15.-28.8.2017 – Sommer
15.8.2017
Sommer. Richtig Sommer. Wie er früher einmal war. Vor dem man sich nicht verstecken muss, weil er ein Ofen ist oder eine Dauerdusche. Frisch und strahlend am Morgen, warm bis zum Abend.
Unheimlich das Bild von den Dreitausendern, wo das Weiß in diesem Jahr wieder ein Stück hinauf gezogen ist. Aber: man gewöhnt sich an alles. Furchtbar?
16.8.2017
Mein erster Blick fällt auf den weißen Bauch einer toten Maus, die neben meinem Bett auf dem Rücken liegt, nass, der Regen ist heftig gewesen. Getaufte Maus. Das Gewitter kam, als die Freunde gerade gegangen waren nach einem schönen langen Abend, an dem wir eine dicke Kröte aus der Mausefalle gerettet haben. Ich hörte das Scharren von Plastik auf den Fliesen in der Veranda. Dachte: eine Maus ist in die Falle gegangen und nicht tot. Gleich war ein Mann zur Stelle – was bei mir noch nie vorgekommen ist, wenn ich solche Aufgaben zu bewältigen hatte. Das ist keine Maus! rief er und ich hin: es war eine dicke Kröte, deren linker Vorderfuß in der Falle hängen geblieben ist. Jetzt wollte sie durch die Tür wieder hinaus. Wir konnten sie mitsamt der Falle einfangen und den Fuß befreien, sie ist fort gesprungen.
Warum wollen sie alle in mein Haus? Die Schnecke, die selbst eines hat, die Kröte und die Mäuse sowieso. Fledermäuse nicht. Die flogen an uns vorbei.
Hier fängt sie keine Katze wie Oskar, der Kater meiner Tochter, der den Namen meines Vaters trägt und seine Mäuse jetzt in dessen Haus trägt.
Meinem Vater habe ich nach dem Tod der Mutter eine meiner jungen Katzen gebracht. Peterle – sagte er, jede Katze war für ihn ein Peterle.
Er hat ihn nie aus der Wohnung gelassen, weil er fürchtete, dass er nicht wiederkommen würde. Diese Angst hatte er immer, wenn er Peterle nicht sah. Der Kater aber wollte nicht gesehen werden und fand die dunkelsten Winkel, in die ihm der Vater nur noch mit dem Licht der Taschenlampe folgen konnte. War er doch nicht dazu zu bewegen, wie ein Hund den lauten und scharfen Befehlen des Vaters zu folgen. „Der gehorcht einfach nicht!“ stellte er enttäuscht fest. Solange mein Vater ihn nicht sah, fand er keine Ruhe, trotz aller Beteuerungen, dass die Wohnungstür inzwischen niemals offen gewesen war. Und dann hielt seine Ruhe nie lange vor, weil er sofort wieder vergaß, was er gesehen hatte.
Peterle wurde scheu und fett. Nach Vaters Tod habe ich ihm die Freiheit gegeben und er war verschwunden. Zwei Wochen später ist er wiedergekommen: dünn und anschmiegsam, und geht jetzt überall herum, wo der Vater herumgegangen ist. Ich bin sicher, dass er von ihm viel mehr gesehen hat als ich.
Überall tauchte er nun unerwartet auf, im Keller und auf dem Dach und auf dem Hof, wo er nun zuhause war.
17.8.2017
Von heute über gestern: das kaputte Fahrrad – Mantel am Hinterrad gerissen. Das frühere Haus mit den Pflaumen und Birnen im Garten, die versorgt werden müssen, weil ich nichts verderben lassen kann. Unser bosnischer Freund bei seiner Arbeit am Haus meiner abwesenden Freundin, für den ich Material besorgen muss. Schwimmen, wo der Grund plötzlich weg ist und ich nicht mehr wie gewohnt stehen kann, so viel muss es geregnet haben. Die Äste der Erlen hängen mal wieder im Wasser, Treibholz streift mich, dünne Zweige hängen sich an meinen Hals. Dann Einkaufen und jetzt noch die Birnen schneiden zum Trocknen. Der Trockner muss erst selbst gewaschen und getrocknet werden, es hat in die Hütte geregnet, wo er stand, vielleicht muss ich den Herd nehmen, aber dann funktioniert der Trockner doch wieder. Essen fällt aus, Birnen, Erdnüsse.
Ich bin so müde. Und die Schnecken sind so fett.
18.8.2017
Timbuktu überholt Quaga. Wie soll ich das jetzt auf die Reihe kriegen.
Al Mahdi und nochmal Al Mahdi. Es folgt die Strafe für die zerstörten Gräber. Von den Menschen wird nicht mehr gesprochen. Die grauenhafte Zeit. Das letzte Bild des Films von Abderrahmane Sissako, Timbuktu 2014: der Mann und seine Frau, die bis zum Hals in den Sand eingegraben zu Tode gesteinigt werden.
Damals ist Mamadou mit seiner Familie nach Mopti geflohen und hat dabei sein drittes Kind auf den Weg gebracht.
„Die Liebe ist das Brot der Armen“ sagt die Freundin, der ich davon erzähle.
