John M. Coetzee: Schande (Roman) |
John M. Coetzee: Schande |
Inhaltsangabe: Seine Meinung, die er nicht laut äußert, ist, dass die Ursprünge der Sprache im Gesang liegen und die Ursprünge des Gesangs im Bedürfnis, die übergroße und ziemlich leere menschliche Seele mit Lauten zu füllen. (Seite 8f) Seit über einem Jahr besucht er jeden Donnerstag um 14 Uhr im Zimmer 113 der Windsor Mansions die schwarze Prostituierte "Soraya". In der Wüste der Woche ist der Donnerstag zur Oase voll luxe et volupté geworden. (Seite 5)
Zufällig sieht er Soraya an einem Samstagmorgen in der Stadt, mit zwei Jungen, die offensichtlich ihre Söhne sind. An den folgenden Donnerstagen entgeht Lurie nicht, wie unangenehm es ihr ist, dass er auf diese Weise etwas von ihrem Privatleben erfahren hat. Vier Wochen nach der Begegnung auf der Straße beendet sie ihre Tätigkeit in der Agentur, deren Kunde Lurie ist. Über ein Detektivbüro findet er ihre Adresse heraus und ruft sie an, aber sie weist ihn brüsk ab.
Sie leistet keinen Widerstand. Sie wendet sich nur weg: sie wendet ihre Lippen, ihre Augen weg. Sie lässt sich von ihm aufs Bett legen und ausziehen; sie hilft ihm sogar, hebt die Arme und dann die Hüften. Sie fröstelt; sobald sie nackt ist, schlüpft sie unter die Steppdecke wie ein Maulwurf in seinen Bau und dreht ihm den Rücken zu. Einige Wochen später taucht ein junger Mann bei Lurie im Dienstzimmer auf und gibt ihm zu verstehen, dass er Melanie in Ruhe lassen soll. Luries auf der Straße geparktes Auto wird zerkratzt. Der Vater der Studentin zeigt den Professor in der Universität an und beruft sich dabei auf das Verbot der Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers. Obwohl die Universität Lurie ein faires Verfahren und Vertraulichkeit zusichert, verbreitet sich die Neuigkeit rasch, und bald wird Lurie von einer Journalistenmeute verfolgt. Im Untersuchungsausschuss will man ihm Brücken bauen, aber er weigert sich, darauf einzugehen. Zwar bekennt Lurie sich schuldig im Sinn der Anklage, aber er weigert sich, etwas von sich preiszugeben und verzichtet lieber auf seine Professur. "Sie wollten ein Schauspiel: an die Brust schlagen, Reue, wenn möglich Tränen. Eigentlich eine Fernsehshow. Den Gefallen habe ich ihnen nicht getan." (Seite 88)
Nach seiner Kündigung fährt er zur kleinen Farm seiner Tochter nach Salem. Nach der Auflösung der Kommune war Lucy mit ihrer lesbischen Freundin Helen dort geblieben. Helen zog vor ein paar Monaten nach Johannesburg und ließ ihre Geliebte allein zurück. Lucy betreibt eine Hundepension und lebt vom Verkauf von Blumen, Kartoffeln und Zwiebeln auf dem Markt. Aus der unselbstständigen Tochter ist eine junge Frau geworden, die ihren eigenen Weg geht. Ein tüchtiger schwarzer Landarbeiter namens Petrus hilft ihr bei der Arbeit. Seine Ex-Frau lebt mit den Kindern in Adelaide; mit seiner zweiten Frau richtete er sich im ehemaligen Stall von Lucys Farm ein. Von seinem Lohn kaufte er der weißen Grundbesitzerin ein Stück Land ab und ist nun dabei, sein eigenes Farmhaus zu bauen. Inzwischen hilft er Lucy nicht mehr als Lohnarbeiter, sondern als Nachbar. "An dem Schauspiel war etwas so Schändliches, dass es mich zur Verzweiflung brachte. [...] Das Schändliche an dem Schauspiel in Kenilworth war, dass der arme Hund angefangen hatte, seine eigene Natur zu hassen. Er brauchte nicht mehr geschlagen zu werden. Er war soweit, sich selbst zu bestrafen. An diesem Punkt wäre es besser gewesen, ihn zu erschießen." (Seite 117f) Eines Tages dringen drei Schwarze ins Farmhaus ein. Sie sperren Lurie in die Toilette. Ohnmächtig muss er darin ausharren, während die Männer der Reihe nach seine Tochter vergewaltigen, die sechs großen Hunde in ihren Zwingern erschießen und alles Brauchbare in sein Auto tragen. Bevor sie damit wegfahren, überschütten sie Lurie noch mit Brennspiritus und zünden ihn an. Es passiert jeden Tag, jede Stunde, jede Minute, sagt er sich, in jedem Winkel des Landes. [...] Es ist gefährlich etwas zu besitzen: ein Auto, Schuhe, eine Schachtel Zigaretten. Es reicht nicht für alle, es gibt nicht genug Autos, Schuhe, Zigaretten. Zu viele Menschen, zu wenig Sachen. Was es gibt, muss in Umlauf gebracht werden, damit jeder eine Chance hat, einen Tag lang glücklich zu sein. Das ist die Theorie; halte dich an die Theorie und an das Tröstliche der Theorie. Nicht menschliche Bosheit, nur ein gewaltiges Umverteilungssystem, für dessen Funktionieren Mitleid und Schrecken keine Rolle spielen. So muss man das Leben in diesem Land sehen – von der schematischen Seite. (Seite 128) Der verwitwete Nachbar Ettinger, dessen Kinder nach Deutschland zurückgekehrt sind, fährt Lurie ins Krankenhaus, wo dessen Verbrennungen behandelt werden. Lucy meldet den Überfall zwar der Polizei, weil die Versicherung sonst nicht für den materiellen Schaden aufkäme, aber sie verschweigt die Vergewaltigung. "Der Grund ist der: aus meiner Sicht ist das, was mir zugestoßen ist, eine rein private Angelegenheit. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, könnte das als öffentlichte Angelegenheit betrachtet werden. Aber hier und heute nicht. Es ist meine Sache, ganz allein meine." (Seite 145)
Dass Petrus während des Überfalls nicht da war, findet Lurie verdächtig. Wusste er etwas? Wollte er vielleicht sogar, dass Lucy aus Angst wegzieht und ihm ihre Farm überlässt? Als Petrus Lucy und ihren Vater zu einem Fest einlädt, bei dem sie die einzigen beiden Weißen sind, taucht auch der jüngste der drei Vergewaltiger auf. Lucy will einfach nach Hause, ohne Aufsehen zu erregen, aber Lurie stellt den Jungen zur Rede und droht die Polizei zu rufen. Lucy redet es ihm aus und warnt ihn davor, Petrus das Fest zu verderben und ihn zum Feind zu machen. "Es geschah mit so viel persönlichem Hass. Das hat mich mehr als alles andere mitgenommen. Der Rest war ... wie erwartetl. Aber warum hassten sie mich so? Ich hatte sie nie zuvor gesehen." (Seite 203)
Vergeblich versucht Lurie, seine Tochter zu überreden, die Farm aufzugeben und wegzuziehen oder wenigstens ein paar Monate Urlaub zu machen.
"Ich dachte, du würdest ihn noch eine Woche aufsparen", sagt Bev Shaw. "Gibst du ihn auf?"
Mit diesen Worten endet der Roman. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 / 2013
Steve Jacobs: Schande |