24.2.-4.3.2017 – Yalla!
24.2.2017
Keiner schlafe. (geklaut)
Heute nacht hatte ich wirklich Angst. Der Sturm bog die Bäume, riss an den Ästen, bis sie herunter krachten, schüttelte so laut alle Planen durch, dass ich immer wieder erschrocken hochfuhr, und rüttelte wütend an den Fenstern und am ganzen Haus. Äste krachten aus dem großen Rauschen, das sich immer noch steigern konnte. Ich hätte flüchten wollen und musste liegen bleiben. Hörte die trockenen Blätter über die Holzdielen hüpfen, als wären es Mäusefüße. Flüchten mit dem Kopf und Thomas Cook, mit dem ich gerade eine Welt entdecke, die ich nicht gesehen haben werde in meinem Leben.
Wenn ich mit Cook in der Zeit zurückgehe, staune ich und wundere mich. Wer zuerst da war, sagte: das ist meins! Also: gehört dem Land, dem ich gehöre. Es war ganz selbstverständlich, dass Europäer ausgezogen sind, um sich die Welt zu nehmen. Wie sind sie nur darauf gekommen?
Wissen wollen – gut, aber haben wollen? Gab es eine Zeit davor? Die Antwort darauf habe ich vergessen, fange wieder von vorne an.
Tombouctou, also Mamadou schreibt:
hier en famille nous avons fait une réunion sur l‘association et de comment faire pour avoir les matérielles, donc tout le monde a donne sont idée.
donc il y en a un programm „Marshallplan 2017“,en Allemagne , si possible de leurs contacte. vraiment se l‘agriculture qui pais nous sauver,
Ich soll mich mit der EU in Verbindung setzen, hat die Familienversammlung beschlossen. Ackerbau wäre die Rettung, meint er, dazu brauchen sie Maschinen. Ich finde die Idee auch gut, nur wer sollte uns die geben?
Mamadou bittet mich also, dass ich Kontakt mit dem Marshallplan 2017 aufnehme. So sieht er meine Welt. Ich muss aufpassen, dass ich so eine Überforderung nicht total abwehre.
Ich habe bei Oikocredit angerufen, vielleicht können die mir sagen, wo ich anfangen sollte. Die Frau am Telefon hat einen Rückruf versprochen, der bis heute nicht kam, und jetzt ist die Woche zu Ende.
Mamadou wartet. Und ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll.
26.2.2017
Einmal Nürnberg und zurück. Die Freundin, mit der ich, als es die Familie nicht mehr gab, ein paar Jahre zusammen mit unseren vier Kindern in einem Haus gelebt habe, ist 80 geworden. Damals haben wir uns vorgestellt, wie wir, wenn wir mal so alt sein würden, wie wir jetzt sind, strickend oder häkelnd unter dem Pflaumen- oder Birnbaum sitzen und über damals reden würden. Dazu ist es nicht gekommen.
Mein Teil war auch etwas, das ich von meiner Mutter mitbekommen habe: „Mit der Heide kann man nicht streiten.“ Alleinstellungmerkmal gewissermaßen, also Empfehlung. Keine gute Voraussetzung für eine WG. Da wird zu viel Wäsche verfärbt.
Dass ich meine Freundin lieber mochte als sie mich, mussten wir viel später feststellen. Das ist mir mit Frauen immer wieder passiert.
Nächtliche Nachrichten im Auto: Es wurden wieder fünf Geschäfte in Timbuktu zerstört. In Somalia sterben die Menschen vor Hunger.
27.2.2017
Heute braucht er 200 €, schreibt Mamadou, der Junge ist wieder krank und der Reis und Hirse sind alle. Ich schicke erst mal 100 € und denke an Somalia. Zuerst verhungern die Kinder.
Und dann ist noch eine Mail gekommen mit dem Bild meiner Tochter am Grab meiner Eltern, auf dem der Wacholder mehr als doppelt so groß ist wie sie, vier Meter bestimmt. Kommentar: Mit der Zeit blüht der Hackstock.
Das ist bei der Krankenschwester geklaut, die meiner Zimmerkollegin im Klinikum das Bett machen wollte. Die Frau kam nicht aus dem Bett, sagte „mit der Zeit“ und verschob das Aufstehen auf den nächsten Tag.
