24.12.2017-1.1.2018 – zweimal Weihnachten
24.12.2017
Ich bin früh aufgestanden. Der Tag noch lange nicht in Sicht. Er beginnt – so Mohammed – wenn man einen schwarzen von einem weißen Faden unterscheiden kann. So eine Regel kann man nur dort aufstellen, wo der Himmel immer blau ist. Für mich beginnt er, wenn ich die Birke von der Kiefer unterscheiden kann. Wann das so weit ist, hängt davon ab, wie dick die Nebeldecke zwischen dem Himmel und der Erde ist. Heute habe ich lange warten müssen. Als ich mit dem Hund losging, war es noch immer nicht hell.
Heiligabend hier und allein. Zum ersten Mal in meinem ganzen mittlerweile langen Leben. Ich habe es so gewollt. Und es ist gut.
Ich passe in kein Weihnachten mehr.
Warum kommt es mir so einmalig, um nicht zu sagen: großartig, vor, wenn Vollmond und Weihnachten zusammenfallen?
Ouaga 24.12.96Mami, freust du dich auch so auf Weihnachten? Kinderfrage.
Ich weiß nicht, wie lange ich meiner Mutter mit dieser Frage auf die Nerven gefallen bin. Ihre Antwort war ein müdes trauriges Lächeln, das etwas verbergen sollte, was es verriet, und sie sagte: Ach weißt du, das ist ein Fest für die Kinder. Später ist das nicht mehr so. Warum? habe ich nicht gefragt. Warum habe ich nicht gefragt?
Ich habe es nicht geglaubt.
Dabei war es damals schon nicht so.
Was es war: Ich habe einen Tag lang die Lamettafäden einzeln an die Tannennadeln des Baumes, der wieder einmal „schlecht gewachsen“ war – der Vater hatte ihn gekauft –, gehängt, die Kugeln verteilt und die Kerzen aufgesteckt und dabei darauf geachtet, daß keine Kerze unter einem Ast brennen würde. Wie war ich doch perfekt, meine Kinder steckten die Kerzen immer gerade dahin, wo es ihnen einfiel. Wir hätten jedes Jahr einen Zimmerbrand haben können. Dann hatte ich die „bunten Teller“ für das Personal und für uns drei mit Apfelsinen, Mandarinen, Plätzchen, Nüssen, Schokolade und Marzipan vollzuladen, „die müssen überlaufen“ – war die Anweisung meiner Mutter. Schließlich habe ich alles weggeräumt und den Raum verlassen. Wenn ich die Schiebetüre hinter mir zumachte, bildete ich mir ein, ich wäre es nicht gewesen. Und erwartete die Überraschung.
Ich habe immer alles bekommen, was ich mir gewünscht hatte, mein „Wunschzettel“ war ein zuverlässiger Bestellzettel. In dem Jahr, als ich das Transistorradio bekam, ging ich weinend damit ins Bett und fühlte mich undankbar.
Ich habe mir vorgenommen, meinen Kindern nie alles zu schenken, was sie sich gewünscht haben, und zu erraten, was sie sich wünschen könnten, woran sie selbst nicht dachten. Ich habe es auch darin zu einer gewissen Perfektion gebracht. Auch später wollten sie die Überraschungen lieber nicht durch Wünsche verbrauchen.Ouaga 25.12.96Dieses Weihnachten gefällt mir. Lieber ganz allein als mit Menschen, die mir kein bißchen näher sind. So stimmen die Dinge. Freedom is another word for nothing left to loose – habe ich vor mich hin gesungen und gepfiffen beim Schlangenlinienfahren durch die dunklen Straßen.
Dann habe ich auch das Restaurant zum Essen nach dem Mond ausgesucht: Chez Awa lag ihm gegenüber und neben einem kleinen Mimosenbaum mit bunten Lichtern, die dort das ganze Jahr lang leuchten.
