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Von einem Indien zu erzählen ...

von Otto Besan

zum artikel:

* anmerkungen
* literatur
* druckbares
* diskussion

Der Versuch, sich das Andere vertraut zu machen, hat Irritationen zur Folge. Zumal, wenn es sich hierbei um eine andere Grundeinstellung zur Welt handelt. Eine Skizze zum Buddhismus in den uns vertrauten Formen von Denken und Erzählen kann diesen Irritationen nicht nur nicht ausweichen, sondern führt unweigerlich auf sie zu.

 
" Die buddhistischen Philosophen unterscheiden sich von jenen,
die in der Tradition des Aristoteles aufgewachsen sind, darin,
daß sie vor Widersprüchen nicht erschrecken, sondern sich
an ihnen freuen."[Anm. 1]
Edward Conze

 

Von einem Indien zu erzählen, das in der Zeit weit vor mir liegt. Vielleicht sogar, von einem Indien erzählen, das es gar nicht gibt. Ich möchte niemandem zu nahe treten, nicht einmal mir selbst. Aber noch aus anderen Gründen, die sich später zeigen werden, muß ich allgemein beginnen. Ich stelle mir vor ... -- während einer stillen Abenddämmerung, wenn die Farben verschwimmen im Grau, den Passagier oder Matrosen eines früheren Schiffes auf Deck an der Reling sitzend. Seinen Blick lose in ein Segel geheftet, eine Wante knarrt, die er nicht hört, dann eine kaum bemerkbare Bewegung, die durch das Gewebe geht. --

In scheinbaren Gegensatz dazu ein paar konkrete Eindrücke: Man war in Kino, Theater oder Oper. Man ist angeregt, geht nebeneinander her, schweigend oder stückweise redend -- eine Pause, eine Geste oder ein Wort, die Stimmung ist verschwunden. Es ist, als müsse man sich in Gedanken umwenden und hinter die Stelle zurückgehen, an der sie sich auflöste. Aber selbst wenn man es versucht, der Umschwung bleibt unumkehrbar. -- Zukunftsüberlegungen, an einem beliebigen Ort. Pläne und Vorausschau, ein paar Details, in die sich die Überlegung verliert, dann -- entleerte Zukunft. Was aber fehlt, das vorher nicht fehlte? -- Man wacht nachts auf, es ist ungewöhnlich still und dunkel. Nichts, woran man sich festhalten könnte, nur man selbst ist, kann nich fort: etwas wie ein Erschrecken über die einfache Tatsache, daß man da ist, über ein Dasein, da einem im Gegensatz zu der Stille umher als unerträglich laut erscheint. -- Wer in diesen drei Eindrücken eigene Erfahrung wiedererkennt, dem, meine ich, kann dieser Essay -- eine Skizze zum Buddhismus -- darüber hinaus etwas mitteilen. --

Es kommt mir nicht darauf an, daß die Mitteilung für sich genommen neu wäre, sondern auf den Versuch, eine menschliche Grundeinstellung zur Welt in den uns vertrauten Formen von Denken und Erzählen sichtbar bzw. nachvollziehbar zu machen. Deshalb geht es auch nicht um eine philologisch exakte Skizze, sondern darum, den Buddhismus im Rahmen unserer Verstehensbedingungen (und Bedingtheiten) seinem Zweck nach herauszustellen. --

In einer ersten Näherung zeigt der Buddhismus sowohl insgesamt als auch in seinen einzelnen Bereichen eine verwirrende Vielschichtigkeit. Obwohl er beispielsweise stark philosophische Züge trägt, ist er alles andere als eine Erkenntnisphilosophie aristotelischen Typs. Unseren klassischen Fragen nachzugehen, wie denen nach Anfang und Ende unserer Wirklichkeit, der 'Welt', hielte er für reine Zeitverschwendung. -- Seine Ausübungsarten sind so unterschiedlich, daß es auf den ersten Blick unmöglich scheint, ihnen einen allgemeinen Sinn abzugewinnen. Daher faßt man den Buddhismus insgesamt am besten metaphorisch: als ein Heilmittel, eine praktisch orientierte Lehre, die in dieser Praxis ausgesprochen unterschiedliche Methoden bereithält, mittels derer einzelne sich selbst -- und anderen -- zur Heilung verhelfen können. Also als eine Medizin, die je nach Eigenart des Patienten auf verschiedene Medikamente zurückgreift und die hinsichtlich der Medikation ein sehr verschiedenartiges Aussehen hat, wenn sie auch im Zweck immer auf dasselbe hinausläuft. -- Entsprechendes soll dabei aus buddhistischer Sicht auch für jede Darstellung der Lehre gelten. Ihre Ausführlichkeit, ihre Form und ihr Inhalt im Einzelnen sind unwesentlich, solange sie dem Zweck der Heilung gemäß sind. Der Skizze lege ich zwei Betrachtungsweisen des Buddhismus zugrunde: Eine philosophisch-gedankliche und eine anschauliche, erzählende, symbolhafte. Sie werden sich kaum an der Geschichte der Lehre orientieren, sondern auf das beschränkt bleiben, was sich mit Blick auf das Leben ihres Verkünders bis hin zu seiner Erleuchtung sagen läßt.

