Gerhard Falkner: Apollokalypse (Roman) |
Gerhard Falkner: Apollokalypse |
Inhaltsangabe:Kurz zu mir. Mein Name ist Autenrieth. Georg Autenrieth. Ich wurde fünf Jahre nach Kriegsende, als die Kirschbäume bereits geleert waren, aus vermutlich niederen Beweggründen gezeugt. Noch heute büße ich für diesen Leichtsinn mit dem Leben. Über die Zeit seiner Geburt in Nürnberg schreibt der Ich-Erzähler:
Die Dörfer lagen wie Streuobst in der Landschaft oder hingen an den Stielen ihrer Kirchtürme dachziegelrot am Himmel und rochen verstörend nach Milch und Kalk. Georg Autenrieth behauptet, der Sohn von zwei ungleichen Vätern zu sein.
Er sagte einmal, seine Mutter hätte es mit zwei Männern am gleichen Tag getrieben, und dann wäre ein Wunder geschehen, die erfolgreiche Befruchtung eines Eis von zwei verschiedenen Männern. Georgs Großvater besaß das Autenriethsche Spulenwerk Fürth und war mit Sophie Autenrieth, einer geborenen Hechtel, verheiratet. Er starb im Alter von 71 Jahren. Der Sohn Johann folgte ihm ins Grab, als Georg acht Jahre alt war. Meinem (anderen) Vater, ein blasser und nachdenklicher Mann, der in der Firma vom Alten zeitlebens wie ein Buchhalter herumkommandiert wurde, hatten die Ärzte gegen ein Hüftleiden Cortison verabreicht, als handle es sich um Brausepulver, bis er regelrecht in seinen Knochen zusammenbrach und starb. Noch am Tage seiner Beerdigung entledigte sich die alte Sophie Autenrieth ihrer Schwiegertochter.
Georgs Mutter hatte von ihrem Schwiegervater bei der Eheschließung Prokura im Unternehmen bekommen. Nach dem Tod der beiden Männer entzog die Schwiegermutter ihr diese, warf sie hinaus und enterbte sie. Ich gewann eine Art Hoffnung und verlor den Appetit. Als ich dünn genug war für den nächsten Frühling, stellte ich das Opiumrauchen wieder ein und stürzte mich ins Nachtleben.
Der Russe Gregor Aganovich nimmt ihn und den Amerikaner Buzz Fender mit in die Kommune von Gisela, Monika und Renate. Als sie hinkommen, knien drei mit Hundehalsbändern angekettete junge Männer in mit Erbsenpüree verschmutzten Windeln vor den Kommunardinnen und lecken sie zwischen den Schenkeln.
"Das ist eine Entführung", sagte ich zu ihm, "machen Sie jetzt bloß keine Dummheiten." Im Jahr darauf trifft sich Georg Autenrieth in der Berliner Gaststätte "Zur letzten Instanz" mit Jan Becker alias Hilmar Bechtold aus Moritzburg. Der weist in seinem Bericht für das Ministerium für Staatssicherheit auf nützliche Beziehungen seines Gesprächspartners zu Gegnern des Klassenfeindes in München, Frankfurt und Berlin hin, meint aber auch: "Die Zuverlässigkeit ist möglicherweise durch eine gewisse Überspanntheit als eingeschränkt zu betrachten. Den charakterlich-moralischen Anforderungen für vertrauensvollere Aufgaben dürfe die oben genannte Person wegen eines ziemlich lockeren Lebenswandels kaum gerecht werden." Georg fährt von Berlin zurück nach Nürnberg, hält sich einige Zeit in Gunzenhausen auf, tauscht am 2. April 1979 sein Klingelschild in Nürnberg gegen ein anderes aus ("Gina, bitte 2x läuten") und fährt dann nach Berlin, wo er am übernächsten Tag noch einmal mit Jan Becker alias Hilmar Bechtold in der Gaststätte "Zur letzten Instanz" verabredet ist. Es wird allerdings behauptet, ich hätte die Zeit zwischen Herbst '78 und März '79 gar nicht in Gunzenhausen verbracht. Später taucht ein Bericht vom 16. Mai 1982 auf, in dem es heißt: [...] daß den gegnerischen Sicherheitsorganen ein anonymer Hinweis vorliegt, wonach der IM(S) Peter Maria Rainer mit Duldung des MfS für die RAF eine getarnte Kiste mit einer Panzerfaust von Frankfurt nach Berlin durch das Gebiet der DDR bringen konnte. Peter Maria Rainer wird seit Januar 1981 durch den Führungsoffizier Jan Becker betreut. Den gegnerischen Sicherheitsorganen sei außerdem bekannt, daß besagter IM am 3.5.1979 mit der Terroristin Regine van Meeren in der Nürnberger Kinokneipe Meisengeige zusammengetroffen war. Die Frau fuhr nach diesem Treffen und einem kurzen Abstecher in die Nürnberger Irrerstraße 11 weiter in eine konspirative Wohnung in der Stephanstraße 40 und wurde dort bei ihrer versuchten Festnahme durch eine Polizeikugel tödlich verletzt.