Ich hätte mir denken können, daß dies ein Abend ist, an dem die Jungen „ermutigt“ werden wollten. Nun, so sollten sie ermutigt werden. In kurzer Zeit hatte ich zwei Ketten, wie ich sie schon ungefähr hundertmal zurückgewiesen habe, gekauft. Gestern fand ich sie sogar hübsch, eine für ihre Schwester, eine für mich. Ich gab ihnen, was ich abgeben konnte, um noch das Essen und später ein Glas Wein bezahlen zu können. Es war natürlich weniger, als sie wollten, es ist aber auch die einzige Möglichkeit für mich, einen etwas realistischeren Preis zu erzielen als den, mit dem sie immer anfangen. Dann mußten sich die beiden das Geld teilen, einer hatte alles genommen, und ich hörte, wie sie nun laut verhandelten. Für meine Ohren wäre es ein Streit gewesen, und ich dachte einmal wieder: Geld macht nicht glücklich. Sie entfernten sich immer noch streitend. Nach einer Weile kamen sie einträchtig wieder, ließen zwei kleine Lederanhänger vor meiner Nase baumeln und sagten: Vous êtes gentile, madame! Ich hielt sofort abwehrend die Hände hoch, sie mußten doch wissen, daß…
Nein! Sie schüttelten heftig die Köpfe: Non! C‘est un cadeau! c‘est un cadeau!
Da hatte ich sie wieder so gern. Und so habe ich doch noch ein Weihnachtsgeschenk bekommen.Moussa ist gegen Morgen auf zwei Stühlen eingeschlafen. Die ganze Nacht ist er ums Haus gegeistert, hat Kaffee getrunken und die Pflanzen gewässert. Das Wasser rauscht durch die Wand meines Zimmers.
Die Sonne wärmt schon, der Tag ist da. Und Weihnachten war eine fixe Idee. Wovon? Daß es doch so etwas wie Wärme und Miteinander gibt? Anderen Freude machen, denen, die man „liebhat“ – wo ich mir das doch gar nicht vorstellen kann?
Mit ihrem Tod ist diese Idee geplatzt. Sie wird immer kleiner, sitzt auf meinem Schoß, leichter, ich halte sie in den Armen, ohne zu wissen, daß sie einmal nicht mehr leben will. Daß sie abspringt, bevor sich vielleicht wieder eine Hoffnung auftun könnte. Ich konnte ihr meine Hoffnung nicht geben. Daran bin ich gescheitert. Daran sind wir gescheitert. Mit einem toten Kind kann man nicht Weihnachten feiern.Die Stadt ist sehr still, die Restaurants sehen leer aus am Mittag, es gibt kaum einen, der wie sonst am Straßenrand Hühner oder Brochetten brät. Stille Nacht, heilige Nacht kommt deutsch und laut aus einem Lautsprecher und bricht mittendrin gnädig wieder ab.
La fête est passée. Das Fest ist vorbei.
Ich fahre nachdenklich von meinen Besuchen bei den Familien mit den Krippen nach Hause. Ich werde nie bei Menschen ankommen, immer bleibe ich hängen zwischen ihnen und mir. Als Cynthias hochschwangere Mutter meine Hand auf ihren Bauch legte, war mir das zu nah. Und die Erwartung, daß ich ihr Leben bessern könnte mit meinem Geld, ist mir zu groß. Natürlich gebe ich ihr das Geld, das sie für Medikamente braucht, die sie sich sonst nicht kaufen kann, und etwas mehr. Aber sie will viel mehr, ich soll wiederkommen, ich sei ihre Rettung, schließlich hat sie das ganze Jahr gewartet. Ich erfinde Ausreden und fliehe. Eine Rettung bin ich nicht.
25.12.2017
Fernsehen ist gut. Man könnte sich mit Wiederholungen durchbringen. Passt zu Weihnachten. Auch eine Art Geborgenheit, wenn man schon weiß, was kommt. Sissi auf Madeira. Hat meine kleine Tochter heute auch diesen Blick auf den Atlantik vor ihrem Fenster?
An Weihnachten fernsehen – das darf ich auch nur allein.
Ouaga 26.12.96Immer noch Weihnachten und heiß wie immer. Das Dösen am stillen Mittag eines 26. Dezember ist etwas anderes als an einem Tag im Juli. Es ist eine andere Wärme, in der kurzen Zeit, die ich hier bin, habe ich „unsere“ Zeit noch nicht verloren. Das Ineinander-Gleiten beider Zeiten zu spüren, ist, wie zwei Leben zu haben. Ich hätte gerne zwei Leben, in denen ich zuhause wäre.
