Michael Cunningham: Die Stunden. The Hours (Roman) |
Michael Cunningham: Die Stunden. The Hours |
Inhaltsangabe: Die Stimmen sind wieder da, und der Kopfschmerz naht so sicher wie der Regen, der Kopfschmerz, der sie, was sie auch ist, zermalmen und ihre Stelle einnehmen wird. Virigina Woolf schreibt ihrem Mann Leonard in einem Abschiedsbrief: Ich fühle deutlich, dass ich wieder verrückt werde. Ich glaube, wir ertragen eine so schreckliche Zeit nicht noch einmal. Und diesmal werde ich nicht wieder gesund werden. Ich höre Stimmen und ich kann mich nicht konzentrieren. Also tue ich das, was mir in dieser Situation das Beste zu sein scheint. Du hast mir das größtmögliche Glück geschenkt. Du bist mir alles gewesen, was jemand für einen Menschen sein kann. [...] Dann zieht sie einen für die Witterung zu dicken Mantel an und eilt aus dem Haus. Während deutsche Bomber am Himmel dröhnen – es ist der 28. März 1941 – geht sie zielstrebig zum Fluss. Dort nimmt sie einen großen Stein auf und watet bis zum Hals ins Wasser. Rasch wird sie von der Strömung davongetragen. Sie scheint zu fliegen, wirkt wie ein Fabelwesen, die Arme ausgestreckt, mit fließendem Haar, dem Pelzmantel, der sich wie ein Schweif hinter ihr bauscht. Schwerfällig treibt sie durch braune, körnige Lichtstrahlen.
An einem Morgen im Jahr 1923 kommt Virginia Woolf aus ihrem Schlafzimmer im Hogarth House, das sich im Londoner Vorort Richmond befindet. Leonard arbeitet bereits in der Druckerei der "Hogarth Press". Er fragt seine Frau: "Hast du gefrühstückt?", und als sie gesteht, nur eine Tasse Kaffee mit Sahne getrunken zu haben, jetzt aber mit der Arbeit an ihrem neuen Roman beginnen zu wollen, ermahnt er sie, später "ein richtiges Mittagessen, Suppe, Nachtisch und so weiter" zu sich zu nehmen. Liebevoll umsorgt Leonard Woolf seine Frau und schützt sie vor Überanstrengung und Aufregung. Mrs Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen. Virginia Woolf arbeitet an ihrem neuen Roman in ständiger Angst vor einem Rückfall, vor der Wiederkehr der Kopfschmerzen und der Stimmen. Zunächst plant sie, dass die Protagonistin Clarissa Dalloway sich das Leben nimmt; dann ändert sie ihr Konzept und beschließt, lieber jemand anderes anstelle von Mrs Dalloway sterben zu lassen. Wichtig ist ihr, die Leserinnen und Leser davon zu überzeugen, dass für Mrs Dalloway eine Niederlage am Herd ebenso verheerend ist wie eine verlorene Schlacht für einen General. Man hat immer ein besseres Buch im Sinn, als man zu Papier bringen kann.
Weil Virginia Woolf am Nachmittag ihre drei Jahre jüngere Schwester Vanessa Bell mit den drei Kindern Julian (15), Quentin (13) und Angelica (5) aus London zu Besuch erwartet, schickt sie ihre Haushälterin Nelly Boxall – in deren Gegenwart sie sich nicht wohl fühlt – in die Stadt, um chinesischen Tee und kandierten Ingwer zu besorgen. Sie verabscheut Richmond. Sie giert geradezu nach London; sie träumt manchmal von den Herzen der Städte. Hier, wo man sie hingebracht hat und wo sie die letzten acht Jahre genau deshalb gelebt hat, weil es weder fremd noch wunderbar ist, bleibt sie weitgehend verschont von den Kopfschmerzen und Stimmen, den Wutanfällen. Hier sehnt sie sich lediglich nach den Gefahren des Stadtlebens zurück. Nach dem Besuch ihrer Schwester hält Virginia Woolf es im Haus nicht mehr aus. Sie spürt, wie der Kopfschmerz ihren Nacken hochkriecht. Sie verkrampft sich. Nein, es ist die Erinnerung an den Kopfschmerz, es ist ihre Angst vor dem Kopfschmerz, beide so lebhaft, dass sie zumindest einen kurzen Moment lang nicht von den einsetzenden Kopfschmerzen zu unterscheiden sind. Sie steht aufrecht da. Es ist gut. Alles ist gut. Die Wände des Zimmers wanken nicht; nichts murmelt unter dem Putz. Sie ist bei sich, steht hier, mit einem Mann im Haus, mit Dienstboten und Teppichen und Kissen und Lampen. Sie ist bei sich.
