Wenn die Sprache Europas, wie Umberto Eco sagte, die Übersetzung ist, dann stellt sich die Frage nach der kulturellen Dynamik, die den anachronistischen Protektionismus überwindet, den das Angebot europäischer Literatur in den europäischen Staaten widerspiegelt. Sicher werden überall Bestseller übersetzt, in der Hoffnung, mit der Übersetzung ebenfalls einen Bestseller zu verbuchen. Doch dieser Vorgang gehört allein dem wirtschaftlichen Prozess. Dynamik entsteht aber aufgrund der Differenz, die Leser bei der Beschäftigung mit zweisprachigen Texten wahrnehmen können und die praktischerweise in Gedichtübersetzungen zutage tritt. Mit Hilfe des Textvergleichs wird eine unideologische Auseinandersetzung mit der in den Sprachen angelegten unterschiedlichen Denkweisen ermöglicht. Deshalb kann Klaus Reichert in seinem Essay „Lässt sich Lyrik übersetzen?“ behaupten: „Kulturen entstehen durch Übersetzungen. … Durch Einschluss des Fremden wird die eigene Kultur erweitert und verändert. Kulturen, die nicht übersetzen, stagnieren.“ Zugleich beschreibt er die Grenzen der Übersetzbarkeit, vor allem, wenn die fremden Texte durch Ort und Zeit so weit von unserem Verständnis entfernt sind, dass sich kein Wort dafür finden lässt: „Können wir diese – mentalitäts- und kulturbedingte, klimatologische, auch polemische – Differenz herüberholen in einer Übersetzung? Kaum. Aber es ist hier, im Unmöglichen, wo das Übersetzen beginnt: die Annäherung an Kulturen als ein Wachhalten und Bewusstwerden ihrer Differenz.“

So ist das Verhältnis der europäischen Kulturen untereinander durch keinen Kompromiss und keine Brücke zu vereinfachen. Denn europäisch ist das Ensemble der kulturellen Besonderheiten. „Es gibt keine Muse der Philosophie, es gibt auch keine Muse der Übersetzung. Banausisch aber, wie sentimentale Artisten sie wissen wollen, sind sie nicht. Denn es gibt ein philosophisches Ingenium, dessen eigenstes die Sehnsucht nach jener Sprache ist, welche in der Übersetzung sich bekundet.“, schrieb Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Die Aufgabe des Übersetzers“. Und: „Was ‚sagt’ denn die Dichtung? Was teilt sie mit? Sehr wenig dem, der sie versteht. Ihr Wesentliches ist nicht Mitteilung, nicht Aussage.“ …

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen finden sich bei Faust-Kultur in loser Folge Besprechungen zwei- oder mehrsprachiger Gedichtbände. Wir beginnen mit Giovanni Pontanos „Baiae“, – mit lateinischen Elfsilblern!

Europoesie: Giovanni Gioviano Pontano

Die Versuchung der Akademiker

Von Giovanni Gioviano Pontano gab es, wenn man von den Dialogen in der Humanistischen Bibliothek (im Fink Verlag 1984 herausgegeben von Hermann Kiefer) und „De amore coniugali“ im 3. Band der Itinera classica (im Scripta-Mercaturae-Verlag 2002 herausgegeben von Nikolaus Thurn) absieht, bisher offenbar keine Übersetzungen ins Deutsche. Umso schöner ist es, die „Baiae“ des zu seiner Zeit berühmten Humanisten in einer zweisprachigen Ausgabe vorliegen zu haben. Pontano, Autor einer enormen Anzahl an Dichtungen, Dialogen, philosophischen, astronomischen, historischen Schriften und Briefen, lebte von 1429 bis 1503 und schrieb, wie damals unter den Dichtern und Gelehrten in Neapel üblich, lateinisch, und zwar ein unter Zeitgenossen gerühmtes, reiches Latein. Das schimmert in goldenen Lettern als Fußnote jeweils unter der deutschen Übersetzung eines jeden der elfsilbigen Gedichte. Versammelt sind in diesem, mehrfach vom Autor überarbeiteten, Zyklus vor allem Widmungsgedichte, die sich auf den seit der Antike bekannten, mondänen Badeort Baiae beziehen, genauer, auf die dortigen Bäder, die zur seelischen und körperlichen Gesundung aufgesucht wurden und – selbst in der römischen Gesellschaft – mit ihrem Luxus und ihrer Freizügigkeit eine Attraktion waren. Pontano stammte aus Umbrien, studierte in Perugia und diente im Heer des neapolitanischen Königs Alfons I. Unter dessen Nachfolgern stiegt er zum Diplomat und Sekretär auf. In Neapel lernte er seinen Freund und Lehrer Antonio Beccadelli kennen, der dort eine Akademie gründete, die nach seinem Tod von Giovanni Pontano geleitet und deshalb Accademia Pontaniana genannt wurde. Die Widmungsträger der Gedichte sind vor allem befreundete Mitglieder der Akademie – tot oder lebendig. Es ist die unbefangen thematisierte Erotik, die den meisten dieser Gedichte ihren Oberflächenreiz verleiht. Zugleich aber wird die persönliche Ansprache in einem Flechtwerk aus mythologisch-literarischen Bezügen, historischen und philosophischen Anspielungen präsentiert, dass das Lesevergnügen unvermeidlich erscheint. Sehr lesenswert ist das launige Nachwort des Übersetzers und Herausgebers Tobias Roth, dem man alles Nötige und Wichtige entnehmen kann. Vielleicht sollte man sogar mit dem Nachwort beginnen, also gut vorbereitet, wenn man sich das Buch zu Gemüte führt. Ausgestattet ist das Buch mit schwarz-goldenen Illustrationen von Petrus Akkordeon, die mit ihrem holzschnittartigen Motiven der antikisierenden Manier Pontanos in die Hände spielt.

Kommentare


Monika Humpert - ( 16-02-2017 10:38:13 )
danke für den weiten Blick der Europoesie. Die Idee Europa ist Poesie !!

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erstellt am 09.2.2017

Zeitgenössische Büste Pontanos
Zeitgenössische Büste Pontanos

Giovanni Pontano
Baiae
Tobias Roth (Hg.)
Übersetzung: Tobias Roth
Illustration: Petrus Akkordeon
ISBN: 978-3-945832-23-3
Verlagshaus Berlin, 2016

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