26.12.2017
Den Zettel mit „Geschenkpapier“ und „Haare“ werfe ich jetzt weg. Die Haare kann ich sowieso nicht mehr vergessen. Aber was sie bedeuten, weiß ich noch immer nicht.
Erzähle meinem Weihnachtsbesuch davon. Mit dem Erfolg, dass jeder frei über Haare assoziiert. Ich aber schüttle immer nur den Kopf. Nein, nein, nein! Bin eine einzige Enttäuschung.
Soviel zu den Zetteln.
Und Weihnachten war einmal wieder eine halbherzige Verweigerung der großen Prüfung, die es alle Jahre wieder zu bestehen galt. Immer konnte man durchfallen. Und nie bin ich durchgefallen. Aber das bedeutet nicht, dass es nicht immer sein könnte. Wenn man da lebt, wo alles gewesen ist, was mir Weihnachten beigebracht hat.
27.12.2017
Drittfeiertach. Ein doppelter Montag, ein Montag nach zwei Sonntagen. Vorsicht. Keine Entscheidungen. Auch wenn wir auf der Zielgeraden sind und ich eigentlich schon wissen müsste, was noch in dieses Jahr kommen soll. Warum? Alles wird weitergehen: Mali wird sich spätestens am 2. Januar wieder melden, auch wenn es von dort gerade ruhig ist. Vielleicht zieht sich der Trauerbesuch so lange hin. Es wird neue Kriege und neue Flüchtlinge geben. Als ich über den Golfkrieg geweint habe, hätte ich mir nicht träumen lassen, dass ich einmal so reden würde. Bitter.
Der 1. Januar wird das Ende des Mondjahres sein, in das ohnesinn 2017 gehört. Ich fange an, die Tage zu zählen. Es genügen schon die Finger einer Hand. Bedeutung? Dass ohnesinn dann nicht mehr mir allein gehört, sondern dem www. Das war das Vorhaben. Macht es mir Angst?
Wenn ja, dann merke ich sie gerade nicht. Sähe mir ähnlich.
28.12.2017
Die Welt ist weiß für einen Tag. Ich liebe dieses Licht. Da leuchten sogar die Papiere auf dem Schreibtisch.
Ich laufe querfeldein über die Schneefelder, verlasse die Wege, die man das ganze Jahr gehen muss, auch wenn das über Maisäckern ein Stolpern ist.
Der Hund wollte erst nicht mit, dann am liebsten gleich wieder zurück. Warum mag er den Schnee heute nicht? Wo er sich doch sonst immer so gern hineingeworfen und darin gekugelt hat? Jetzt sitzt er wieder unter dem Baum, in dem die Eichhörnchen gerne verschwinden.
Gestern gab es die Jahresendabrechnung zum Artensterben auf allen Kanälen. Die Höchstquote. Es ist grauslich. Wie soll man dieses Wissen ertragen?
Den Buchfinken und das Rotkehlchen vermisse ich nun schon seit Wochen. Wie habe ich mich gefreut, als ich sie sehen durfte. Dass es das einzige Mal sein sollte, habe ich nicht geahnt. Wollte ich es doch für einen Anfang nehmen.
Jetzt weiß ich, warum ich Zählungen von NABU nicht mochte.
Zwischen den Jahren bleibe ich hängen. Ist das nicht immer so?
Es schneit weiter. Ich werde in ein paar Stunden noch einmal hinausgehen, in der Stunde zwischen Hund und Wolf. Auch so ein Dazwischen. Vielleicht ist es dann schon leichter, über den Maisacker zu laufen.
29.12.2017
Mamadou ist wieder da. Mit der ganzen Familie seines Onkels und Schulden beim Pinassier, dem Kapitän der Pinasse, einem kleinen Schiff, das man mieten kann, wenn man genug dafür Geld hat. Hat er nicht, braucht er. Ich ärgere mich schon wieder und ich ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere. Warum fahren sie nicht mir der Pinasse public, der öffentlichen Pinasse, die unbequem aber spottbillig ist?!? Ich werde auf diese Frage keine Antwort, sondern nur eine Ausrede bekommen. Zuhause angekommen hat die Großfamilie nichts zu essen, und die Kinder frieren, weil sie keine warmen Sachen haben. Wieviele Kinder?
