnen und die Sonne herein lassen. Ich würde lächeln. Ich würde eine Dusche nehmen, mich anziehen und nach unten gehen. Über die Schultern hätte ich einen dünnen Pullover geworfen wie in einem alten Alain-Delon-Film. Am runden Blechtisch unter den Platanen würde ich einen Kaffee trinken und an einer Tartine knabbern. („Müssen es denn immer Platanen sein?” – Ja, es müssen Platanen sein!) Ich würde den Marktleuten zusehen, wie sie ihre Stände aufbauen. Ich würde nicht so tun, als gehörte ich dazu. Ich würde den Mädchen nachschauen. Ich würde in der Süddeutschen Zeitung von gestern, die ich bei der Abfahrt noch schnell aus dem Kasten geholt hatte, eine Reportage von Renate Meinhof lesen. Mich würde kurz frösteln. Ich würde froh sein, hier zu sitzen. Ich würde den Satz denken: Im Schatten ist es noch recht frisch. Ich würde hoffen, dass heute nichts passiert.

„Junger Mann, Sie haben Ihr Brot liegen lassen!”
„Wenn Sie mich noch Mal junger Mann nennen, lasse ich es morgen wieder liegen!”

„Love and sex can go together and sex and unlove can go together and love and unsex can co together.” – Warhol

Ludwig Meidner ist tot. Ich wusste gar nicht, dass er so viel mit Frankfurt zu tun hat.

Donnerstag, 12. Mai 2011 – Zwölfuhrachtunddreißig, achtzehnkomma- sieben. Der Himmel ist zu. La Longines Présence – C’est ma!

Um halbsechs aufgewacht, sofort extrem bewegte Kopfmaschine. Nicht gut. Anderthalb Stunden mit dem Olmo über die Hohe Straße. Keiner begegnet mir. Niemand! Doch: Auf dem Hühnerberg flitzt ein Feldhase fünfzig Meter vor mir her und bricht dann nach rechts ins Unterholz aus.

Sie ist Lehrerin. Er ist Polizist. Beide stammen aus der kleinen Stadt Spangenberg im Südosten von Kassel. Sie haben sich in der Schule kennen gelernt, geheiratet, ein preiswertes Grundstück gekauft und mit viel Nachbarschaftshilfe ein ansehnliches Haus gebaut, in dessen Garten sie im Sommer gerne mit Freunden grillen. Sie lesen jeden Tag die HNA, ihre nordhessische Lokalzeitung, so wissen sie immer, was in der Umgebung los ist und wo es die besten Angebote gibt. Sie fühlen sich wohl in dem Ort und waren sich immer einig, nie von hier wegziehen zu wollen, wo ihre Eltern wohnen, wo sie jeden kennen, wo das Leben bezahlbar und gemächlich ist. Die Großstadt wäre nichts für sie, auch wenn beide in Frankfurt arbeiten. Da sich ihre Arbeitszeiten nur selten decken, brauchen sie zwei Autos. Frankfurt liegt knapp hundertachtzig Kilometer von Spangenberg entfernt. Jeder von ihnen ist jeden Tag vier Stunden unterwegs. Unter seinen Kollegen bei der Frankfurter Polizei, unter den anderen Lehrern an ihrer Schule in Bockenheim gibt es viele, die es ähnlich machen. Pendler, die aus ihren Orten im Odenwald, in der Rhön oder vom Edersee kommen und dorthin jeden Abend zurückfahren. Sie alle wussten, als sie ihre Berufe wählten, dass man als Polizist oder Lehrer kaum eine Chance hat, eine Stelle in der Heimat zu bekommen. Fragt man sie, warum sie sich trotzdem dafür entschieden haben, antworten sie fast einhellig: Weil es sich um sichere Berufe handelt.

So weit die Geschichte. Aber wie sie mich aufregt, wie mich diese Haltung wahnsinnig macht. Wie kann jemand, der nicht in Frankfurt lebt, Frankfurter Kinder erziehen wollen, wie kann er sich hier mit Autofahrern, Jugendlichen und Dealern anlegen? Es geht nicht, es kann nicht funktionieren. Diese Stadt hat einen anderen Sound, einen anderen Rhythmus, eine andere Sprache als Spangenberg, Lorsch oder Biedenkopf. Niemand kann etwas dafür, wo er herkommt, aber jeder kann sich entscheiden, wo er lebt. Was wollen uns diese verdrückten Hinterwäldler über unsere Stadt erzählen, wie wollen sie unser Leben mitbestimmen, wenn sie nicht in unserem Saft zu Hause sind? Es sind Provinzspießer, die nicht einmal wissen, wie ein Großstadtspießer tickt. Sie schlendern mal über die Zeil, sie gehen mal in den Elektronikmarkt an der Konstabler, um sich einen Automatikheber für ihr beschissenes Provinzdoppelgaragentor zu kaufen … und dann … nichts wie weg, nach Hause, nach Spangenberg, wo man am Wochenende den Freunden am Kugelgrill wieder schaurige Geschichten aus der großen Welt erzählt. Und was ist das überhaupt für ein verkrüppelter Grund, Polizist oder Lehrer zu werden: Sicherheit? Ich will nicht, dass so ein Sicherheitsspießer meine Tochter erzieht. Ich will nicht, dass mir so ein Sicherheitskretin sagt, dass ich auf dem Radweg zu fahren habe. Was für ein beschissenes, verkrüppeltes Nummersicherleben! Ich will das nicht auch noch bezahlen. Ich will’s nicht!

Kall, mei Droppe!

Ich trink heut mal nur Wasser.

Dritter Todestag von Robert Rauschenberg.

Mittwoch, 11. Mai 2011 – Fünfuhrsechs, fünfzehnkommanull. Draußen: unglaubliches Gezwitscher, dämmert schon, Wolken. Wach seit kurz vor vier. Alptraum: P. weint und schluchzt und weint und ist nicht zu beruhigen. Stehe auf, schaue nach, aber sie liegt ganz ruhig in ihrem Bett. Ich nun nicht mehr.

Spiegel: Zu den Oscar-Verleihungen erschienen Sie bauchfrei oder im Irokesen-Look. War das Provokation?
Cher: Nein, ich hatte Lust dazu. Ein Dresscode für Künstler, das ist doch Schwachsinn. (…) Künstler sollen frei sein. Wie kann jemand frei sein wollen und sich gleichzeitig vorschreiben lassen, wie er sich anzuziehen hat?

