Raymond Carver: Kathedrale (Erzählungen) |
Kritik: Raymond Carver erzählt in "Kathedrale" mit schlichten Wörtern in knappen Sätzen. Er prägte damit einen minimalistischen Stil, den sich junge, auch deutsche Autoren als Vorbild nahmen (zum Beispiel Judith Hermann, die das Vorwort schrieb). ![]() |
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Raymond Carver: |
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Inhalt: Geschichten über Männerfreundschaften, verkorkste Ehen und aus der Bahn geworfene Menschen sind wiederkehrende Themen dieser Erzählungen: Federn – Chefs Haus – Konservierung – Das Abteil – Eine kleine, gute Sache – Vitamine – Vorsichtig – Von wo ich anrufe – Der Zug – Fieber – Das Zaumzeug – Kathedrale ![]() |
Originalausgabe: Cathedral Alfred A. Knopf, New York 1983 Kathedrale Übersetzung: Klaus Hoffer Piper Verlag, München 1985 Neuübersetzung: Helmut Frielinghaus Berlin Verlag, Berlin 2001 |
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Raymond Carver: Kathedrale |
FedernDer Fabrikarbeiter Bud lädt seinen Kollegen Jack und dessen Frau Fran zu sich nach Hause ein. Fran kommt nur widerwillig mit, obwohl so ein Besuch für das gewollt kinderlose Ehepaar eine Abwechslung in ihrem sonst eintönigen Alltag bringt. Von Buds Frau Olla, die gehemmt und nicht gerade attraktiv ist, hält Fran nichts. Insbesondere Jack findet das Baby der beiden hässlich: Es war, ohne Ausnahme, das hässlichste Baby, das ich je gesehen hatte. Es war so hässlich, dass ich nichts sagen konnte. [...] Zu sagen, das Baby sei hässlich, war noch geschmeichelt. (Seite 39) Die beklemmende Situation wird auch dadurch nicht besser, als ein ausgewachsener Pfau sozusagen als Haustier in der Wohnung herumspaziert. Olla hatte sich ihn gewünscht und Bud hat ihn ihr gekauft. Nach dem deprimierenden Besuch wird Fran und Jack allerdings klar, dass im Gegensatz zu ihnen in der Ehe von Bud und Olla Zufriedenheit, harmonisches Einvernehmen und Vertrauen in die Zukunft bestehen. Als wir an diesem Abend von Bud und Olla nach Hause kamen und als wir unter der Decke lagen, sagte Fran: "Schatz, fülle mich mit deinem Samen!" (Seite 44) Das Baby, das sie bekommen, bringt nicht die erhoffte Wendung in ihrem unerfüllten, freudlosen Leben. Die Wahrheit ist, das mein Junge etwas Hinterhältiges an sich hat. Aber ich spreche nicht darüber. Nicht einmal mit seiner Mutter. Mit ihr schon gar nicht. Sie und ich sprechen immer weniger, so wie die Dinge liegen.(Seite 46) Der lakonische Stil, in dem Raymond Carver die Geschichte auf 28 Seiten erzählt, entspricht dem einfachen gesellschaftlichen Milieu und der tristen Situation. Das AbteilMyers beantragt bei seiner Ingenieursfirma in USA "sechs Wochen Urlaub angehäuft", um nach Europa zu reisen. Angeregt durch einen unverhofften Brief seines in Straßburg studierenden Sohnes, den er seit der Scheidung von dessen Mutter nicht mehr gesehen hat, schlug er ihm vor, sich mit ihm am Bahnhof in Straßburg zu treffen. Viel Lust dazu hat er eigentlich nicht, denn er gibt seinem Sohn die Schuld am Scheitern seiner Ehe. Der Junge hatte Myers Jugend aufgezehrt, er hatte das junge Mädchen, dem Myers den Hof gemacht und das er geheiratet hatte, in eine nervöse Alkoholikerin verwandelt, die er abwechselnd bemitleidete und quälte. Warum, um alles in der Welt, fragte sich Myers, war er den ganzen weiten Weg gekommen, um jemanden zu sehen, den er nicht mochte? [...] Er wollte ihn nicht nach seiner Mutter fragen müssen. (Seite 76)
Aber insgeheim möchte Myers wohl doch gerne erfahren, was aus der "Mutter seines Sohnes" geworden ist (er bezeichnet sie im übrigen fast nie als seine [Ex-]Frau.) Das Abteil, vor dem er stand, war fast voll besetzt von kleinen, dunkelhäutigen Männern, die sehr schnell sprachen, in einer Sprache, die Myers noch nie gehört hatte. (Seite 80) Sie deuten ihm an, er solle sich zu ihnen setzen. Und falls es die falsche Richtung war – früher oder später würde er es herausfinden. (Seite 80) Myers schließt die Augen und kann endlich einschlafen. FieberCarlyle ist Lehrer. Seine Frau Eileen hat ihn verlassen. Die Kinder Sarah und Keith sind in seiner Obhut. Solange Ferien waren, konnte er die Alltagsaufgaben ganz gut bewältigen. Als die Schule wieder anfing, hatte er Kindermädchen engagiert, aber alle erwiesen sich als