Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (Roman) |
Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf |
Inhaltsangabe:Ildikó und ihre zwei Jahre ältere Schwester Nomi bleiben zunächst bei der Großmutter Anna ("Mamika") in Csenta in der Ungarisch sprechenden Region Vojvodina im Norden Serbiens zurück, als ihre Eltern Miklós und Rózsa Kocsis Ende der Sechzigerjahre in die Schweiz auswandern. Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? "Besser" bedeutete für mich einfach "mehr". Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte. Vater und Mutter lebten in einem Land, in dem es mehr Schweine gab, mehr Hühner, mehr Gänse, da musste es Unmengen von Weizen geben, Mais, Sonnenblumen, der Klatschmohn wuchs überall. In den Speisekammern hingen unzählige Würste, große, wohlriechende Schinken, die Einmachgläser türmten sich auf den Regalen, in der Schweiz gab es sicher nicht nur freitags Palatschinken, sondern jeden Tag.
Zwei Jahre lang teilt sich das Ehepaar Kocsis mit den Landsleuten Sándor und Irén Bad und Küche. Miklós arbeitet als Metzger bei Herrn Fluri und auf dem Schlachthof. Rózsa verdient als Kassiererin und Kindermädchen dazu. Außerdem putzen sie am Wochenende gemeinsam in einer Bank. Nach vier Jahren richten sie mit zwei Waschmaschinen im Keller eine "Wäscherei, Glätterei und Büglerei" ein. Tante Icu stellt Brot auf den Tisch, Tomaten, Würste, Paprika, ihr müsst ausgehungert sein, Sahne, Quark, frische Butter, meine Tante, deren trockene Locken jetzt, spät in der Nacht, am Kopf kleben, ihre himmlischen Augen, die sich mädchenhaft freuen, Kinder, Kinder, dass ihr endlich da seid! und der Tisch ist noch nicht voll genug, den Speck muss ich noch holen, wie konnte ich den Speck vergessen und den Schnaps!, ihr fülliger Körper, der nochmals in der Speisekammer verschwindet, um im nächsten Augenblick den Tisch mit einer unglaublichen Torte zu verschönern, ach, und jetzt hab ich den Schnaps und den Speck wieder vergessen!
Während die Männer am anderen Morgen ihren Rausch ausschlafen, fährt Icu mit ihrer Schwester und den beiden Nichten zu ihrer Tochter Csilla, die gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern mit einem Kerl namens Casba in einem Slum lebt und erst von der Nachbarin zwei Stühle ausleihen muss, damit die Besucherinnen sich setzen können. Icu bringt ihr einen Korb voll Nahrungsmittel mit. Auf ihren Wunsch redet Rózsa mit Csilla und drängt sie, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber die junge Frau erklärt, sie liebe ihren Lebensgefährten und nehme die Armut gern auf sich. [...] in der ersten Gesprächspause greifen wir nach den mitgebrachten Säcken und Taschen – mit der Zeit haben wir eine richtige Systematik im Geschenke verteilen entwickelt, Nomi, die den Kaffee, die Schokoladen, die Seifen auf den Tisch stellt, ich, die ein paar Worte über die mitgebrachten Kleidersäcke verliert, Mutter und Vater, die die spezifischen Geschenke überreichen, Diät-Schokolade für unsere Mamika, Taubenfutter für Béla, Haarfärbemittel für Bélas Frau, die Coiffeuse ist, hautfarbene Verbände für Tante Icu, deren Beine von ihrer Arbeit in der Hanffabrik schwarz gefleckt sind, den Asthma-Spray für Onkel Móric, dessen Atemwege verklebt sind, weil er nicht nur Bauer ist, sondern seit Jahren auch in der Mühle arbeitet, einen Mixer für Nándor und Valéria, die mittlerweile zwei Kinder haben [...]
Während Miklós und Rózsa Onkel Pisti besuchen, bleiben Nomi und Ildikó bei ihrer Großmutter und lassen sich von ihrem Großvater ("Papuci") erzählen. [...] ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch [...]
1993 fragt der junge, in der kroatischen Stadt Dubrovnik aufgewachsene Serbe Dalibor Bastic im Café "Mondial" nach Arbeit. Die Familie Kocsis kann ihm zwar keine Stelle anbieten, aber Ildikó notiert sich seine Telefonnummer, ruft ihn bald darauf an und verabredet sich mit ihm. Obwohl sie beide aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, können sie sich nur in englischer Sprache unterhalten. Seit Ildikó als dreizehnjährige Schülerin in den Sizilianer Matteo de Rosa verliebt gewesen war, ist Dalibor der erste Mann, für den sie starke Gefühle entwickelt. [...] im Mondial hat uns noch nie jemand "Schissusländer" genannt, unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt, wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann [...], kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheiße in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch (ich, die "Scheiße" schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich "Scheiße" zu, Jugo und Scheiße, das passt zusammen [...] Kurz darauf verlässt Ildikó das Elternhaus und nimmt sich eine eigene kleine Wohnung. |
Buchbesprechung:
"Tauben fliegen auf", der Debütroman von Melinda Nadj Abonji, handelt von einer ungarischen Familie aus der nordserbischen Region Vojvodina, die Ende der Sechzigerjahre in die Schweiz auswandert. Mit viel Arbeit bauen sich Miklós und
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und die Balkankriege der Neunzigerjahre |