Da widerspricht man, da legt man sich an, da setzt man der Wirklichkeit Sprachwiderstände entgegen, da setzt man der Sprache Wirklichkeits- widerstände entgegen, dann kommt die Dame von der Volkszählung, die jetzt Zensus heißt, überreicht den Fragebogen … und … wo findet man den eigenen Beruf wieder? Unter: SONSTIGE DIENSTLEISTUNGEN.

C: „Einmal macht jeder den Fehler, dich einzuladen”.

ich will nicht dazugehören
ich will nur dabei sein

Lex Barker ist tot.

Dienstag, 10. Mai 2011 – Sechsuhrvierunddreißig, dreizehnkommazwei. Nach dem Aufwachen gleich eine Runde über die Ländereien. Der Dill ist hinüber, das ganze Kräuterbeet eine einzige Verheerung. Verdächte: der Nachtfrost, die Mittagssonne, zu viel Wasser, zu wenig Wasser, die Katzen, die Schnecken, mein Unvermögen.

Ich möchte Sie zu einem fröhlichen Beisammensein am Montag, dem 9. Mai 2011 von 16.30 bis 18.30 Uhr, in die Schwanenhalle und das Römerhöfchen bitten.
Dr. h.c Petra Roth
Oberbürgermeisterin
Frankfurt am Main, im April 2011.
Der Eingang zur Schwanenhalle befindet sich gegenüber der Paulskirche, Paulsplatz 3.
U.A.w.g. auf beiliegender Antwortkarte bis 5. Mai 2011. Bitte wenden.
Diese Einladung gilt als Einlasskarte.
Wir bitten, sie bei Betreten des Römers dem Aufsichtspersonal vorzuzuzeigen.
Die Karte ist gültig für eine Person und nicht übertragbar.

Frische Jeans, frisches Hemd, Jackett, Crockett & Jones. Eigentlich ganz passabel. Auf dem schwarzen Mountainbike in die Stadt. Hoffentlich bin ich nicht gleich durchgeschwitzt. Zu spät losgefahren. Kurz nach halb am Römer. Vor dem Eingang eine Gruppe älterer Herren, alle in dunklen Anzügen, alle mit Krawatten. Sofort komme ich mir falsch vor. Kurz der Impuls: Junge, kehr um! Du. Bist. Hier. Falsch. Du bist untenrum nackt. Ein Paria. Underdressed. Ich hasse es, underdressed zu sein, weil es immer so wirkt, als wolle man damit etwas ausdrücken, als wolle man provozieren. Aber ich will nicht provozieren. Das Problem ist bloß, dass ich so viele Jahre nur Jeans getragen habe, dass ich mich in jeder anderen Hose unbehaglich fühle, verkleidet – wie ein Banker, der ich nicht bin, wie ein Rechtsanwalt, der ich nicht bin, wie ein Verleger, der ich nicht bin. In diesem Leben werde ich kein Anzugträger mehr werden. Ich bin falsch hier, aber stehe schon in der Schlange. Anstehen für das Gästebuch. Ich kenne wirklich NIEMANDEN. Ich werde hier nicht fröhlich beisammen sein, sondern einsam rumstehen wie ein untenrum nackter Paria. Dann eine kleine Erleichterung: Hinter mir kommt Joachim Unseld rein. Er hat ein mit Plastikfolie umwickeltes Paket in der Hand. Bücher. Sagt er. Was sonst? Was soll ein Verleger der Oberbürgermeisterin sonst zum Geburtstag schenken? – Zum GEBURTSTAG? Ich hatte ja keine Ahnung, dass das hier die Geburtstagsfeier … Wie komme ich dann hier her? Was habe ich hier verloren? Aber es ist zu spät. Da steht sie schon. Ich gratuliere ihr und sage, dass ich ja keine Ahnung hatte, dass sie heute … Sie lächelt, dann schaut sie Joachim an: „Und da haben Sie ihn einfach mitgebracht?” – Das heißt … oh Gott … sie weiß nicht mal, dass sie mich eingeladen hat, sie denkt, ich hätte mich hier REINGEWANZT. Wie grauenhaft peinlich mir das alles ist.
Aber wie immer, wenn etwas wirklich peinlich ist, setzt sofort der Gegenreflex ein: Wenn es peinlich ist, ist es eigentlich lustig. Man muss einfach ein anderer werden; dann ist es, als würde man einen Woody-Allen-Film sehen. Ich bin nicht mehr ich. Ich bin nicht mehr peinlich. Ich bin der, der dem peinlichen Woody zuschaut.
Achtzig, hundert Gäste. Ein paar erkenne ich nun doch. Adel. Geld. Journalismus. Magistrat. Und Moritz Hunzinger. Jutta Ebeling hält eine Rede. Sie sagt, dass dank der Oberbürgermeisterin die Stadt Frankfurt in der „Pool Position” sei – PUHL POSISCHN. Dass wir der kürzlich verstorbenen Mutter der Oberbürgermeisterin dankbar sein müssen, weil sie ihre guten Gene an die Oberbürgermeisterin weiter gegeben habe. Dass man den Geburtstag der Oberbürgermeisterin eigentlich mit allen Frankfurtern feiern müsse, aber hier heute wenigstens die wirklich wichtigen Leute versammelt seien. Denn wenn sie nicht wichtig wären, wären sie nicht hier. – Wie kann jemand von sich selbst sagen, dass er wichtig sei? Was ist wichtig daran, wichtig zu sein? Ich will nicht wichtig sein. Wichtig ist kein wichtiges Wort für mich. Aber jetzt will ich auch nicht mehr weg hier. Jetzt will ich mitschreiben.
Jetzt will ich aufschreiben, dass ich einen Mann sehe, der ebenfalls eine Jeans trägt. Aber statt froh zu sein, dass wir jetzt zu zweit sind, denke ich: Was hat denn der hier zu suchen, dieser untenrum nackte Paria? Der will wohl provozieren … Ich mache mit ihm, was die anderen mit mir machen: Ich werfe einen kurzen, abschätzigen Blick auf seine Jeans, hebe leicht die Brauen, blähe kurz die Nüstern und wende mich ab. Ich lasse ihn ABPERLEN! Aber er lässt sich nicht abperlen. Wir kennen uns doch, sagt er. Es ist der Boris von der FNP, der früher beim Journal war. Wir waren doch schon beim Du, sagt er. Und dass er bald mal ein Gespräch mit mir führen will, dazu aber meine Kontaktdaten braucht. KONTAKTDATEN. Zehn Minuten lang fummelt der Boris an seinem Smartphone rum, dann hat er meine Kontaktdaten abgespeichert. GESAVED. Das da ist Frau Rottmann, sagt der Boris. Frau Rottmann hat heute ebenfalls Geburtstag. Sie empfängt ebenfalls Glückwünsche. Sie bekommt ebenfalls ein Geschenk. Sie ist das jüngste Magistratsmitglied. Sie wird, flüstert mir der Boris zu, als neue OB-Kandidatin gehandelt. Aber dann will der Boris noch eine Runde bei den wirklich wichtigen Leuten drehen.
Als ich den Arning sehe, wird alles anders. Ich bin wieder ich, und meine Jeans ist mir nicht mehr peinlich. Der nette Herr Münster vom Presseamt kommt hinzu, und wir unterhalten uns zu dritt über Politik. Ganz richtig und ganz konzentriert. Über Guttenberg und die Moral und die Erziehung und die Demokratie und die Banken. Und der nette Herr Münster sagt, wie sehr man geschluckt habe in der Stadtverwaltung, damals vor zehn Jahren, als mein Text über Frankfurt in der Zeit erschienen sei. Aber, sage ich, das war doch eine Liebeserklärung. Doch das sieht der nette Herr Münster anders. Darf er ja auch. Wir leben ja in einer Demokratie. Und als ich dann von weitem das schöne, freundliche Gesicht von Eva Demski sehe und wir uns eine halbe Stunde lang freundlich anhimmeln, will ich eigentlich nie mehr weg aus der Schwanenhalle und dem Römerhöfchen, sondern will meine Isomatte und meinen Schlafsack auf den Boden legen und für immer hier bleiben und mir einbilden, dies sei das Herz der Demokratie, wo ich gar nicht falsch sein kann, sondern hingehöre wie alle anderen jeanstragenden Parias dieser Welt.