Der Bericht endet mit der Empfehlung, dem IM Peter Maria Rainer eine neue Identität zu verschaffen. "Wissen Sie, Autenrieth, Sie waren einer der besten Studenten, die ich je hatte. Was ich an Ihnen geschätzt habe, war diese wunderbare Sprache, die stets von einem unabhängigen Verstand in Form gehalten wurde. Und nun lese ich diese breitgewalzten Exzesse." Mitte der Achtzigerjahre freundet sich Georg mit zwei elf bzw. 13 Jahre jüngeren Männern an: Heinrich Büttner und Dirk Pruy. Sex war in Büttners in Anführungszeichen normalem Leben wichtiger als Essen, Schlafen, Arbeiten oder irgendeines der garantierten Grundrechte, wie Recht auf Leben, auf Achtung der Person, auf Gleichberechtigung oder dergleichen, gewesen. Heinrich Büttner, der vorhatte, an der Münchner Akademie zu studieren, war wegen eines Praktikums bei einem Kirchenrestaurator für sechs Monate nach Passau gekommen. Dort lernte er die 16-jährige Isabel ("Bella") Kauffmann kennen, die einzige Tochter des Unternehmers Heribert Kauffmann und dessen Ehefrau Gerlinde, geborene Überreuther. Die Familie verfügte bereits Anfang der Achtzigerjahre über ein Privatflugzeug und pflegte den Umgang mit Franz Josef Strauß. Entsprechend selbstbewusst verhält sich Isabel, als sie sich Heinrich Büttner nähert.
Seine Ungeschicktheit erzeugt Ungeduld, und diese Ungeduld lässt ihn immer ungeschickter werden. Er hätte sich wohl noch länger mit dem vorsichtigen Abwiegen ihrer Brüste aufgehalten, hätte sie nicht irgendwann ihren Rock hochgeschlagen, ihn an sich gezogen und alles Weitere selbst in die Hand genommen.
Isabel Kauffmann studiert schließlich wie ihr Freund Kunst in München. Die beiden, Dirk Pruy und Georg Autenrieth verbringen viel Zeit miteinander. Zwischendurch gibt es schon mal "drei Tage Amsterdam in achtundvierzig Stunden". Gegen vier Uhr morgens wurde Büttner von Polizeibeamten des Abschnitts 53 ins Klinikum Am Urban gebracht. Um fünf Uhr morgens wurde der Amtsarzt Dr. Heiner Schoeps hinzugezogen. [...] Dies war der Beginn von Büttners dritter und letzter Unterbringung in einer Psychiatrie.
Nach sechs Wochen holt Isabel ihn ab. Bald darauf wirft sich Heinrich Büttner in Berlin-Schöneweide vor einen Zug. Der erste Schritt, dachte ich, müsste sein, damit anzufangen aufzuhören. Die Schwierigkeit war nur, womit fängt man an aufzuhören, wenn man dieses Aufhören in seiner weitesten Konsequenz für die eigene Existenz ins Auge fasst? Weit über ein Jahr verbringt er als "Glasmann" in "vollkommener Unsichtbarkeit". Das ändert sich 1990, als er mit Dr. Neil Donahue, einem Freund aus den USA, eine Performance in einer Berliner Galerie besucht und dabei der Bulgarin Bilijana ("Billy") Stojanowa begegnet. Am liebsten sprach sie über schwierige Dinge. Über arbiträre Strukturen in der Hermeneutik oder den französischen Poststrukturalismus – so in diese Richtung.
Ihre Mutter, Vera Kantschewa aus Plowdiw, war zum Studium nach Moskau gegangen und hatte sich dort in den russischen Chemie-Studenten Nicolai Stojanow verliebt. Als die gemeinsame Tochter Bilijana acht Jahre alt war, zogen sie nach Sofia. Im Herbst 1985 fiel die 23-jährige Bilijana Stojanowa bei einem Empfang des Staatschefs Todor Schiwkow anlässlich einer internationalen Konferenz im Hotel Shipka dem deutschen Militärattaché Wolfdietrich Griebenow auf, und sie wurde dessen Geliebte. Griebenow wurde Ende 1987 nach Deutschland zurückbeordert und Referatsleiter für Rüstungskontrolle. Anfang 1988 kehrte Bilijana von einer Berlin-Reise nicht nach Bulgarien zurück. Ihre Eltern verloren deshalb ihre Anstellungen in den Labors von Bulgarpharm bzw. in der Redaktion der Nachrichtenagentur BTA.