Fehlgriff. Eine Kollegin, der er privat etwas näher gekommen ist, kann ihm bei seinen Schwierigkeiten auch nicht wesentlich behilflich sein. Und die Telefonanrufe seiner Frau deprimieren ihn mehr als sie tröstlich wären. Eileen schwärmt ihm von ihrem Lebensgefährten Richard vor – einem früheren Kollegen Carlyles im übrigen – und wie sie sich nun endlich als Künstlerin verwirklichen kann. Seit langer Zeit sei ihr Kopf am rechten Platz und sie wolle mit ihm über "seinen Kopf und sein Karma" sprechen. Die Telefongespräche mit ihr nerven ihn zunehmend. "Denk positive Gedanken. Du klingst deprimiert." Insbesondere ihre Art, dass sie angeblich immer schon weiß, was er gerade denkt und was ihn bedrückt, kann er nicht ausstehen. Eileen ruft ihn wieder mal an: Der wichtige Grund, warum ich dich angerufen hab, ist der: Ich weiß, dass zur Zeit bei dir da drüben ein ziemliches Durcheinander herrscht. Frag mich nicht, wieso, aber ich weiß es. Tut mir Leid, Carlyle. Aber jetzt hör mal. Du brauchst doch immer noch eine gute Haushälterin, die sich zugleich um die Kinder kümmert, stimmt's? [...] Ich hab Richard gesagt, dass du da möglicherweise ein Problem hast, und er hat die Sache in die Hand genommen. Willst du wissen, was er getan hat? Hörst du zu? Er hat seine Mutter angerufen, die diese Frau lange als Haushälterin gehabt hat. Die Frau heißt Mrs Webster. [...] Richard hat es geschafft, mithilfe seiner Mutter eine Telefonnummer zu bekommen. Er hat heute mit Mrs Webster gesprochen. Das hat Richard gemacht.(Seite 198ff)
Diese Mrs Webster meldet sich dann tatsächlich bei Carlyle. Die ältere, warmherzige Frau kann gut mit den Kindern umgehen und ist eine verlässliche Hilfe im Haushalt. Eine kleine, gute Sache
Die vom Lektor Gordon Lish redigierte Version "Das Bad" ist in dem Buch "Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden" enthalten. Dort ist die Geschichte nur 10 Seiten lang; das Ende bleibt offen. In dem Band "Kathedrale" erstreckt sie sich über 35 Seiten, ist bis auf den Schluss im Wesentlichen aber inhaltlich gleich: Der Junge sah sie beide an, aber ohne ein Zeichen des Erkennens. Dann öffnete sich sein Mund, die Augen schlossen sich krampfhaft, und er brüllte, bis keine Luft mehr in seiner Lunge war. Dann schien sein Gesicht sich zu entspannen, und seine Züge wurden weich. Seine Lippen teilten sich, als sein letzter Atemzug durch seine Kehle fuhr und sanft durch die zusammengepressten Zähne entwich. (Seite 106)
Auch die angeblich ominösen Telefonanrufe, auf die die Eltern so panikartig reagierten, werden schlüssig erklärt. "Ihr Scotty, ich hab ihn fertig für Sie", sagte die Männerstimme. "Haben Sie ihn vergessen?" "Sie böser Mensch!", schrie sie in den Hörer. "Wie können Sie so etwas tun, Sie böser gemeiner Kerl?" "Scotty", sagte der Mann. "Haben Sie Scotty ganz vergessen?" Dann legte der Mann auf, ehe sie noch etwas sagen konnte. (Seite 109) In ihrer Aufregung und Trauer sind sie so wütend und unbeherrscht, dass sie noch nachts in die Bäckerei fahren und den Bäcker zur Rede stellen. Nach anfänglichem heftigem Wortwechsel – der Bäcker ist sich keiner Schuld bewusst – beruhigen sich die Gemüter. Als der Bäcker vom Tod des Jungen erfährt, setzen sich alle um seinen Backtisch, trinken Kaffee und essen Zimtbrötchen. "Ich hoffe, dass Sie von meinen warmen Brötchen ein paar essen. Sie müssen essen und weitermachen. Essen ist ein kleine, gute Sache in so einer Zeit", sagte [der Bäcker] (Seite 115) Langsam löst sich die Spannung der Eltern, und sie können über ihre Gefühle sprechen. Sie hören trotz ihrer Müdigkeit und Verzweiflung auch dem Bäcker zu, der über seine Einsamkeit und die Eintönigkeit seines Lebens berichtet.
Er war Bäcker. Er war froh, dass er kein Blumenhändler war. Es war besser, dafür zu sorgen, dass andere Leute zu essen hatten. Und jedenfalls roch es besser als Blumen. (Seite 116)
Dieser versöhnliche Schluss und der warmherzige Umgang mit den Protagonisten steht in krassem Gegensatz zu der vom Lektor gekürzten Erzählung "Das Bad", in der im übrigen der Vater und die Mutter keinen Namen haben; sie sind meistens "der Ehemann" beziehungsweise "die Ehefrau", wohingegen sie hier Howard und Ann genannt werden. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Raymond Carver (kurze Biografie / Bibliografie) |