Setze mich dann aber doch wieder auf mein schwarzes Mountainbike und fahre zu Feivel Szlomowicz in die Töngesgasse, um ihm meine mechanische Glashütte-Uhr zu bringen, die er sofort öffnet und durch seine riesige Kopflupe anschaut: „Alte DDR-Kunst, aber leider total verdreckt”, sagt der Mann mit dem schönsten Namen Frankfurts.

Heute vor einundfünfzig Jahren ist Juri Olescha gestorben.

Samstag, 7. Mai 2011 – Siebenuhrzweiunddreißig, zehnkommasechs. Schon da, die Sonne.

B: Gut geschlafen?
A: Bis zur ersten Dämmerung, bis um fünf. Dann musste ich pinkeln.
B: Du solltest länger schlafen. Nimm dir ein Beispiel an mir. Ich räkle mich noch …
A: Schon in Ordnung. Ich musste auch gucken, ob die Kräuter über Nacht gewachsen sind. Und was meine Auktionen machen. Ich brauche einen kleinen Arbeitstisch aus Holz, ein paar neue Reifen für das Olmo und eine Uhr.
B: Aber du hast dir doch erst letztes Jahr die schöne Glashütte gekauft, was brauchst du schon wieder für eine Uhr?
A: Kann ich nicht verraten, sonst schaust du sie dir an, verliebst dich in sie und schnappst sie mir weg. Sie ist in Tel Aviv.
B: Irgendwas passiert diese Woche, das wir aufschreiben müssen?
A: Lass mich überlegen. Am Mittwoch war Jürgen da; wir haben Hans-Ulrich Schlumpfs vierzig Jahre alten Film über Armand Schulthess geguckt …
B: Nicht so schnell. Das waren wieder zu viele Namen in einem Satz …
A: Schulthess, dieser Schweizer Einsiedler … Ich hab dir von ihm erzählt. Er war zweifellos verrückt. Sein Haus war eine Müllhalde. Aber alles, was er gemacht hat, war Kunst … Seine Objekte, seine Montagen. Das war besser als Schwitters, besser als Brinkmann, besser als Warhol …
B: Mach mal halblang. Sonst noch was?
A: Am Freitag waren wir in Königstein. Auf der Rückfahrt haben wir in der Nähe vom Opel-Zoo diesen alten, leerstehenden Flachbau fotografiert. Es war schon fast dunkel. Falkensteiner Straße Nummer 1. Wäre ein guter Drehort. Vielleicht wird sich Süleyman dort verstecken.
B: Du fragst nie, wie es mir geht. Ich glaube, ich bin nur dazu da, dir Stichworte zu geben.
A: Ja, aber dafür liebe ich dich. Gestern gab es Kalbskotelett mit Salbei-Limetten-Butter …
B: Hör auf! Du wirst noch mal als Kalbskotelett wiedergeboren. Du weißt, ich finde es widerwärtig über Fleisch zu sprechen …
A: Ja, ich weiß. Manchmal wäre ich auch lieber ein schmaler, vegetarischer Künstler mit Pigmentstörungen, der in Manhattan …
B: Was liest du gerade?
A: Andy Warhols Philosophy.

Salieri ist tot.

Mittwoch, 4. Mai 2011 – Fünfuhreinunddreißig. Dämmerung. Glaubt man’s denn: minus nullkommasieben. Wenn bloß der junge Dill nicht erfroren ist!

Der Göttinger „Mescalero”, April 1977: „Meine unmittelbare Reaktion, meine ‚Betroffenheit‘ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen.”
Angela Merkel, Mai 2011: „Ich freue mich darüber, dass es gelungen ist, Bin Laden zu töten.”
Ob der Ring Christlich-Demokratischer Studenten nun Strafantrag gegen Angela Merkel stellt, wie er es 1977 gegen den Göttinger “Mescalero” getan hat?

Das Jahr der großen Wagen? Gestern Jürgen K. mit seinem neuen Mercedes. Ziert sich ein wenig: Soll er sich schämen oder soll er stolz sein? Schon ein bisschen stolz, oder? Aber will keinen Espresso, will keinen Wein, will kein Clausthaler – macht mich immer ganz hilflos, wenn jemand da ist, der gar nichts will.

Wie mich mein eigener Ton hier manchmal nervt. Dieses simulierte Selbstgespräch, diese hilflosen Huchs und Achs – kokette Gefühlssurrogate. Es ist eben doch nicht so, dass man ein einmal erreichtes Niveau von selbst würde halten können. Die eigene Substanz wird jeden Tag unterminiert, jeder Klick im Netz, jeder Gang durch den Supermarkt, jede Radiomoderation, jede Minute Fernsehen ist ein Angriff, der nicht ohne Folgen bleibt. In dem Moment, wo wir aufhören, uns dagegen zu wehren, werden wir sofort dümmer, gröber. Aber … ich rede ja wie ein Amish.