Philosophisch fundamental wäre aus unserer Sicht für das buddhistische Denken wie für unsere eigene Tradition der Satz vom Widerspruch: "Keinem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht"[Anm. 2], oder modern: Nicht: a und non-a.

Doch trotz seiner gleichen Fundamentalität weist die Bedeutung des Satzes im Buddhismus in eine andere Richtung. Er ist dort zwar wie bei uns logisches Prinzip, ohne das Unterscheidungen im weitesten Sinne nicht gedacht werden können und ist, darauf aufbauend, zugleich Voraussetzung für jede einzelne praktische Erkenntnis und Handlung. Aber während wir den Satz vor allem deskriptiv auffassen, als eine Beschreibung desjenigen, was in unserem Denken, Erkennen und Handeln immer schon als gültig vorausgesetzt ist, faßt der Buddhist den Satz vor allem produktiv auf. Für ihn ist er ein allgemein herrschender 'Glaube', welcher im Denken, Erkennen und Handeln praktiziert wird. Seine Seinsweise ist betont die Praxis, zu unterscheiden -- einerseits im Denken, Erkennen und Handeln, andererseits bereits zwischen ihnen. --

Die existenzielle Situation, in der der Mensch sich der Lehre zufolge üblicherweise befindet, ist, europäisch gesprochen, diejenige des unwissenden, unbewußten 'Glaubens' an den Satz vom Widerspruch; in ihren eigenen Worten der Zustand des Nichtwissens. 'Nichtwissen' bedeutet: Der Mensch weiß nicht, daß es sich bei der Erfahrung von einzelnen Dingen, Taten, Gedanken um Produkte eines Glaubens handelt, dessen Urheber er selbst ist. Je stärker die Verhaftung eines einzelnen an den Satz ist, d.h. je strikter er in seinem Denken, Erkennen und Handeln ein Unterscheiden praktiziert, desto größere 'Zersplitterung' seiner Gedanken, seiner Handlungen und seiner Erkenntnisse praktischer wie theoretischer Art wird er erfahren. Nichtwissen spiegelt sich also in der gesamten Breite der menschlichen Existenz. --

Nichtwissen bedeutet aber zugleich: Grund des Leidens. Innerhalb einer Unterscheidung erst kann auch Veränderung -- Entstehen und Vergehen -- offenbar werden. Für den Buddhisten ist sie untrennbar mit der Leiderfahrung verknüpft. Logisch betrachtet umfaßt der Begriff 'Veränderung' die Momente 'Entstehen' und 'Vergehen' zu offensichtlich gleichen Teilen; existenziell aber, so die Lehre, überwiegt das Moment 'Vergehen'. Existenziell ist der Mensch auf Beständigkeit ausgerichtet, und zwar so fundamental, daß er sich letztlich mit jedem beliebigen Umstand zufriedengeben würde, wenn er nur dauerhaft wäre.