Ohne ihrem Mann etwas zu sagen, geht sie spazieren. Am Bahnhof von Richmond stellt sie fest, dass der nächste Zug nach London in 25 Minuten fährt. Sie wird erst von London aus anrufen, damit Leonard sie nicht zurückhalten kann. Virginia Woolf kauft einen Fahrschein und geht auf die Straße hinaus, um bis zur Abfahrt noch etwas zu gehen. Da kommt ihr Leonard aufgeregt entgegen. Er hat sich Sorgen gemacht. Sie erzählt nichts von ihrem nun gescheiterten Vorhaben, für ein paar Stunden nach London zu fahren, behauptet, nur etwas frische Luft gebraucht zu haben, um ihn zu beschwichtigen, und kehrt mit ihm ins Hogarth House zurück. Sie sollte auf sein, geduscht und angezogen, und das Frühstück für Dan und Ritchie zubereiten. Sie kann sie unten hören, wo ihr Mann sich sein Frühstück selber macht und Ritchie versorgt. Sie sollte dort sein, nicht wahr? Sie sollte in ihrem neuen Morgenmantel am Herd stehen, schlichte, aufmunternde Worte finden. Vor knapp fünf Jahren glaubte man zwei Tage lang, Dan sei bei Anzio gefallen. Dann stellte sich heraus, dass es sich um eine Namensverwechslung gehandelt hatte. Laura versteht bis heute nicht, wieso er sie – die drei Jahre ältere Schwester seines besten Freundes – danach geheiratet hatte. Sie las schon damals am liebsten Bücher, und vor Dan hatte noch kein Mann um sie geworben. Was hätte sie denn sagen können, außer ja? Wie hätte sie denn einen so hübschen, herzensguten Jungen abweisen können, praktisch ein Mitglied der Familie, der von den Toten wiedergekehrt war?
Sie liebt ihren Mann, aber sie wundert sich, wieso er keine Wünsche hat, die über das hinausgehen, was er bereits besitzt. Der Mann und der Junge verlangen gar nicht viel von ihr, nur ihre Anwesenheit und ihre Liebe natürlich.
Als Dan zur Arbeit gefahren ist, beschließt Laura, ihm eine Geburtstagstorte zu backen. Dabei fühlt sie sich wie ein Künstler oder Architekt, obwohl sie weiß, dass das ein verstiegener Vergleich ist. Sie wird für ihren Sohn da sein, ihren Mann, wird sich ihrem Zuhause widmen, ihren Pflichten, all ihren Gaben. Sie wird das zweite Kind haben wollen.
Lauras in der Nachbarschaft wohnende Freundin Kitty kommt vorbei und bittet sie, ihren Hund zu füttern, weil sie für einige Tage ins Krankenhaus muss: An ihrer Gebärmutter wurde ein Geschwür festgestellt; Dr. Rich will operieren und nachsehen. Mit vorgespielter Selbstsicherheit tut Kitty so, als ob es sich nur um eine Routineuntersuchung handeln würde. Laura umarmt Kitty voller Mitleid, denkt "so fühlt es sich für einen Mann an, wenn er eine Frau hält", spürt ihre Brüste. Die beiden Frauen küssen sich auf den Mund, aber Kitty zieht sich rasch zurück. Sie könnte sich dazu entschließen zu sterben. Es ist eine abstrakte, flimmernde Vorstellung, nicht unbedingt morbide. [...] Sie streichelt ihren Bauch. Niemals würde ich das tun. Laut spricht sie die Worte in dem sauberen, stillen Zimmer aus: "Niemals würde ich das tun." Sie liebt das Leben, liebt es inständig, zumindest in bestimmten Augenblicken; und sie würde ihren Sohn ebenfalls umbringen. Sie würde ihren Sohn und ihren Mann und das andere Kind umbringen, das noch in ihr Gestalt annimmt. Wie sollte einer von ihnen so etwas überstehen? [...] Dennoch ist sie froh zu wissen (denn irgendwie weiß sie es plötzlich), dass es möglich ist, dem Leben ein Ende zu setzen. Es ist beruhigend, die ganze Bandbreite der Möglichkeiten vor Augen zu haben, sich frei entscheiden zu können, furchtlos und ohne Arg. Sie stellt sich Virginia Woolf vor, jungfräulich, unausgeglichen, von den unerträglichen Anforderungen des Lebens und der Kunst besiegt; sie stellt sich vor, wie sie mit einem Stein in der Tasche in einen Fluss geht. Laura streichelt weiter ihren Bauch. Es wäre genauso einfach, denkt sie, wie in einem Hotel abzusteigen. So einfach wäre das.