… sich neu erfinden
… fühlt sich an
… Halloooo?

Interjektionen vermeiden!

Ossietzky ist tot.

Dienstag, 3. Mai 2011 – Vieruhrdreiundfünfzig, fünkommanull. Aufgewacht, auf die Uhr geschaut und … schon vieruhrzwanzig … rasch raus … sonst wird der Tag zu kurz. Noch keine Zeitung da?

Gestern den ganzen Tag rumgefummelt an paar Sätzen, die Asche sind, ohne überhaupt gebrannt zu haben.

Abends Christian, fährt im offenen Jaguar vor, bringt Spargel und Schinken mit. Hat sich in Köln eine neue Kappe machen lassen. Hat in Paris im Café in der Rue de Seine den ehemaligen Staatspräsidenten Jacques Chirac kennengelernt. Hat in Fès eine Skulptur gekauft – das Unterteil eines alten Heißwasserboilers. Fährt nach Agay, um Margarete abzuholen. Warum reden wir nicht über Bin Ladens Tod? Gibt nichts zu reden. Ist halt so. Lieber über Manet, Monet, Money.

Titelthemen: Diskutieren Sie mit! Wir fragen Deutschland: Was ist den Detmoldern bei der Alterssicherung wichtig? Sehen Sie hier alle Matussek-Folgen! Hier finden Sie Ihre Aboprämien! Ihr Hessen-Star: Stimmen Sie ab! Wer soll der nächste Stern am Schlagerhimmel sein? So denkt Deutschland. So feiert Deutschland. So teuer wohnt Deutschland. Hat sich Sarah ins DSDS-Finale geheult? Danuta, süße Polin, wartet schon auf dich. Auch Dusch- und Badeservice. Bin Ladens Seebestattung – Sein Körper glitt ins Wasser.

Shakespeare ist tot.

Montag, 2. Mai 2011 – Vieruhrfünfzig, achtkommasechs. Wach seit kurz vor vier. Dunkel. Laut.

Vor sich selbst macht Rühmkorf in den Tagebüchern unentwegt Männchen. Frauen überzieht er gerne mit seinem Schneckenblick. Hat man das als Schreib- und Lebenshaltung dieses Autors erkannt, genügt eine solche Formulierung, um die Lektüre abzubrechen: „Dolle Frau, und dann sogar noch die meine.” Wenn man dazu weiß, dass dieser Mann … Nein, still!

Als ich vor Jahren in die Sprechstunde des Literaturprofessors kam, um mit ihm das Thema meiner – dann nie zu Ende geschriebenen – Arbeit zu besprechen, schaute der kleine Mann, der es liebte, die langbeinigsten (oder muss es heißen: längstbeinigen?) Studentinnen ganzjährig zum Tanz in den Mai auszuführen, mich aus feuchten Augen an: „Hauptsache”, sagte er, „Sie kommen mir nicht mit Max Frisch.”
Gestern Abend nun wieder in Frischs Nachkriegstagebücher geschaut, mich sofort festgelesen und gedacht: Der will was, der will mehr als nur Männchen machen … Kein Wunder also, dass der Betrieb ihm übel nachredet.

Jetzt, um fünfuhrvierundzwanzig, beginnt es im Osten zu dämmern. Der Himmel in den Farben eines frischgeschmiedeten Eisens, das gerade eben aus der Esse gezogen wird.

Vierundvierzigster Todestag von Ernst Friedich, Pazifist, Anarchist, Museumsgründer.

Samstag, 30. April 2011 – Elfuhrzwölf, sechzehnkommazwei. Leicht gefleckt, der Himmel.

Nach dem kurzen, stürmischen Regenguß gestern Abend: Was für ein klares, wunderweiches Licht! Und die schwarzvioletten Tulpen, die sich in der weißen, taillierten Vase bereits neigen, leuchten matt ein letztes Mal.

… und dann von Lotte die Mail, dass ich eingeladen sei zum Patti-Smith-Konzert im Mousonturm. Sagt mal, wollt ihr mir jetzt … auf die alten Tage … die Gnade gewähren, einen kleinen Abend Glück … Dass man am Ende wird zugeben müssen, es würde sich doch noch Mal lohnen … eh man noch … ins Stammeln … vor lauter … Rührung … ach …

Gerade dachte ich noch, Ai Weiwei sei der Christoph Schlingensief des neuen Jahrzehnts, aber dank der Kulturzeit weiß ich nun: er ist der Voltaire des neuen Jahrtausends.
Dass er endlich freikommt und wieder eine Ruh ist um diesen Zausel!

Adolf Hitler ist tot.

Freitag, 29. April 2011 – Sechsuhrachtundvierzig, elfkommadrei. Rötlich.

Man kann also nicht nur friedlich einschlafen, sondern auch friedlich aufwachen. So wie heute Morgen: ausgeruht, in die Dämmerung hinein und um Viertel vor sechs das erste Mal auf die Uhr geschaut. Aufs Klo gegangen. Zähne geputzt. Espresso gepresst. Und mich gefragt: Was macht eigentlich Rainald Goetz?

Die Frage an das MacBook weitergegeben und ein schönes Gespräch mit Christoph Amend aus dem herbstlichen Zeitmagazin gefunden. – „Je weiter oben die Leute sind, je mächtiger sie sind, umso unverschämter sind die Ordinärheiten im Umgang, das ist die Erfahrung”, sagt Goetz.

Flennen und wundern. – Gibt es eigentlich anmaßendere Menschen als jene, bei denen sich Denkfaulheit und Sentimentalität treffen? Sie wundern sich über alles, sie nehmen alles persönlich und halten jeden für „kalt”, der seine Gefühle nicht wie sie exponiert. Sie weinen vor Angst, vor Rührung, vor Erschöpfung – ein Anlass findet sich immer. Oft lächeln sie auch blöde, um ihre Gutmütigkeit zu demonstrieren.

Ich wünschte, Petra Roth wäre jetzt hier und würde sich diesen Krach, der von der Autobahn herüber weht, mal anhören.

Todestag Isaac von Sinclairs.

Donnerstag, 28. April 2011 – Fünfuhrvierundzwanzig, zehnkommadrei. Noch dunkel, aber schon die Vögel. Der Fünffachmord von Nantes, der die Pariser Zeitungen füllte, ist jetzt auch in den deutschen Schlagzeilen angekommen.