„Jaaa – mit der Zeit blüht der Hackstock.“ sagte da die Schwester und schüttelte kräftig das Kopfkissen auf. Auf die Mail habe ich geantwortet: Und da soll ich dann mal dazu gepackt werden? – alles klar.
Schon komisch, wenn man das sieht und weiß: da kommst du hin, wenn du Asche bist.
Hier ist ein Wacholder, den ich vor ein paar Jahren gepflanzt und über dessen Wachsen ich mich immer gefreut habe, in diesem Winter gestorben. Eines Tages fiel mir auf, dass der Baum ganz leicht schräg stand. Wollte mich aber gerne täuschen. Gestern habe ich nachgeschaut und sehen müssen, dass er innen schon braun ist. Wieder die Wühlmäuse? Wie bei dem Quittenbaum? Diese Mörder unter der Erde.
28.2.2017
Der Februar geht mit Schnee, der nicht bleibt. Ich lasse sie gerne gehen, den Februar und den Schnee jetzt auch.
Oikocredit für Westafrika! Dort werde viel unterstützt, sagt mir die Frau in Nürnberg schön Fränkisch. Wie gut, dass ich das jetzt weiß.
Ich gebe die Infos an Mamadou weiter und möchte mal wieder etwas anderes denken.
Ich wünsche mich dahin zurück, wo die Waage im Gleichgewicht war alle Tage bis gestern, seit ich mit dem Schreiben begonnen habe.
Die Waage, wie ich sie gesehen habe, als die Sternschnuppe über mich huschte und mir einen Wunsch da ließ.
Wenn ich an die Dinge denke, die ich machen möchte, habe ich das Bild einer Waage vor mir, die ein Gleichgewicht halten soll zwischen dem, was ich in beide Schalen lege: auf der einen Seite ist das, was ich mache, gemacht habe oder mir vorstelle zu machen, auf der anderen soll der Glaube daran sein, der aus Selbstvertrauen wächst. Wenn da nichts ist, sinkt die Schale nach unten und ihr Inhalt bleibt liegen, unbeachtet, – ungeliebt? Wenn die andere Seite zu voll und zu schwer ist, bleibt alles in der Luft hängen, wo keiner etwas damit anfangen kann. Es muss Gleichgewicht sein, sonst sind die Tage nicht ohnesinn sondern sinnlos.
1.3.2017
Ich muss stark sein, um von Angst zu sprechen. Weil die Angst mich einsperren will. Nicht einmal ans Schreiben will sie mich lassen. Kann doch nicht in die Luft hängen, wie schwach ich mich fühle. Wie ich alles zur rechten Zeit und ganz richtig machen muss, um keine Angst zu kriegen, kein Herzklopfen, wenn mir unvorbereitet etwas einfällt, was zu tun ist. Ich schaue schon morgens den Tag an und suche ihn ab nach allem, was mich erschrecken kann, und schaffe eins nach dem anderen weg. Soll aus dem Kopf, aus dem Sinn. Bin ich dann ruhig? Eigentlich nicht, fürchte das Nächste, das schon wartet an der nächsten Ecke.
Und dann werde ich ziemlich ekelhaft. Möchte Menschen wegstoßen. Tue es manchmal, weiß nicht warum. Ist es etwas ganz Altes, was noch gelebt werden muss, oder etwas Neues, das auf mich zukommt und mir Angst macht? Und ist es etwas, das in den Text darf oder nicht? Heute kommt es mir vor wie Angst. Darf ich jetzt gar nicht mehr unter die Leute gehen, wenn ich so gefährlich bin?
Eigentlich bin ich es selbst. Wie immer. Schwäche, die ich nicht dulden kann. Die Schwäche von Kopf und Körper. Gnade sagt die Freundin. Wie komme ich dazu?! Gnädig – das kommt bei mir nicht vor. Ungnädig schon.
Und eine Känguruh-Oma bin ich auch nicht. (geklaut bei der Voltaren-Werbung)
Ich habe angefangen, mit Paul darüber zu sprechen. Aber er sagt immer nur, er habe keine Angst. Und Schmerzen hat er nur, wenn er mal die Tablette vergisst. Inzwischen ist er überall mit Notruf vernetzt. Vielleicht hätte ich auch keine Angst mehr, wenn ich wüsste, es geht – zeitnah – zu Ende. Dann könnte ich nicht mehr viel falsch machen.
Die Konsequenzen würden mich nicht mehr erreichen. Schööön!