Im Norden von Mali „kein Friede in Sicht“ – der letzte Satz des Nachrichtenbeitrags.
19.8.2017
Es ist wieder einmal passiert: ein Baum ist auf meine Telefonleitung gefallen, WLAN bleibt weg. Das kann dauern, bis die Telekom kommt.
Ich will es selbst versuchen, den Stamm neben dem Kabel durchzusägen, ich erinnere mich, dass das schon einmal geholfen hat. Vielleicht schaffe ich es, wenn ich Geduld habe – nimm’s als Meditation! Sag ich mir und fange an. Es ist schwer, ich muss so weit oben sägen. Für den ersten Zentimeter brauche ich fünf Minuten. Mit einer Leiter wäre es leichter, aber die müsste einer halten. Also Geduld. Nach einer drei viertel Stunde klemmt das Sägblatt immer öfter fest, ich habe schon über die Hälfte geschafft, aber dann kriege ich es kaum mehr heraus. Gebe auf. Vielleicht kommt mal ein Mann vorbei, der macht das in fünf Minuten.
In drei Minuten! Und das Ganze nochmal an anderer Stelle. Ich halte nur die Leiter. Ja, ein Nachbar hat mir angeboten, den Baum durchzusägen, als ich mit dem Hund kam und erzählte, dass der quer über dem Weg und auf meiner Leitung liegt. Ich habe mich eine Stunde lang für nichts geplagt. Schönen Sonntag noch.
Männer. Man braucht sie. Ich brauche sie immer öfter.
Wenn ich nur nicht solche Angst vor Schwächen hätte, den vielen kleinen Schwächen, die ich lieber als eine große Schwäche hätte, wo es klar ist: Schluss jetzt. Fertig.
Noch muss ich mich jeden Tag wieder fragen: wann ist es gerechtfertigt zu sagen: das kann ich nicht mehr, das ist mir zu schwer? Klappradfahren zum Beispiel. Dieses Wackeln mit den kleinen Rädern und das flache Hinstrecken zum Lenker, alles so unsicher – weil ungewohnt? Früher konnte ich es doch auch.
Ich mache eine zweiten Versuch: durch die Äcker zum Fluss und an den Äpfeln vorbei, die der Sturm geerntet hat, durch den Wald zurück. Einmal muss ich abspringen, an einer Wurzel weggerutscht, ich lasse das Rad fallen, um auf die Füße zu kommen, und sammle die Äpfel noch einmal auf. Hinten ist das Gartentor noch offen vom Morgen, als ich die Leitung kontrollieren ging. Das mache ich jetzt zu. Schiebe das Rad durch den Garten, an den Blaubeeren vorbei, die jetzt richtig süß sind, und fühle mich stark. Ich habe etwas geschafft, was ich mir nicht mehr zugetraut habe. Danke!
Lasse mein Bett am Abend im Freien stehen, zufrieden, dass an diesem Tag alles wieder trocken geworden ist, was dem stürmischen Regen nicht hatte ausweichen können.
Als ich nach dem Krimi hinausgehe, ist alles pitschnass. Es ist, als hätte ich die schwarzen Wolken nicht gesehen. Hab ich aber. Hat nur nichts genützt. Das ist die nächste Schwäche: das Wegrutschen der Gedanken. Es ist nicht vergessen, verdrängen, verleugnen – nein: verschwinden. Dass sie auf einmal weg sind und vielleicht irgendwann einmal wieder da. Unheimlich. Nicht zu fassen.
0.00 zeigt die Küchenuhr. Ach so – der Strom war weg. Mit einem Knacken war es dunkel – nur der Rechner gab mir Licht für den FI-Schutzschalter. Ich werde der Taschenlampe einen Platz geben müssen, den ich im Dunkeln finde. Warum eigentlich erst jetzt?
WLAN ist weg. Der Kletterer vom Subunternehmer der Telekom hat es nicht richten können. Vielleicht hat der Rooter den Sturmschock nicht vertragen. Morgen habe ich wieder eine Chance.
21.8.2017
Bosnien ist in meinem Garten. Auch eine lange Geschichte. Sie reicht zurück bis in die Zeit, als jeder Besuch aus Bosnien noch eine deutsche Bürgschaft brauchte.
Manchmal erzählt Said, wenn er seine Zigarette nach dem Essen raucht: „Vor dem Krieg haben wir – Serben und Bosnier – zusammen Kaffee getrunken, jetzt tun wir es auch. Warum der Krieg.“ Said schüttelt den Kopf. Wer soll das verstehen. Zwischen damals und heute war alles kaputt.
Das Feuerwerk des Plärrers hat die Bosnier erschreckt. Sie sind im Haus geblieben und haben alle Fenster und Türen zu gemacht. Der Krieg habe sich genauso angehört. Sie nicken.
Die Männer sind nachts in die Wälder gegangen, weil die Serben kamen und sie erschossen hätten. Als es einen Bus gab, haben sie ihre Frauen und Kinder genommen und ab nach Deutschland. Said musste mit seiner Familie nach ein paar Jahren zurück, ihm fehlten zwei Monate, um bleiben zu dürfen wie seine Eltern und seine Brüder.