In der gestrigen Kulturzeit ein Bericht über Armand Schulthess, einen Künstler, einsamen Erotomanen und Enzyklopädisten, der im Valle Onsernone in einem achtzehntausend Quadratmeter großen Kastanienwald hauste, wo er sich 1972 zu Tode stürzte. Das alles wirkt so begnadet wahnsinnig, dass ich sofort eintauchen möchte in dieses zerstörte Universum.

Zeitig in den Abend gedämmert – erst mit dem Pachelbel-Kanon, dann mit Schostakowitschs Quintett Op. 57. Schließlich mit Schönberg in die „Verklärte Nacht” und in den Schlaf gerutscht.

Aber vor zwei Stunden – um halbvier – schon wieder missmutig aufgewacht. Seit Montag geht das so. Zieht mich was? Drückt mich was? Quält mich was? Ja, es ist wohl die neueste Attacke auf die Geisterbahn, die mir den Schlaf raubt. Alle paar Monate gerate ich durch das Journal in einen kräftezehrenden Zwist. Und fühle mich jedes Mal dermaßen angefasst, in Frage gestellt – nicht nur in meiner Arbeit, sondern in meiner gesamten Existenzform, so sehr, dass die Nerven wie Äolsharfen wimmern. Aber was soll ich machen? Mich zensieren, mich verstellen? Ein nichtöffentliches Tagebuch führen? Aber nein, das käme mir reizlos vor. Dann lieber den Betrieb hier ganz einstellen, auch wenn es ein bisschen wie Sterben wäre … Wahrhaftig, ich bin kurz davor!

Am 28. April 1945 wurden Benito Mussolini und seine Geliebte Clara Petacci von Partisanen erschossen und anschließend an den Füßen aufgehängt.

Mittwoch, 27. April 2011 – Fünfuhreinundfünfzig, neunkommadrei Grad. Heftiges Gezwitscher.

Was man sich antut.
Wie man sich windet.
Wie man sich täuscht.
Wie man davonkommt.
Und dennoch vergeht.

So ruchlos sei es zu Zeiten in den Kaschemmen des Palais Royal zugegangen, dass man den Künstlern, die dort zur Unterhaltung der Gäste auftraten, den Anblick nicht habe zumuten können, weshalb man ein Orchestre des Aveugles habe aufspielen lassen, ein Orchester der Blinden.

Dreißig Seiten in Rühmkorfs Tabu I gelesen. Eindruck: Fingerschnippender Formulierungseifer, zirkuspudelhaft.

Am 27. April 1933 sprang der Reichstagsabgeordnete Albert Funk während eines Verhörs durch die Gestapo aus dem dritten Stock des Polizeipräsidiums Recklinghausen und verletzte sich so schwer, dass er noch am selben Tag starb.

Dienstag, 26. April 2011 – Siebenuhrdrei, sechskommacht. Wach seit fünf. Schon jetzt sehr sonnig.

Am Mittwoch ein kurzer Schlenker zu Günter Amendts Grab auf dem Bockenheimer Friedhof.
Donnerstag Paris. Hotel Relais Bergson in der Avenue Simón Bolivar. Klein, eng. Der Hotelier eine verkniffene Karikatur. Im Parc des Buttes Chaumont legen wir uns ein Weilchen in die Sonne. Kurze Runde durch Belleville, und zum Essen ins Röllchen. Zurück über den Boulevard de la Villette, wo lauter kurzberockte Asiatinnen stehen, die so bieder, so wenig verführerisch aussehen, dass es dauert, bis ich kapiere, was sie hier tun.
Freitagmorgen zu Manet und Berthe Morisot auf den Cimetière de Passy. Auf die Suche nach dem Grab von Fernandel mache ich mich gemeinsam mit einem Englisch sprechenden Franzosen, der zuversichtlich ist, dass wir es finden werden: „They don’t move”, sagt er über die Bewohner des Friedhofs. Aber die schöne, unglückliche, tote Prinzessin Leila Pahlevi lächelt, als würde sie leben. Durch das monströse Palais de Chaillot runter an die Seine. Am Karussell unterm Eiffelturm warte ich eine Stunde in der Mittagssonne, während zwei Männer einen neuen Softeisautomaten aufstellen, fünf schwarze Arbeiter die Straße asphaltieren, zehn Eiffelturmverkäufer mir ihre kleinen Eiffeltürme verkaufen wollen und tausende Touristen an mir vorüberziehen. – Karfreitagsprozession in Saint-Germain-des-Prés, ausgerechnet vor dem Café de Flore geht der Priester auf die Knie. An das Tabou in der Rue Dauphine erinnert nichts mehr. Dann in die Rue de Tournon, wo Joseph Roth seine letzten Jahre verbracht hat. Sorbonne, École Normale Supérieure, anschließend Jardin du Luxembourg mit Maria und den Kindern. Abends wieder Belleville. Essen im Reuan Thai – geht so. Bier aus Dosen auf der Mauer an der Metrostation.
Samstag. Eine Stunde in der Schlange vor dem Musée d’Orsay, um in die Manet-Ausstellung zu kommen. Man fragt sich, warum das Werk dieses Malers plötzlich so viele Bewunderer findet. Oder ob sich nicht zwei Drittel der Besucher wundern werden, dass keine Seerosen auf den Bildern zu finden sind. Schade, dass die Nana in diesem Himmel fehlt. – Tuilerien, Palais Royal, Passagen. Dann Rue du Faubourg Saint-Denis zum Buffet Adelia, Passage Brady und lange auf dem Platz vor dem Centre Pompidou, wo sich zwei Artisten mit den Musikern einer Brassband streiten. Essen auf dem Boulevard de Belleville: Chez Hunza – ziemlich gut. Wieder Bier auf der Mauer, diesmal mit der verrückten Madame Isabelle, die uns eine große Dose Kronenbourg entlockt.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Garage in der Avenue Secrétan, wo unser Auto abgestellt ist, kommen wir am Etablissement Scolarie Lucien de Hirsch vorbei. Im Sommer 1944, kurz vor der Befreiung, sind von hier aus über hundert jüdische Schüler und ihre Lehrer mit dem letzten Zug nach Auschwitz deportiert worden.

John Heartfield ist tot.

Montag, 18. April 2011 – Zehnuhrzwanzig, siebzehnkommaacht. Wird ein Tag.

Ganzen Donnerstag Lektüre: „Das siebte Kreuz”. Abends Nationalbibliothek „Seghers trifft Seghers”, dann Nibelungen-Schänke.
Freitag nach Dietzenbach ins Bürgerhaus – Vor dem drohenden Desaster retten mich Jürgen K. und der unglaubliche Herr Spiegel.
Samstag Hohe Straße, abends Zanderfilet.