Die Erfahrung zeigt aber, daß es diesen Umstand im gewöhnlichen Leben gar nicht gibt. Alles, was wir dort vorfinden und woran wir uns binden könnten, ist früher oder später dem Vergehen unterworfen. Daß in diesem Vergehen auch immer Neues entsteht, spielt dabei im existentiellen Bereich, wie gesagt, gerade keine Rolle. So wird sich ein begeisterter Sammler chinesischer Porzellanvasen wenn ihm durch ein Mißgeschick sein wertvollstes Stück zu Bruch geht, wohl kaum darüber freuen können, daß er damit auf der anderen Seite zugleich zum Besitzer eines Haufens von Scherben geworden ist. Aber selbst wenn dem Sammler in seiner gesamten Laufbahn nie ein solches Mißgeschick passieren sollte, heißt dies nicht, er sei damit von allen unangenehmen Veränderungen verschont. Vielleicht stellt er in der Mitte seines Lebens fest, daß seine Leidenschaft allmählich verblaßt, und die Erinnerung daran, wie intensiv sie früher war, wird seine Enttäuschung möglicherweise noch vergrößern. Vollends der buddhistischen Einstellung entspräche es, wenn er sich deswegen wünschen sollte, er hätte an chinesischen Vasen niemals Gefallen gefunden, da ihm seine Sammelleidenschaft nun, indem sie erlischt, Ursache für ein Leiden ist, das alle seine frühere Freude überwiegt. --

Nichtwissen bedeutet in dieser Hinsicht nicht nur, sich an etwas zu binden, das man irrtümlicherweise für beständig hält. Es bedeutet genauso die falsch ausgerichtete Suche nach Beständigem. Ein Schriftsteller oder Artist könnte z.B. meinen, seine Kunst eines Tages perfekt zu beherrschen, indem er versucht, sich alle ihre technischen Feinheiten und Kniffe anzueignen, bis er durch immer weitere und feinere Unterscheidungen zuletzt auf etwas wie ihre Grundelemente (oder Grundstrukturen) stößt, die sich dann rein mechanisch handhaben ließen. Doch wie sich in den Naturwissenschaften die Behauptung, das Atom sei der unteilbare Grundbaustein der Materie, als falsch erwiesen hat, erginge es nach buddhistischer Lehre auch dieser Auffassung. Die Erfahrungswelt des Menschen, gleichgültig wo und wie man ansetzt, enthält nichts absolut Beständiges. Alles in ihr unterliegt der Veränderung; darum ist sie wesentlich Leiden.

Dieses Element der Lehre kann man auch als ein zentrales Motiv der anschaulichen, symbolhaften Darstellung ansehen. In der Hauptsache -- dem Zweck nach -- geht es ja immer um 'Heilung'. Wenn man 'Heilung', wie geschehen, als einen gedanklich-philosophischen Vorgang auffaßt, dann meint sie in einem ersten Schritt Heilung vom Leiden durch Erkenntnis ('Wissen') um den Grund des Leidens. Ein produktiver Glaube ist zugleich der Seinsgrund der Erfahrungswelt wie auch der Grund allen Leidens. Weil es sich bei ihm bloß um einen Glauben handelt, d.h. etwas, das nur in seiner Praktizierung Wirklichkeit hat, haben Welt und Leiden davon unabhängig kein eigenes Sein -- auch sie sind bloßer Glaube, Schein, Maya. Damit können sie nicht der wahre "Ort", die "Heimat" des Menschen sein. Nichts anderes als diese Erkenntnis besagt auf erzählerischer, symbolhafter Ebene das buddhistische Gleichnis von den Bergschwänen, "die, wenn sie ihren See in den Bergen verlassen haben, von Tümpel zu Tümpel ziehen, ohne sich irgendwo niederzulassen, bis sie zu ihrer wahren Heimat in den klaren Wassern des Bergsees zurückkehren."[Anm. 3]

Wie eingangs erwähnt, ist eine Darstellung der buddhistischen Lehre immer dann adäquat, wenn sie dem Zweck der Lehre, der Heilung, dient. Entsprechendes gilt auch für die Biographie des historischen Buddha, wenn man sie in ihrem Sinne nachzeichnen möchte. Die Vita des Buddha bzw. Boddhisatta Shakyamuni[Anm. 4] ist dabei, wie die wohl eines jeden Heilsverkünders, innerhalb der Wirkungsgeschichte in eine stattliche Menge Schmuck eingekleidet worden, der für unsere Sichtweise den Blick auf das Wesentliche eher verstellt, als daß er zu einer Verdeutlichung beiträgt. In dieser Skizze greife ich aus der Vita nur ein paar typenhafte und auf Allgemeinheit bezogene Einzelheiten heraus, die in ihrer Eigenart zusätzliche Aspekte vor Augen führen, welche die Lehre, wenn man sie gedanklich-philosophisch versteht, gar nicht zu beinhalten scheint. Wenn man die Vita des historischen Buddha als eine Anleitung zur Heilung verstehen will, muß man sich außerdem darüber im klaren sein, daß es sich hierbei um ein anderes 'Medikament' handelt, als wenn man die Lehre wie bisher dargestellt auffaßt. Wenn sich die beiden Darstellungsweisen in gewissen Stadien ähneln und sie zuletzt sogar ineins fallen, dann nur deswegen, weil sie denselben Zweck verfolgen, nicht aber, weil sie selbst identisch wären oder sich per Analogie ineinander überführen ließen. Was dem Buddhismus seine Einheit gibt, ist ausschließlich der einheitliche Zweck der Lehre, nicht die Einheit seiner Mittel. (Darin liegt u.a. auch die Aufforderung, andere, vielleicht einem selbst unverständliche Mittel zur 'Heilung' als andere zum selben Zweck zu respektieren.) --