Bilijana lebte in einem Traum. Sie träumte sich selbst, ungeachtet der Wahrscheinlichkeit, dass die wache Welt da draußen andere Träume von ihr haben könnte. 1994 muss Wolfdietrich Griebenow wegen eines Bandscheibenvorfalls im Klinikum rechts der Isar in München operiert werden. Danach ist der Brigadegeneral impotent, und weil er die vom Arzt Dr. van Randenburg empfohlene Schwellkörper-Autoinjektionstherapie ablehnt, verzichtet er fortan darauf, sich seiner Frau sexuell zu nähern. Aber auch im Verhältnis von Billy und Georg kriselt es. Irgendwann kam der Tag, an dem wir die Dinge nicht mehr richtig im Griff hatten. Entweder wollten wir es und konnten es nicht, oder wir wollten es nicht, weil wir es nicht konnten. Oder wir wollten es und konnten es auch, taten es aber einfach nicht. Im Reißverschluss von Georgs Hose findet Billy ein langes blondes Haar.
Seit ich mit Billy zusammen war, hatte es keine andere Frau gegeben.
General Wolfdietrich Griebenow findet schließlich heraus, dass Bilijana für den KGB und den bulgarischen Geheimdienst arbeitet. Möglicherweise war ihre Begegnung im Hotel Shipka in Sofia kein Zufall. Erst Wochen nach ihrem Tod wird Bilijanas Leiche in einem Keller in Berlin gefunden. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als habe sie sich erhängt, aber die Gerichtsmediziner stellen fest, dass sie bereits tot war, als ihr der Strick um den Hals gelegt wurde. Es gab also einen Georg Autenrieth, der ich nicht gewesen sein konnte. Aber der Teufel, der aussieht wie "ein heruntergekommener russischer Klavierstimmer oder wie der Besitzer eines vergammelten Zigarettenladens in Marzahn", erklärt ihm:
"Sie haben keinen Doppelgänger, Autenrieth, Sie sind der Doppelgänger!" Georg erkennt in ihm den im Rütten-&-Loening-Haus am Hackeschen Markt praktizierenden Psychotherapeuten Joe Bodenstein. |
Buchbesprechung:In dem Roman "Apollokalypse" von Gerhard Falkner spiegelt sich das Berlin der Jahre 1985 bis 1995. Im Zentrum steht ein Ich-Erzähler, der seine Identität nicht nur verschleiert, sondern sogar selbst daran zweifelt und an einen Doppelgänger glaubt (Heautoskopie). Gleich zu Beginn heißt es:
Der Mann, von dem ich wahrheitsgemäß behauptet habe, nicht zu wissen, dass ich es selbst gewesen sein könnte [...] Ein Jugendfreund sagt über ihn: "Autenrieth führt mehrere Leben gleichzeitig, einerseits, weil er muss, andererseits aber auch, weil er wohl dazu in der Lage ist." Später legt Georg Autenrieth nach:
Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich die Frau bin, die um diese Zeit dazustößt. – Dieser Satz wird den Lektor und den Leser vielleicht irritieren, aber das kann ich im Moment leider nicht ändern. Und gegen Ende zu konstatiert der Ich-Erzähler:
Es gab also einen Georg Autenrieth, der ich nicht gewesen sein konnte.
Identitätsverlust, Spiegelung und Verdoppelung sind Leitmotive des Romans "Apollokalypse". Beispielhaft ist eine Szene, in der sich der Ich-Erzähler mit der Mitverschwörerin Christiane auf einen Anschlag in Oberursel vorbereitet, der bis ins Detail dem tödlichen RAF-Anschlag am 30. Juli 1977 auf Jürgen Ponto gleicht, auch wenn dessen Name nicht genannt wird und die Täter nicht Susanne Albrecht, Brigitte Mohnhaupt, Christian Klar und Peter-Jürgen Boock heißen. Während Georg und Christiane sich vor der Fahrt nach Oberursel fertigmachen, läuft im Fernsehen eine Dokumentation über das von Charles Manson und seinen Anhängern ausgeführte Massaker. In dieser Parallelmontage sind zwei Spiegelungen der Wirklichkeit miteinander verwoben. Dany [Nadelbaum] sah inzwischen aus wie eine Raubkopie von Woody Allen.
