Jean Echenoz: Ich gehe jetzt (Roman) |
Jean Echenoz: Ich gehe jetzt |
Inhaltsangabe:Félix Ferrer ist etwa fünfzig Jahre alt und betreibt in Paris eine Kunstgalerie. Mit seiner Ehefrau Suzanne bewohnt er ein Einfamilienhaus in Paris-Issy. Weil er sich mit ihr langweilt, beschließt er kurz nach Neujahr, sie zu verlassen. Ich gehe jetzt, sagte Ferrer, ich verlasse dich. Ich lasse alles hier, aber ich gehe weg. (Seite 5)
Ferrer zieht zu Laurence, einer seiner Geliebten. Anfangs schläft er jede Nacht bei ihr, dann seltener, bis sie ihn hinauswirft und er sich eine Wohnung in der Rue d'Amsterdam mietet. Dort kommt eines Abends sein Assistent Louis-Philippe Delahaye vorbei und erzählt Ferrer, dass am 11. September 1957 an der Küste des Mackenzie-Distrikts im äußersten Norden Kanadas ein kleines Handelsschiff, die "Nechilik", auf ein Riff lief und vom Packeis eingeschlossen wurde. Die Besatzung floh zu Fuß zur nächsten Handelsniederlassung. Wegen der Unzugänglichkeit des arktischen Gebiets verzichtete die Reederei auf eine Bergung des Schiffes und der aus Fellen und arktischen Antiquitäten bestehenden Ladung. Ferrer hört kaum zu, denn er ist mehr an Delahayes Begleiterin Victoire interessiert – und die zieht eine Woche später bei ihm ein. Und beim Abendessen brachte Angutretok Ferrer einige der hundertfünfzig Wörter bei, mit denen auf Iglulik der Schnee bezeichnet wird, vom verharschten Schnee bis hin zum knirschenden Schnee, über frischen, weichen Schnee, harten, wellenförmigen Schnee, feinen, pulvrigen Schnee, feuchten, kompakten Schnee und vom Winde aufgewehten Schnee. (Seite 50)
Endlich kommt die "Nechilik" in Sicht, und an Bord findet Ferrer tatsächlich drei wuchtige Metalltruhen voll seltener Werke der frühen Walfang-Kulturen: Masken, Schädel, gravierte Reißzähne von Haien, Spielzeug aus Seehund-Knochen, Figuren aus Mammut-Stoßzähnen, Ringe aus Meteoriten-Nickel und so weiter. Es ist nicht einfach, die schweren Kisten von Bord zu tragen, aber die drei Männer schaffen es und kehren mit der Last nach Port Radium zurück. Und während er [Ferrer] sich der Rue d'Amsterdam nähert, auf dem Bürgersteig im Zickzack den Hundehaufen ausweichend, bietet ihm die Bühne der Stadt in folgender Reihenfolge einen Kerl mit Sonnenbrille, der eine große Trommel aus einem weißen Rover lädt, ein kleines Mädchen, das seiner Mutter mitteilt, es habe sich nunmehr, nach reiflicher Überlegung, fürs Trapez entschieden, dann zwei junge Frauen, die einander wegen eines Parkplatzes tot schlagen, schließlich einen kleinen Kühlwagen, der in flottem Tempo davonfährt. (Seite 106)
In der Galerie telefoniert Ferrer mit der Versicherung und dem Tresorhändler und verabredet sich mit beiden für den nächsten Tag. Dann bespricht er mit Elisabeth – die er als Ersatz für Delahaye eingestellt hat – die Beleuchtung für die geplante Ausstellung der Arktisobjekte. Zum Probieren will er zwei oder drei der Gegenstände von hinten holen – aber die Tür des Wandschranks steht offen. Der gesamte von Ferrer aus der "Nechilik" geborgene Schatz wurde geraubt! Übrigens gibt es bei Fahrzeugen dieses Typs zwei Kühlstufen: +5° oder -18°. Diese zweite hat Baumgartner vorgestern am Telefon ausdrücklich bestellt. (Seite 113) Der Raub droht Ferrer zu ruinieren, denn er hat sein gesamtes Vermögen in die Arktis-Expedition investiert. Und da die Galerie jetzt, bei mehr als mäßiger Konjunktur und in der Nebensaison, nichts abwarf, war das natürlich auch der Augenblick, den