Der Boddhisatta Shakyamuni wurde 560 vor unserer Zeitrechnung in Kapilavastu, der Hauptstadt eines kleinen, im nepalesischen Himâlaya gelegenen Staates geboren[Anm. 5]. Zeichendeuter sagten Shakyamunis Vater Suddhodana voraus, daß sein Sohn entweder ein weltbeherrschender König oder ein weltentsagender Erlöser werden würde. Da der Vater einen Herrscher aus ihm machen wollte, war ihm entsprechend viel daran gelegen, von seinem Sohn alle negativen Erfahrungen fernzuhalten. Shakyamuni wuchs deswegen auf in einer Welt prächtiger Paläste, umgeben von Mädchen und Dienerinnen, unwissend über Alter, Krankheit und Tod, in einem Land der ewigen Jugend. -- Entscheidend für die Lehre ist dabei nicht das für unser Verständnis tragische Element -- daß der Vater mit seinem Handeln letztlich das Gegenteil von dem erreichte, was er bezweckt hatte --, sondern daß man sich vorstellen muß, wie der Boddhisatta vor seiner Abkehr, im Land der ewigen Jugend, sein Leben in allem, was es ihm bot, tief innerlich bejaht hat. Lebensbejahung, hier fast in ihrer idealen Form, stellt so betrachtet eine notwendige und nicht zu übergehende Stufe auch in derjenigen Lehre dar, die erst zu ihrem letzten Zweck die Abkehr von allem Leben hat. Oder anders gesagt: Eine tatsächliche, fundamentale Abkehr vom Leben ist auch nach der buddhistischen Lehre gar nicht möglich ohne eine vorausgehende, ebenso fundamentale Bejahung des Lebens -- was sich insbesondere gegen diejenigen richtet, die im Buddhismus bloß eine Religion des Pessimismus und der Weltächtung sehen wollen.

Wendepunkt im Leben des Boddhisatta sind die vier Ausfahrten in den Schloßpark. Auf den ersten drei macht er nacheinander die Erfahrungen von Alter, Krankheit und Tod: "Es gehört zum Wesen alles dessen, was geboren ist, daß es auch einmal alt wird", antwortet ihm sein Kutscher, als er während der ersten Ausfahrt fragend und voller Unverständnis einen alten Mann am Stock verfolgt. -- Nach entsprechenden Begegnungen mit Krankheit und Tod unternimmt er das letzte Mal die Ausfahrt in den Park.

"Da begegnete ihnen ein Mensch, dessen Mienen heiter waren, wie verklärt, als wisse er nichts von dem Leiden dieser ganzen Welt, von Alter, Krankheit und Tod. 'Was ist das?' rief erstaunt und überrascht der Bodhisatta aus, der auf den vergangenen Ausfahrten doch immer nur die leidvollen Erscheinungen des Lebens kennengelernt hatte. Der Wagenlenker aber antwortete: 'Das ist ein Mensch, der die Erlösung von allen jenen Leiden gefunden hat, der frei geworden ist, der alle Fesseln gesprengt hat, die ihn noch an dieses Leben binden.' Da rief der Bodhisatta aus: 'O, so will auch ich ein solcher Welterlöser werden [...]!', und er beschloß, aus dem Heim in die Heimatlosigkeit zu gehen."