Gestern um halbsechs aufgewacht, durch die Streuobstlandschaften ins Sinntal. Schöner kann das Land nicht sein, als an einem Sonntagmorgen Ende April. Wieder in Schwarzenfels – auf der Burg ein blonder Riese im dicken Leinenwams, vielleicht der Herbergsvater, die Kühe brüllen, die Hähne sagen auch Guten Morgen. Auf der A 7 über Uttrichshausen hinweg (dass es wenigstens mal erwähnt sei, wenn man schon dort herstammt) nach Michelsrombach – dort Proben für das Liebesprogramm. Abends ins Schauspiel, Vorstellung des Bahnhofsviertel-Buches von Jürgen R. und Jürgen L. Dann Mosel-Eck. Weit nach Mitternacht raus – fast bewusstlos. Rettung durch Jürgen W. Mit dem Taxi heim.

Vier Jürgens allein in diesem Eintrag.

Und? Fällt dir auch was zu Ai Weiwei ein? – Na ja, dass ich dabei war, als während der documenta 12 im Juni 2007 ein Unwetter über die Kasseler Karlsaue hereinbrach, den Pavillon unter Wasser setzte und Ai Weiweis Skulptur Template in sich zusammen fiel.

Tot ist Marie de Rabutin-Chantal, die Marquise de Sévigné.

Mittwoch, 13. April 2011 – Siebenuhrdreiundfünfzig, vierkommaneun. Gemischt.

„Ich will singen – wie ein Rennpferd”
Herbert Grönemeyer in kulturzeit über seine Bedürfnisse.

„Dann heftet er Orden um Orden an verdiente Brüste der Raumfahrt”
ZDF heute über die Tätigkeit des russischen Präsidenten während des Gagarin-Jubiläums.

Vor zwei Jahren starb Abel Paz.

Sonntag, 10. April 2011 – Siebenuhrdreiundvierzig. Das Außenthermometer ist defekt. In den Häusern und Gärten alles noch ruhig. Die Rotschwänze tollen im taunassen Gras.

Lustig, dass H. mich verdächtigt, heimlich doch ein Mobiltelefon zu besitzen, ihm aber meine Nummer nicht geben zu wollen und ihn so aus dem Kreis der Eingeweihten auszuschließen. Er hingegen, der zugibt, mit seinem iPhone nichts anderes anfangen zu können, als zu telefonieren, ist der Meinung, dass dennoch jeder ein solches besitzen sollte – allein der Schönheit wegen.

Abends „Tokyo-Ga”. Wie unangenehm naiv, wie angenehm offen ist dieser Film. Kaum ein anderer Regisseur misstraut den eigenen Wahrnehmungen so stark wie Wenders.

Tot ist die Sängerin Eva Narcissus Boyd, genannt Little Eva („Loco-Motion”).

Mittwoch, 6. April 2011 – Sechsuhracht, fünfkommafünf. Dunkel. Die Vögel.

Hütet euch vor Liberalen,
Die nur reden, die nur prahlen,
Nur mit Worten stets bezahlen,
Aber arm an Taten sind:
Die bald hier-, bald dorthin sehen,
Bald nach rechts, nach links sich drehen
Wie die Fahne vor dem Wind.

Hütet euch vor Liberalen,
Jene blassen, jene fahlen,
Die in Zeitung und Journalen
Philosophisch sich ergehn:
Aber bei des Bettlers Schmerzen
Weisheitsvoll, mit kaltem Herzen
Ungerührt vorübergehn.

Hütet euch vor Liberalen,
Die bei schwelgerischen Mahlen
Bei gefüllten Festpokalen
Turm der Freiheit sich genannt
Und die doch um einen Titel
Zensor werden oder Büttel
Oder gar ein Denunziant.

Robert Eduard Prutz (Dichter des Vormärz), um 1848

Heute vor fünf Jahren starb der gute Boehlich. Und ich war noch immer nicht an seinem Grab.

Dienstag, 5. April 2011 – Dreizehnuhreins, fünfzehnkommavier. Trotzdem frisch.

Weißt du, wer der nackte Jörg ist?
„Papa, jeder, der in dieser Stadt lebt, kennt den nackten Jörg.”
Weißt du auch noch, wann du ihn zuerst gesehen hast?
„Nein.”
Du warst drei oder vier Jahre alt. Es war vor vielen Jahren irgendwann im Spätherbst. Wir fuhren im Bus am Südfriedhof vorbei, als draußen der nackte Jörg über den Bürgersteig lief. Und du hast gesagt: ,Guck mal, Papa, da draußen der Mann! Der kriegt ja ganz kalte Füsse.’

„Scham ist ein revolutionäres Gefühl.” (Johannes R. Becher)

Dieser Tage immer wieder die unverhoffte Freude, dem wunderschönen, blau-weiß-roten „Bildnis der Heinrike Dannecker” von Christian Gottlieb Schick zu begegnen – weil es das Plakatmotiv der gerade eröffneten deutschen Ausstellung in Peking ist.

Das Wort Zeitgenosse. Will man das sein, ein Genosse seiner Zeit? Eher ja, oder?

Tot ist Allen Ginsberg, dessen „Planet News”, ein kleines gelbes Bändchen der Reihe Hanser, ich vor sechsunddreißig Jahren eine Saison lang in den Taschen meines sandfarbenen Teddy-Mantels spazieren trug.

Tagebuch mit Toten
@ Jan Seghers

Freitag, 1. April 2011 – Neunuhrneunundvierzig, in der Sonne schon siebzehnkommadrei Grad. Um vier Uhr hadernd aufgewacht.

Die Goldnuss – Immer mal wieder dachte ich darüber nach, an wen mich die Grünen-Chefin Claudia Roth erinnert. Und kam nicht drauf. Bis ich merkte, dass die Frage falsch gestellt war. Richtig hätte sie lauten müssen: An was erinnert mich Claudia Roth? Nämlich an eine milchzahnbrechende Süßigkeit meiner Kindheit, an die Goldnuss der Firma Küfa aus dem lippischen Dörentrup. Fast möchte man so verwegen sein zu behaupten: Claudia Roth erinnert an eine Goldnuss auf Speed.