Inzwischen gehört er in meinen Sommer. Er ist einer, bei dem das Wünschen hilft. Er macht wahr, was ich mir ausdenke. „In Bosnien ein Mann muss alles können“ hat er gesagt, als er anfing, Arbeiten an meinem Haus zu übernehmen. Ohne ihn wäre ich vielleicht hier gar nicht angekommen.
23.8.2017
Meine weißen Wände sind grau und fleckig. Katzenpfoten unter den Fenstern und neben den Türen.
Und es soll ein Entschluss sein: das ist jetzt aber das letzte Mal! Mit 80 mache ich es nicht mehr.
Meine Vorhaben werden immer kleiner und machen mir immer mehr Angst. Sofort ist das Gefühl da, gnadenlos überfordert zu sein.
Die drohende Panik muss ich mir verbieten: willst du heute Abend…?!? – alles klar –
Alterserscheinungen. Denk ich. Und es kommt mir so vor, als hätte ich das Wort gerade erst geschaffen. Aber er muss es schon gegeben haben. Als hätte ich es noch nie gebraucht, wenn ich vom Altwerden gesprochen habe?
24.8.2017
Wiederholungen. Auch eine Alterserscheinung. Ich erwische mich immer wieder dabei, wie ich die selben Sachen zweimal sage, oder sogar dreimal. Als glaubte ich, man hätte mich nicht verstanden. Oder mir nicht zugehört. Oder man würde mich gleich wieder vergessen, weil nicht wichtig ist, was ich sage. Also: nochmal! Dann ist es mir peinlich. Was sollen die Anderen von mir denken? Aber ich glaube wirklich nicht daran, dass man mich beim ersten Mal ernst nimmt.
Aber die anderen Betagten machen es auch so. Und ich finde es blöd.
Als ich barfuß über die gehäufelten Reihen von frisch geschnittenem Heu laufe, kommt es mir so vor, als spürte ich das zum ersten Mal. War das Heu schon immer so weich? Oder bin ich nie barfuß darüber gelaufen? Kann das sein in so einer langen Zeit, von der ich noch weiß?
Was nicht schon so oder so ähnlich mal gewesen ist.
Wie ist es nun mit ohnesinn? Ich habe manchmal nachgeschaut, ob ich etwas schon einmal erzählt habe, und wenn ja, es nicht noch einmal getan. Als wäre es ein Text mit Anfang und Ende und einem schönen Bau zwischendrin. Ist es aber nicht.
Tagebuch ist Leben schreiben. Und Leben ist Wiederholung. Je älter man wird, umso größer wird der Anteil des Wiederholten. Was tue ich an so einem Tag schon, das ich nicht schon einmal oder viele Male getan habe?! Fast gar nichts.
Oder: alles! Weil man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigt –
26.8.2017
Zum Einschlafen unter Sternen gehört das Warten: Im Juni warte ich auf das Leuchten der Glühwürmchen, im Juli auf das Zirpen der Grillen, im August auf das Fliegen der Sternschnuppen. Halte dafür schon einen Wunsch bereit.
Alterserscheinung: das Erschrecken. Als wäre ich plötzlich auf zu dünnes Eis geraten. Ein Gedanke hat mich einbrechen lassen. Irgendein kleiner Gedanke: einen Anruf vergessen – eine Mail nicht geschrieben – eine Rechnung nicht überwiesen – noch einen Anruf – usw. Was soll ich machen, wenn das dauernd passieren kann? Nicht bewegen – das muss man, wenn Eis zu dünn wird. Aber es ist ja gar kein Eis da!
27.8.2017
Der erste Nebel hängt im Garten, bevor die Sonne über den Wald kommt.
Was habe ich mir da aus der Nacht mitgebracht:
Mein Haus ist eingestürzt. Zertrümmert wie von einer Bombe.
Alles, alles ist verschüttet. Nichts mehr zu sehen von meinen Dingen des Lebens.
Und der Rechner? Der Rechner! Er ist das Wichtigste. Keine Spur.
Der Schreck sitzt in mir, als ich aufwache.
Ich überlege, ob ich die Sicherheitskopie immer mitnehmen soll, wie man das Handy mitnimmt.
Aber so bin ich doch eigentlich nicht, will ich nicht sein. Ich lasse oft ganz unbedenklich Tür und Tor offen, wenn mir gerade etwas einfällt, dem ich folgen will, fürchte keine Diebe oder Einbrecher. Aber etwas, das auf mein Haus fällt? Ein Blitz oder eine Bombe?
Daran hätte ich vor ohnesinn nie gedacht. Gelacht hätte ich über so einen Gedanken, der sicher nicht von mir gekommen wäre. Aber jetzt scheint es mir ernst zu sein. Ohnesinn eben.
28.8.2017
Ein Blitz, ein Krach, ein Knax gleichzeitig – der Hund ins Haus – so schnell kann ich gar nicht schauen.
Den Schutzschalter umzulegen ist leichter, als den Hund wieder zum Herauskommen zu bewegen.
Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de