Nach zweieinhalb Stunden fährt Laura wieder zurück, holt Ritchie bei Mrs Latch ab und bereitet sich darauf vor, Dan einen schönen Empfang zu bereiten, wenn er von der Arbeit heimkommt. Es wäre ebenso einfach wie das Absteigen in einem Hotel. Genauso einfach wäre das. Denk doch, wie wunderbar es wäre, nicht mehr wichtig zu sein. Denk doch, wie wunderbar es wäre, sich keine Sorgen mehr machen, nicht mehr kämpfen zu müssen oder zu versagen.
Die dritte Episode beginnt an einem Junimorgen am Ende des 20. Jahrhunderts in New York. Sie besitzt immer noch eine gewisse Sinnlichkeit; einen gewissen bohemienhaften, hexenartigen Charme [...] Mit 18 lernte sie Richard kennen. Spaßeshalber nannte er sie "Mrs Dalloway". Es war ihnen vorgekommen wie der Anfang eines großen Glücks, und Clarissa ist manchmal, mehr als dreißig Jahre später, immer noch erschrocken, wenn ihr klar wird, dass dies das große Glück gewesen ist; dass dieses ganze Erlebnis aus einem Kuss und einem Spaziergang bestand, der Vorfreude auf das Abendessen und ein Buch. Das Essen ist mittlerweile in Vergessenheit geraten; Doris Lessing ist längst von anderen Autoren verdrängt; und selbst im Bett, als Richard und sie dann soweit waren, ging es zwar heiß, aber auch unbeholfen zu, alles in allem unbefriedigend, eher lieb als leidenschaftlich. Doch diesen Kuss in der Abenddämmerung, auf dem verdorrten Gras, hat sie, mehr als drei Jahrzehnte später, immer noch deutlich vor Augen, den Spaziergang um den Teich, als ringsum die Stechmücken in der anbrechenden Dunkelheit summten. Noch immer ist da dieses einzigartige Hochgefühl, das zum Teil daher rührt, dass seinerzeit alles so verheißungsvoll, so viel versprechend schien. Jetzt weiß sie Bescheid: Das war der Moment, genau damals. Einen weiteren hat es nicht gegeben.
Richard verliebte sich nicht nur in Clarissa, sondern auch in Louis Waters. Dessen Versuche, mit Clarissa zu schlafen, scheiterten kläglich: Sie waren wohl nicht für einander geschaffen und nur durch ihre Liebe zu Richard verbunden.
Wir geben unsere Partys; wir verlassen unsere Familien, um in Kanada allein zu leben; wir plagen uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen. Wir führen unser Leben, verrichten unsere Tätigkeiten, und dann schlafen wir – so einfach und so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von uns, die breite Masse, werden langsam von irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es uns wider alle Wahrscheinlicheit und Erwartung so vorkommt, als schäume unser Leben über und schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben, obgleich jeder, Kinder ausgenommen (und vielleicht sogar die), weiß, dass auf diese Stunden unausweichlich andere folgen werden, die weitaus dunkler sind und schwerer. Dennoch ergötzen wir uns an der Stadt, dem Morgen; wir erhoffen uns, vor allem anderen, mehr davon. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003 Textauszüge: © Luchterhand Seitenanfang |
Stephen Daldry: The Hours. Von Ewigkeit zu Ewigkeit |