Vernebelter Aufklärer – Kaum eine regelmäßig erscheinende Druckschrift, in der weniger sprachliche Lässigkeiten zu finden sind, als im Monatsmagazin konkret. Groß ist die Freude des Muckers, wenn er doch mal einige findet, noch dazu in nur einem Satz. Im Märzheft schreibt Jörg Kronauer: „Das Paradebeispiel schlechthin für skandalöse Besitzverhältnisse im Medienbereich ist natürlich Italien.” Warum Parade? Warum schlechthin? Was ist daran natürlich? Und wie kann etwas skandalös sein, wenn es zugleich natürlich genannt wird? So etwas heißt man wohl: Nebel der Aufklärung.

Alles – Ich wusste nichts über Winfried Kretschmann, den künftigen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg. Als ich las, dass er sowohl von Heiner Geißler als auch von Martin Walser geschätzt wird, hatte ich den Eindruck, alles über ihn zu wissen.

Treffer – Todestag von Hans Filbinger.

Dienstag, 29. März 2011 – Siebenuhrfünfundfünfzig, fünfkommasieben. Schon schön.

Hiermit verbiete ich Eva Demski und Michael Herl, jemals – gleichgültig, ob öffentlich oder privat – zu behaupten, ich hätte gestern, am Montag, dem 28. März 2011 gegen 22 Uhr in der Nibelungenschänke in Frankfurt am Main eine für drei Personen portionierte Nachspeisenplatte – bestehend aus Mousse au Chocolat, Karamellcreme und griechischem Honigjoghurt mit Walnüssen – alleine aufgegessen. Ich verbiete es ihnen, weil es nicht stimmt, nicht stimmt, nicht stimmt. Erstens war es bereits 22.30 Uhr, zweitens habe ich sie nur fast aufgegessen, diese extrem leckere Nachspeisenplatte.

Am 29. März 1963 starb die Sängerin Texas Ruby Agnes Owens an einer Überdosis Mousse au Chocolat …nein, sie war mit einer brennenden Zigarette in ihrem Wohnmobil eingeschlafen.

Montag, 28. März 2011 – Zehnuhrvierundfünfzig, dreizehnkommavier. Neue Zeit. Nicht ganz so wolkenlos wie angekündigt.

„Mit spitzer Feder aufgespießt” – Wenn mein Lieblingssender hr2 kultur diese Formulierung ein weiteres Mal in die Welt entlässt, werde ich mein Autoradio mit stumpfem Hammer …

Durchmarsch der Grünen. Na und? Demokrat bleiben und nie den alten Anarchistenspruch vergessen: „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten.”

Letzte Woche brachte Erdal das Buch mit, jetzt ist es ausgelesen: „Fluchtversuche: Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde”. Der wuchtige Bericht eines Jungen aus einer bosnischen Roma-Familie. Erstaunlich, wie gedankenlos und nassforsch der Herausgeber die Tatsache überspielt, dass hier ein Kind hundertfach durch schwule Freier missbraucht wurde.

Und jetzt – auf Hinweis von Helmut: „Menschen, Pferde, weites Land. Kindheits- und Jugenderinnerungen” von Hans Graf von Lehndorff. Dass mich aber auch fast alles interessieren muss … Na ja, ausser den exakten Wissenschaften; für die sind immer die anderen zuständig.

Virginia Woolf ist tot.

Freitag, 25. März 2011 – Elfuhrsechsunddreißig, fünfzehnkommafünf. Der Himmel weiß verschliert.

Es ist jeden Tag dasselbe. Gegen Mittag hört man einen Dieselmotor. Er gehört zu dem gelben VW Caddy der Postbotin. Der Motor wird abgestellt, die Fahrertür geöffnet und kurz darauf wieder geschlossen. Die Frau ist so mittel. Mittelalt, mittelgroß, mitteldick. Sie grüßt nicht gerne. Sie hat es eilig. Vielleicht ist sie menschenscheu. Die Klappen der Briefkästen klappern. Das Klappern kommt näher. Schließlich klappert auch die Klappe unseres Briefkastens. Ich warte, bis der Caddy sich entfernt hat, dann gehe ich raus, um den Briefkasten zu öffnen. Nur Rechnungen. Fünf Tage in der Woche. Samstags kommt eine andere Postbotin. Sie ist zu Scherzen aufgelegt. Sie fährt Fahrrad. Die Rotschwänze sind wieder da und die ersten Hummeln. Am Main die Trauerweiden sehen gar nicht traurig aus. Das frische Grün der Blätter leuchtet an den langen Ruten. Man hört jetzt wieder mehr Kinderstimmen. Und Radfahren kann man mit nackten Beinen.

Heute vor zweihundertundzehn Jahren ist Novalis gestorben.

Dienstag, 22. März 2011 – Sechsuhrsechzehn, nullkommavier. Wird langsam hell. Klarer Himmel. Und was für ein schöner, fetter Mond direkt über den Dächern.

Durch mit Paul Léautauds Kriegstagebuch 1939-1945. Ein unangenehmer Charakter – kriecherisch und hochmütig zugleich, ein renitenter Anpasser. Antidemokrat, Kriegsgegner, Tierfreund. (Am 20. November 1945 notiert er: „Wo ist mein Tierbestand aus der Zeit der Mobilmachung von 1914 geblieben: 38 Katzen, 22 Hunde, 1 Ziege, 1 Gans?”). Immerhin ein interessantes Bild jener Jahre in Paris …
Und gerade, beim Herumwildern im Netz, stoße ich auf eine Ausgabe von Gerhard Hellers Erinnerungen aus den Jahren 1940-1944: „In einem besetzten Land”. Gekauft. Und gleich auch noch Goncourts „Tagebuch der Belagerung von Paris”.

Guntram schickt einen Artikel der Neuen Zürcher Zeitung, in dem erstmals nachgewiesen wird, dass die Ehefrau Joseph Roths, Friederike (Frieda, Friedl) Roth, im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nazis am 15. Juli 1940 in der Gaskammer von Schloss Hartheim in der Nähe von Linz umgebracht wurde. Ein Jahr zuvor war Joseph Roth im Hotel Necker gestorben. Beerdigt wurde er auf dem Cimetière de Thiais.
Kurz vor dessen Tod traf Walter Mehring seinen betrunkenen Kollegen in Paris am Straßenrand sitzend: „Roth, warum trinken Sie so viel? Sie ruinieren sich doch!” – „Und warum trinken Sie nicht, Mehring? Glauben Sie, dass Sie davonkommen werden? Auch Sie werden zugrunde gehen.”

Gestern Kräuter gesät: Basilikum, rotes Basilikum, Petersilie, Schnittlauch, Kerbel, Rosmarin.

Nicht vergessen die Anekdote mit der nackten Anna Seghers …

Der Interbrigadist Harry Fisher ist tot. Vielleicht mal seine Autobiografie „Comrades” lesen.