Noch ein Mal kehrt der Bodhisatta nach Hause zurück. Der nun folgende Abschnitt zeigt in Bezug auf die Lehre, daß seine neuen Erkenntnisse unvergeßliche Erkenntnisse, etwas wie endgültige Erfahrungen sind. -- Er teilt dem Vater seinen Entschluß mit und bittet ihn, ihn in die Heimatlosigkeit zu entlassen. Doch der Vater willigt nicht ein. Statt dessen beauftragt er die Frauenschar,

"sorgsam auf den Prinzen zu achten. [...] In der letzten Nacht seines Weltlebens [...] suchen die Frauen den Bodhisatta mit Tanz, Gesang, Musik und Koketterie zu fesseln. Doch [...] der Bodhisatta schlief darüber ein. Dann erwachte er, und der Saal mit der schlafenden Frauenschar erschien ihm wie ein Leichenbestattungshaus. Der Ekel vor den irdischen Genüssen packte ihn. Der Gedanke wurde in ihm lebendig: 'Jetzt ist der Augenblick da, den großen Gang aus dem Heim in die Heimatlosigkeit zu tun!' "

Daraufhin flieht er auf seinem Pferd Kanthaka aus dem Palast.

Sieben Jahre übt der Bodhisatta sich nun in verschiedenen Künsten der Weltverneinung -- Erkenntnislehren, Fasten, umfassender Askese. Zum Ende dieser Zeit hat er fünf Gefährten gewonnen, die insbesondere seine asketischen Fähigkeiten bewundern. Sein Körper ist inzwischen durch die verschiedenen Übungen entstellt, doch der Erleuchtung fühlt er sich deswegen nicht näher. Schließlich erklärt er die asketischen übungen allesamt für sinnlos, beginnt wieder zu essen und ein maßvolles Leben zu führen. Daraufhin verlassen ihn seine fünf Gefährten. Für sie scheint er vom Heilsweg abgefallen. --

Von Bedeutung für die Lehre ist aus diesem Lebensabschnitt des Bodhisatta die Konsequenz, daß Weltverneinung, gleichgültig, welcher Technik sie sich im einzelnen bedient, nicht zur Loslösung von der Welt führt. Auch sie praktiziert den Glauben an den Satz vom Widerspruch. Sie setzt im Unterschied zur Welt eine Nicht-Welt, in die man aus der Welt heraus durch die eine oder andere Technik gelangen können soll. Trotzdem kann man die Weltverneinung -- ähnlich wie die Bejahung des Lebens bzw. der Welt -- als einen möglichen Schritt hin zur Heilung ansehen, so, wie sie im Leben des Bodhisatta ein Schritt zur Erleuchtung ist. --

Die Erleuchtung erfährt der Bodhisatta kurz darauf, "unabhängig und doch nicht unabhängig vom Vorhergehenden" unter dem Erkenntnisbaum (bodhirukkha) am Ufer des Flusses Neranjara. Der Legende nach besteht sie in der Erkenntnis der Kausalitätsreihe und damit, praktisch, in der Erkenntnis (Erreichung) des Nirvana. Abgesehen davon, daß ich es auch hier höchstens philologisch für sinnvoll hielte, die acht für den Buddhisten streng miteinander verknüpften Kausalgründe exakt in unser Verständnis zu übertragen, ist man mit ihrer Beziehung zum Nirwana an einen Punkt in der Darstellung gelangt, an dem die buddhistischen Philosophen Grund genug hätten, sich gemäß dem Eingangszitat dieses Essays zu freuen. Wohl kaum etwas führt aristotelisches Denken so sicher in Widersprüche wie der Versuch, etwas über das Nirwana [Anm. 6] auszusagen. -- So habe ich oben beansprucht, der alltägliche Zustand des Menschen aus buddhistischer Sicht ließe sich als praktizierter Glaube an den Satz vom Widerspruch darstellen. Man könnte nun beispielsweise meinen, daraus folgend müsse der erlöste Zustand des Menschen im strengen Wortsinn in der Aufhebung dieses Glaubens bestehen. Aber ist, näher besehen, die Aufhebung des Glaubens nicht nur im Unterschied zur Nicht-Aufhebung ein sinnvoller Ausdruck? Und ist also damit, näher besehen, in dieser Aussage über das Nirwana der Glaube an den Satz nicht immer noch praktiziert, also gerade NICHTS über das Nirwana gesagt? --

Doch dadurch wird etwas anderes deutlich nachvollziehbar. Auf dem Weg der Erlösung hin zum Nirwana muß die Sprache selbst in allen ihren Formen überwunden werden. Auch sie leistet einen Beitrag zu Unterscheidungen, ist also praktizierter Glaube an den Satz vom Widerspruch.