Georg Autenrieth feiert in Mexiko Aureliano Buendias Geburtstag. Aureliano Buendías heißt eine der zentralen Figuren in dem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel García Márquez. Den Namen der Terroristin Henriette Vogl assoziieren wir wohl nicht zufällig mit Henriette Vogel, die am 21. November 1811 am Wannsee mit Heinrich von Kleist zusammen in den Tod ging. Den Titel "Apollokalypse" hat Gerhard Falkner von Apokalypse und Apollo abgeleitet, einerseits vom Weltuntergang, andererseits vom Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der Mäßigung und der Künste. (Der Inhalt ist allerdings mehr dionysisch als apollinisch.) Auch an die Nymphe Kalypso denkt man beim Titel, und auf das 1961 bis 1972 von der NASA betriebene Raumfahrtprogramm "Apollo" kommt der Ich-Erzähler selbst zu sprechen.
Das Leben bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten, den Verstand zu verlieren. Georg Autenrieth, der sich als 18-Jähriger von der "Blechtrommel" zu der Novelle "Die zersungenen Schwänze" anregen ließ, meint zum Thema Literatur:
Trotzdem hält sich beim Individuum irgendwie die hartnäckige Überzeugung, etwas Besonderes und Gelungenes zu sein. In einer selbstironischen Passage führt der Ich-Erzähler eine Vermieterin ein, die ansonsten in "Apollokalypse" keine Rolle spielt:
Meine Vermieterin sagt, dies hier wäre ein schlechter Roman. Wahrscheinlich hat meine Vermieterin recht. Sie sagt, man wäre "als Leser fortwährend auf der Suche nach einem Zusammenhang", und es könne ja nicht Sinn eines Romans sein, "sich bis zu seinem Ende damit abzukaspern, einen solchen Zusammenhang zu entdecken". Da ist natürlich was dran, musste ich zugeben. Man hat sich im Leben wirklich mit Wichtigerem abzukaspern. Es ist nicht einfach, bei der Lektüre von "Apollokalypse" den Überblick zu behalten, denn die Identität des unzuverlässigen Ich-Erzählers ist schwer greifbar, und er springt überdies zeitlich vor und zurück. Dass er auf Chronologie und Linearität verzichtet, rechtfertigt er so: In dieser Geschichte aber würde das kaum helfen. Kontinuität würde ihren Sinn verfehlen, Chronologie nur auf eine falsche Fährte führen. Wenn ich verstehen will, was mit mir passiert ist, muss ich mir Zugang verschaffen zu Erinnerungen, in denen sich der Schlüssel findet, warum ich der und der und der zu sein scheine statt einfach nur der "Ich". Obwohl die RAF, die Stasi, der BND und andere Geheimdienste eine Rolle spielen, ist "Apollokalypse" ein apolitischer Roman. Überhaupt geht es dem Lyriker Gerhard Falkner in seinem scheinrealistischen Debütroman weniger um Inhalt als um Sprachmagie. Die neoexpressionistischen Bilder von München, Berlin und New York gehören zu den stillen Höhepunkten von "Apollokalypse". Manchmal übertreibt Gerhard Falkner allerdings das furiose Spiel mit einfallsreichen Formulierungen, hochaufgeladenen Sätzen und bedeutungsschweren Metaphern:
Entweder will Gott das Unglück aus dieser Welt entfernen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht. Oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Will er es und kann es nicht, so wäre das Ohnmacht, die der göttlichen Natur zuwiderliefe. Kann er es und will es nicht, so wäre das Bosheit, die seiner Natur nicht weniger zuwiderliefe. Will er es nicht und kann er es nicht, so wäre es beides, Ohnmacht und Bosheit. Will er es und kann er es (was als einzige dieser Weisen Gott angemessen ist), woher kommt dann das Unglück auf Erden? Manchmal wird es auch albern: Pünktlich mit dem 1. April begann der April und hörte fast den ganzen April über nicht mehr damit auf, den April zu spielen. Das Triviale und das Philosophische, das Vulgäre und das Gebildete liegen in "Apollokalypse" dicht bei einander. Das deutet Gerhard Falkner bereits im allerersten Satz des Romans an: Wenn man verliebt ist und gut gefickt hat, verdoppelt die Welt ihre Anstrengung, in Erscheinung zu treten.
Mit seinem außergewöhnlichen, sprachgewaltigen Debütroman "Apollokalypse" schaffte es Gerhard Falkner gleich auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016 |