Paul hat ganz andere Sorgen: Geld. Er hat viel und ist stolz darauf. Will sein Testament ändern. Dazu soll die Steuerberaterin kommen, damit es so verteilt wird, wie am wenigsten Steuern anfallen. Es gibt zwei Kinder und zwei Enkel, ein Haus und zwei Wohnungen und nochmal soviel Bargeld. Er macht sich Sorgen, dass der Sohn sein Geld nicht so gut vermehren wird, wie er es getan hat. Ich sage: wahrscheinlich. Das ist immer so. Weil es geschenkt ist.
Ist es immer so? Paul und sein Geld.
Tombouctou geht sofort weiter: nicht 100 €, 200 hat er gesagt, sagt Mamadou. Weiß ich, aber dann ist er am Ersten des Monats schon am Ende. Wieder Western Union, wenigstens funktioniert es wieder, nachdem ich gestern dreimal telefonieren musste und Daten löschen und neu eingeben und und und. Dachte: es reicht! Und gleich: das darfst du nicht denken.
Wann dürfte ich sagen: es reicht. Ich mag nicht mehr. Niemals?
3.3.2017
Aber wenigstens ein bisschen Nein: Mamadou will keinen Kredit beantragen, „zu viele Papiere“ sagt er. Und ich soll das machen mit den Papieren? Oder denkt er, die deutschen Organisations humanitaires verschenken 20 000 € einfach so? Und ich soll alles übersetzen? Dabei ist manches nicht zu übersetzen, was er schreibt. Als ich nach der Diagnose für die Krankheit seines Sohne gefragt habe, kam bei Pons für sein Wort eine Brotsorte heraus. Ich werde nein sagen und vorschlagen, dass er einen seiner französischen Freunde bittet. Ich weiß, dass er viele Kontakte hatte. Aber mich um Geld zu fragen, war wahrscheinlich immer leichter. Diesmal also: nein.
Heute habe ich das Fahrrad genommen für unsere Runde und war meinem Hund immer ein Stück voraus. Um ihn nachkommen zu lassen, habe ich mich auf einen dicken Baumstamm gesetzt und den Lerchen zugehört. Sie sind wieder und noch immer bei uns. Yalla kam auf mich zu, blieb kurz vor mir stehen – mir ist es nie gelungen, sie dazu zu überreden, sich neben mich zu setzen – schätzte die Höhe des Baums ab, sprang mit einem Schwung herauf und setzte sich neben mich. Es war ein Glück.
Kraule sie am Hals und an der Schwanzwurzel, das mag sie am liebsten. Und ich weiß wieder, warum ich den afrikanischen Sternenhimmel vielleicht nie mehr sehen werde, jedenfalls nicht, solange es Yalla gibt. Ich nenne es Liebe.
Wie Yalla dazu kam, Yalla zu heißen?
Yalla kommt aus Rumänien, in der Auffangstation hat man ihr den Namen Valentina gegeben. Damit konnte ich nichts anfangen. Walli? Walla? Tina? Nee. Als ich am Gartentor stehe und sie rufen will für unseren Weg ums Feld, sage ich: yalla! – und wusste: das ist es. Yalla möchte ich gerne sagen, weil ich es immer gern gehört habe. Los! Gehn wir! Yalla!
4.3.2017
Ein Star ist da! Schaut sich die Häuschen an. Setzt sich drauf, hüpft hinein, wieder heraus und auf das nächste. Piept leise, man muss den Ton kennen, um ihn zu erkennen. Hinüber in die Akazie, ganz hoch hinauf. Nur ganz leise noch zu hören. Es ist der einzige Vogelruf, bei dem ich sicher bin zu wissen, zu wem er gehört.
Die ganze Familie sei der Meinung: zu viele Papiere, schreibt Mamadou. Und wieder: deutsche ONG! Ich schicke mein Nein ab, füge hinzu, dass jede Organisation mit dem zusammenarbeiten will, der für das Projekt vor Ort verantwortlich ist.
Die Idee mit dem Ackerbau findet jeder gut, schreibe ich auch noch.
Ich weiß, dass Mamadou nachhaken wird. Ärgern muss ich mich darüber nicht.
Was mich viel mehr erschreckt: was soll das werden mit Türken und Deutschen? Wie kann man einen gerecht behandeln, der selbst kein Recht kennt?
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de