Montag, 21. März 2011 – Sechsuhrachtzehn, minus nullkommaeins. Der Osten ist rot.

„Maudit printemps! Reviendras-tu toujours?”
Verwünschter Frühling, kehrst du stets zurück?
Béranger

Gestern Morgen Saisonauftakt in Niederdorfelden, seit anderthalb Jahren die erste RTF, siebzig Kilometer. Zurück mit Jörg und Ralf. Dann Kochen. Dann endlich mal wieder munteres Geschnattere mit Nägele und Arning – mein Gott, war das lang her.

„Wochenlang textest du die Geisterbahn mit dieser Guttenberg-Sache zu, aber kein Wort zu Libyen, kein Wort zur Katastrophe in Japan!” – Ist das wahr? Ja, tatsächlich, es ist wahr. Wird wohl etwas zu bedeuten haben. Aber von Götz kommt gerade sein „Tagebuch einer Katastrophe” mit einem Cioran-Zitat als Motto: „Indem die Natur den Menschen zuließ, hat sie viel mehr als einen Rechenfehler begangen: ein Attentat auf sich selber.”

Kurz der Impuls, hier eine ungeheure Obszönität abzubilden …

Nadar ist tot.

Donnerstag, 17. März 2011 – Elfuhreins, achtkommazwei, Suppe. Erschöpft.

Im Kondolenzbuch für Günter Amendt erzählt der Künstler Bernd Brummbär folgende schöne Geschichte: Im Sommer desselben Jahres ('68 '69?) lernte ich etwas von ihm, dass ich nie vergessen werde. Wir waren in der Frankfurter B-Ebene unterwegs, als eine fette, alte Frau uns hasserfüllt ansah, irgendwas Obszönes in unsere Richtung murmelte und dabei das Ende der Rolltreppe übersah. Sie fiel und ich dachte: „Geschieht ihr ganz recht, dieser fetten Sau!” — als Günter ganz selbstverständlich hinzusprang, sie stützte, den Sturz verhinderte und sie wieder aufrichtete. Ich sah zu und kam mir vor wie das mistigste Miststück unter allen Miststücken! (…) Ich erwischte mich als ganz hasserfüllt und beschloss, dies dürfe nie wieder vorkommen in meinem Leben.

Nachdem alles halbwegs überstanden ist, berichtet P. von einem Gespräch mit dem zuständigen Arzt, der gesagt habe: „Dreißig Prozent der Patienten in Ihrem Alter überleben einen solchen Eingriff nicht.” – Ob man so viel Aufklärung wirklich vor der Operation hätte ertragen wollen?

Lektüre: Paul Leautauds Pariser „Kriegstagebuch”. Immer wieder wird dem Autor dieser Journale seine schnörkellose Direktheit, sein Mut, sich bedingungslos zu exponieren, zugute gehalten. Was ich bisher lese, spricht eher für eine große Wendigkeit, für eine kecke Geschmeidigkeit – jedenfalls im Umgang mit den deutschen Besatzern.

Todestag von Luise Rinser, über die Michael Kleeberg im Januar schrieb:
Bei unserer ersten Begegnung war sie, soeben aus Nordkorea zurückgekehrt, von einer atemnehmenden Selbstbezogenheit, die nur mit der bekannten Anekdote zu beschreiben ist, bei der die große Persönlichkeit ihren Gesprächspartner mahnt: „Nun reden wir die ganze Zeit von mir, sagen Sie doch auch mal etwas. Wie fanden Sie denn meinen neuen Roman?”

Montag, 14. März 2011 – Vieruhrneununddreißig, fünfkommaneun. Dunkel. Wach seit halbvier.

Am Freitagmittag kommt per Overnightexpress die Verfilmung der „Braut im Schnee”. Will nur mal kurz reinschauen, bleibe dann aber die vollen neunzig Minuten sitzen. Eigentlich habe ich noch nie einen Autor getroffen, der zufrieden gewesen wäre mit der Verfilmung seines Buches. Na und, dann bin ich halt die eine große Ausnahme …

Sehr geehrter Herr Altenburg,
vielen Dank für Ihre E-Mail. Die ARD-Programmverantwortlichen wollten mit der Übertragung des Großen Zapfenstreichs ganz allgemein dem großen öffentlichen Interesse an Karl-Theodor zu Guttenberg Rechnung tragen. Mit der Programmentscheidung ist jedoch keinesfalls eine politische oder sonst wie geartete Bewertung des Falls verbunden. Ihre Kritik wird zur Kenntnisnahme der Programmverantwortlichen protokolliert. Leider gelingt es nie, allen unterschiedlichen Interessen gerecht zu werden. Wir bitten Sie hierfür um Verständnis und danken Ihnen für Ihre engagierte Programmbegleitung.
Mit freundlichen Grüßen
Simone Schirra
Erstes Deutsches Fernsehen
Programmdirektion
Zuschauerredaktion

Freitagabend in Herborn nach der Lesung nochmal Guttenberg. „Aber wir haben doch alle mal abgekupfert … Aber der Enthüller gehört doch zur äußersten Linken … Aber der Trittin hat doch auch seine Bonusmeilen …” Zum Glück hab ich diesmal Guntram an meiner Seite!

Samstag Poppenhausen. Mit dem Scapin auf die Wasserkuppe, runter nach Gersfeld, noch Mal auf die Kuppe, ein Schluck aus der Fuldaquelle, über Abtsroda wieder in die Tiefe. Sonntag Kassel und retour.

Erinnerungen an Günter Amendt: wie er zu uns in die Schule kam; die gemeinsame Fernsehproduktion in Stuttgart; wie kurz darauf dieser langhaarige Mann zum Schrecken der Eltern erneut in Baunatal aufkreuzte, um sein Necessaire abzuholen und sich über den Ausdruck Kulturbeutel lustig machte; wie er – Halt machend auf dem Weg von Hamburg nach Zürich – bei uns in der Wohngemeinschaft hockte; später noch ein paar Treffen auf der Buchmesse … Am Samstag ist Amendt – zusammen mit Dietmar Mues, dessen Ehefrau Sibylle und der Bildhauerin Angela Kurrer – in Eppendorf bei einem Autounfall ums Leben gekommen.

Vor vier Jahren starb Lucie Aubrac.

Weiterlesen:
www.jan.seghers.de

erstellt am 03.8.2010

Matthias Altenburg
Jan Seghers' Geisterbahn
Tagebuch mit Toten
Hardcover, 416 S.
Rowohlt
978-3-498-00084-4

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