Ich habe die 200 € geschickt, ganz unhöflich ein Mail angekündigt, um das Gespräch abzukürzen. Von so einem Telefongespräch kann die ganze Familie einen Tag leben.
Dass Nord-Mali der gefährlichste Einsatz der deutschen Soldaten ist, wissen wir alle. Wie da der Alltag aussieht, wissen wir nicht.
Und ich weiß nicht, wieviel ich glauben kann.
Zwei Lehrergehälter sollen genug sein, sage ich mir immer wieder. Und werde wütend, weil ich vermute, dass ich das wieder nicht durchhalten werde.
30.12.2017
Gestern war so viel Glitzern im Schnee wie am Himmel einer afrikanischen Nacht. Am Abend hat Neuschnee die vielen Schritte vom Tag geglättet und eine dicke Decke daraufgelegt. Ich denke ans Langlaufen am Morgen, wenn der – mal wieder angekündigte – Regen nicht zu früh kommt.
Als ich die Skier anziehe, hängt er schon über uns, ich gehe trotzdem los, nicht weit, gleich vor dem Gartentor liege ich auf dem Rücken. Aha. Aufstehen, wie ging das doch? Ich schaffe es, also weiter. 100 Meter und dasselbe Spiel. Also wenn das nochmal passiert, schnalle ich ab und nehme wieder die Füße. Allmählich finde ich die bessere Haltung wieder und Spaß am Schieben und Gleiten über ein paar Felder, wo kein Mais war. Der Hund bleibt lange weit zurück, dann kommt er angefegt, wälzt sich im Schnee, rennt weiter. Wir sind weit gekommen, dann nehmen wir die Runde nach Hause. Jetzt fällt langsam der Regen. Wir sind schon auf der Zielgeraden, die Sicht ist schlecht, Yalla setzt über einen Graben, den ich nicht gesehen habe, und: das dritte Mal. Diesmal richtig. Davon werden mir morgen die Arme und das Genick wehtun. Ich schnalle ab und gehe das letzte Stück zu Fuß. Es regnet wirklich. Aber es war gut.
31.12.2017
Der Schnee ist wieder weg. Schon gar nicht mehr wahr. Nachhaltiger als der Schnee sind die Schmerzen, die ich von dem einzigen Wintertag mitgenommen habe. Die wachsen sich erst richtig aus. Man fällt nicht ungestraft dreimal hin.
Als ich Lucija anrief, um ihr ein gutes neues Jahr zu wünschen, hatte sie gerade keine Zeit für ein Gespräch. Die Frauen seien bei ihr, sagte sie, die ihr beim Waschen und Anziehen helfen und das Frühstück machen. Ich wünsche ihr gute Tage ohne Schmerzen für das neue Jahr. „Gesundheit“, die sie mir wünscht, kann ich nicht sagen, das wäre ja, als wüsste ich von nichts.
1.1.2018
Gestern Abend bin ich nach dem Essen mit Freunden mit meinem Hund hier hinaus geflohen. Yalla bleibt im Haus, wenn ich gegen Mitternacht den Feldweg ein Stück hinaufgehe, wo ich das Tal vor mir habe. Kirchenglocken. Geht ein Ruck über den Himmel? Würde ich die fernen Lichtfontänen im Halbrund des Horizonts und die riesigen Sträuße über mir schön nennen, wenn ich mit jemandem darüber spreche?
Als ich nach Hause gehe, frage ich mich, warum mache ich das allein? – Is so.
Heute morgen finde ich in der Küche zwei große Pfützen. Yalla hat sich nicht mehr hinaus getraut.
Morgen ist Vollmond.
Mein Jahr in zwölf Monden geht heute zu Ende.
Ich möchte danke sagen, weiß nur nicht wem.
Dem Jahr? Dem Text? ohnesinn?
Natürlich. Wem sonst.
Ohne Sinn war es ein – unglaublich – gutes Jahr.
Danke.
Der letzte Satz soll ein alter sein: Das Leben hat keinen Sinn - es sei denn, ich gebe jedem Tag seinen.
Passt.

Aus Heide Tarnowski: überallundnirgends. 2017 mit 74 – Ein Tagebuchroman. Sonderausgabe von literaturkritik.de im Verlag LiteraturWissenschaft.de