seine Gläubiger wählten, um ihn an ihre Existenz zu erinnern, die Künstler, um sich auszahlen zu lassen, und die Bankiers, um ihm ihre Besorgnis mitzuteilen. (Seite 115) Verzweifelt versucht Ferrer, sich mit den Kreditabteilungen der Banken zu arrangieren. Beim Warten in einem der Geldinstitute fühlt er sich plötzlich von einem Halbtonnengewicht niedergedrückt und sinkt zu Boden. Nun, er kam recht bald wieder zu sich, allerdings brachte er jetzt keinen Ton heraus; vorhin war sein Blickfeld wie ein Fernseher, den man abstellt, von den Rändern her schwarz geworden, jetzt war es wie eine Kamera, die nach dem jähen Tod des Kameramanns zu Boden fällt und starr aufnimmt, was ihr vors Objektiv kommt [...] (Seite 119) Kapitel 23 endet mit dem Satz: "Dann wurde ihm erneut schwarz vor den Augen." (Seite 120) Kapitel 24 beginnt folgendermaßen: "Als er sie wieder aufschlug, sah er zunächst ringsum nichts als Weiß, wie im guten alten Packeis neulich." (Seite 121). Ferrer kommt nämlich auf der Intensivstation eines Krankenhauses wieder zu sich. In diesem Augenblick ging die Tür auf, eine junge Frau, ebenfalls in weißer Kleidung, doch mit schwarzer Haut, steckte den Kopf herein, wandte sich zu einer anderen um, wohl einer Hilfspflegerin, und bat sie, Docteur Sarradon zu informieren, die 43 sei aufgewacht. (Seite 122)
Unvermittelt erhält Ferrer Besuch von einer attraktiven Frau. Auch in den folgenden Tagen schaut sie bei ihm vorbei. Am dritten Tag fragt er sie nach ihrem Namen. Sie heißt Hélène. Schließlich erzählt sie, sie sei Medizinerin und habe in der Grundlagenforschung gearbeitet, zuletzt in der Immunologie der Salpêtrière, aber eine Erbschaft und regelmäßige Alimentezahlungen ermöglichten es ihr, vor zwei Jahren die Berufstätigkeit aufzugeben. Hélène ist attraktiv und kleidet sich aufregend, aber Ferrer versucht vergeblich, bei ihrem Anblick sexuelle Begierden zu entwickeln und weiß auch nicht, was er mit ihr reden soll. Ferrer fragt sich, was Hélène eigentlich will, aber er wagt nicht, sie danach zu fragen. Schließlich berichtet er ihr von seinem Problem.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Nach seiner Ehescheidung am 10. Oktober erhält Ferrer einen Anruf von Kommissar Supin: Die Spur führt nach San Sebastian. Unverzüglich fährt Ferrer hin. Nach einer Woche erscheint ihm das Vorhaben, einen Unbekannten in einer unbekannten Stadt zu suchen, zwecklos. Wegen eines lärmenden Karzinologen-Kongresses wechselt er das Hotel – und an der Bar des "Hôtel de Londres et d'Angleterre", in dem er jetzt wohnt, entdeckt er Delahaye! Ferrer spricht ihn an. Delahaye nennt sich jetzt Baumgartner und besitzt gefälschte Papiere auf diesen Namen. Ferrer macht seinem ehemaligen Assistenten klar, dass er ihn ermorden könnte und niemand nach ihm suchen würde, denn man hält Delahaye ja bereits für tot. Aber Ferrer weiß nicht, wie man jemanden umbringt und verhandelt lieber mit Delahaye, der ihm schließlich gegen eine "Entschädigung" verrät, wo die Sachen versteckt sind. Sie erklärte sanft, dass sie nachgedacht hatte. Dass diese neue Wohnung. All diese Möbel. Die Aussicht, zusammen zu leben mit dem ganzen Himmel über dem Kopf, nein, sie wusste nicht mehr so recht. Sie war nicht ganz sicher, ob sie dazu schon bereit war, sie musste noch nachdenken, sie sollten später noch mal drüber reden. Ich meine nicht, dass wir das alles lassen sollen, verstehst du, ich meine nur, ich will noch mal nachdenken. (Seite 