Hier verbinden sich die philosophische und die erzählende Darstellung der Lehre, und in dieser Verbindung enden sie zugleich. Indem sie sich beide der Sprache bedienen, können sie mit Blick auf die Lehre ebenfalls nicht mehr sein als ein bloßes Mittel, das zur Erreichung des letzten Zweckes früher oder später untauglich wird. --

Gleichgültig, ob man die Sprache in der alltäglichen Form, literarisch, in irgendeiner Weise wissenschaftlich oder philosophisch gebraucht, immer beinhaltet dies die mehr oder weniger strikte Praktizierung des Glaubens an den Satz vom Widerspruch. Sprachgebrauch überhaupt ist deswegen dadurch gekennzeichnet, Unterschiede zu erzeugen; die verschiedenen Weisen des Sprachgebrauchs -- alltagssprachlich, literarisch, wissenschaftlich usw. -- durch verschiedene Weisen, der Forderung des Satzes vom Widerspruch im einzelnen nachzukommen. -- Im Zustand des Nichtwissens glaubt man dabei, eine Methode anzuwenden, die beständige bzw. genügend beständige Unterscheidungen erzeugt. Eintritt in das 'Wissen' im buddhistischen Sinne bedeutet zu erkennen, daß es sich hierbei vom Prinzip her um einen Irrtum handelt. Einerseits, weil der Mensch in der geschilderten Weise fundamental auf Beständigkeit ausgerichtet ist, andererseits, weil deswegen von der Praxis des Glaubens an den Satz vom Widerspruch insgesamt Abstand genommen werden muß.

Vielleicht kann also der Essay, noch in der Sprache verblieben, darauf aufmerksam machen, daß dem Buddhismus zufolge der Gebrauch von Sprache zumindest latent auch immer die Erzeugung von Leiden und damit einen letztlich zu überwindenden Zustand bedeutet. Indem auch die Sprache in ihrem Gebrauch Unterschiede hervorruft, ist sie unter zwei Aspekten der Grund von Gewalt: Der Unterscheidende schneidet gewaltsam Unterschiede, in denen sich Veränderung (Vergehen) erst zeigen kann; das Unterschiedene kann sich in seiner Veränderung (seinem Vergehen) nur gewaltsam gegen die Unterscheidungen "zur Wehr" setzen. --

Die eingangs geschilderten drei Eindrücke kann man entsprechend als drei sehr subtile Äußerungen dieser Gewalt auffassen. So kann man, mit entsprechender Zurückhaltung gegenüber der folgenden Äußerung als sprachlicher Äußerung, den letzten Zweck des Buddhismus (den Ort des Menschen) auch in völliger Gewaltfreiheit sehen. -- Der Essay hat allgemein begonnen, um zu zeigen, wie weitgehend aus buddhistischer Sicht Gewalt bzw. Leiden unser Dasein bestimmen, wobei sich, seiner speziellen Intention gefolgt, die buddhistischen Philosophen des Eingangszitates nun als eine Gruppe von Sprachbenutzern herausstreichen lassen, die stellvertretend für alle übrigen genannt ist. Jede selbst noch so vage Unterscheidung, die "gerade bemerkbare Bewegung", welche der bis zur Unkenntlichkeit typenhafte Passagier oder Matrose des Schiffes wahrnimmt, kann ja als Leiden erfahren werden. Und in dieser Allgemeinheit richtet sich der Buddhismus dagegen, unterscheidende Gewalt vorschnell als "gute Gewalt" aufzufassen. Konsequent kann auch der Essay nicht ausschließen, daß er mit seinem Versuch, zu Zurückhaltung im Gebrauch der Sprache zu bewegen, jemandem "schlechte Gewalt" antut -- Ursache von Leiden ist. Er steht trotz seines Rates, Unterschieden als bloß 'scheinbaren' heiter und gelassen zu begegnen, sich an Widersprüchen zu freuen, statt vor ihnen zu erschrecken und ihnen durch 'Differenzierung' weitere Gewalt anzutun, innerhalb dessen, dem man widersprechen kann. -- Der Gefahr, damit selbst Ursache von Leid zu sein, kann er höchstens noch begegnen, indem er seinen Anspruch abschließend relativiert. Aus diesem Grund erzählt er "von einem Indien, das es vielleicht gar nicht gibt."

 

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