184) Nachdem Hélène gegangen ist, hat Ferrer auch keine Lust mehr, Réparaz' Einladung zu folgen. Stattdessen fährt er nach Issy und geht zu dem Einfamilienhaus, in dem er mit Suzanne wohnte. An der Tür steht weder sein noch Suzannes Name. Die Fenster sind hell erleuchtet. Offenbar findet im Inneren eine Silvesterparty statt. Zufällig kommt eine junge Frau heraus, die ein wenig Luft schnappen möchte. Eine Suzanne kennt hier niemand. Ob er ein Freund von Georges sei, fragt sie. Der sei hier kürzlich eingezogen. Sie lädt Ferrer ein, ihr ins Innere zu folgen. Gut, sagte Ferrer, aber ich bleibe nur ganz kurz, wirklich. In trinke schnell ein Glas und gehe. (Seite 187) |
Buchbesprechung:
Die Handlung des Romans "Ich gehe jetzt" ist bewusst trivial und ergibt auch keinen Sinn. Der Protagonist ist ein Pariser Kunsthändler, der zu keiner Bindung fähig ist. Es geht um Geld, aufregende Frauen, eine Expedition in die Arktis, einen Kunstdiebstahl und einen Mord. Jean Echenoz vermittelt aber keine Botschaft, keinen moralischen Impetus, sondern er spielt mit dem Leser, dessen Erwartungen er immer wieder ins Leere laufen lässt, aber so, dass dieser sich nicht darüber ärgert, sondern großes Vergnügen dabei empfindet. Er geht schnurstracks zum Telefon, lässt das Gepäck unterwegs fallen, nimmt ab und wählt. Offenbar ist besetzt, denn Baumgartner zieht eine Grimasse, hängt wieder ein, zieht seine Jacke aus und umkreist den Koffer, ohne auszupacken. (Seite 128) Von besonderem Reiz sind die Passagen, die wie Filmszenen wirken, zum Beispiel Telefongespräche, bei denen wir nur die Person im Bild, aber nicht den Gesprächspartner hören. Woher soll ich das denn wissen, schreit Baumgartner auf einmal, mach ihn an oder sonst was. Ach was, natürlich weißt du wie, lächelt er und massiert sich die Nasenflügel. Nein, ich glaube, ich mache mich besser ein bisschen aus dem Staub, sonst laufe ich am Ende noch wem über den Weg. Ich behalte das Apartment, aber ich fahre für ein paar Tage aufs Land. Natürlich melde ich mich. Nein, ich fahre heute Abend, ich fahre ganz gern nachts. Natürlich. Natürlich nicht. Ja, ich küsse dich auch. (Seite 77) Dazu kommen Schnitte wie im Kino, beispielsweise bei der Fortsetzung des Zitats: Er schaltet ab, schaltet wieder an und wählt die nur ihm bekannte Nummer des Apparats, den er dem Heilbutt gegeben hat. Es läutet ziemlich lange, bis abgenommen wird. [Schnitt] Hallo, ja, sagt der Heilbutt, ich höre, ach ja, guten Tag, Monsieur. (Seite 77) Hin und wieder meldet sich auch ein anonymer Kommentator zu Wort:
Weniger aus der Puste, als ich gedacht hätte, gelangte er in den sechsten Stock. (Seite 6) Der anonyme Erzähler spricht auch die Leser direkt an: Wenden wir uns, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, vorübergehend anderen Horizonten zu. (Seite 63)
Anfangs springt Jean Echenoz kapitelweise zwischen Ferrers Expedition in die Arktis und der Vorgeschichte dazu hin und her,
[...] der [...] seinen Abschied nahm und dann, in der Kajüte, seine Koffer. (Seite 37) In "Das literarische Quartett" wurde Jean Echenoz' Roman "Ich gehe jetzt" ebenso wie von vielen anderen deutschen Literaturkritikern verrissen, aber in Frankreich mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten Literaturpreis des Landes, ausgezeichnet. Vielleicht verfügen die Franzosen über bessere Antennen für die Ironie und das unbeschwert Spielerische in "Ich gehe jetzt". |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 |