Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten (Roman) |
Wilhelm Genazino:
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Inhaltsangabe:Gerhard Warlich ist einundvierzig Jahre alt. Vor vierzehn Jahren, kurz nachdem er über Heidegger promoviert hatte, fing er als Ausfahrer in einer Großwäscherei in Frankfurt am Main an. Inzwischen brachte er es zum Organisationsleiter. Zu seinen Aufgaben gehört es, dass er neue Kunden akquiriert. Außerdem muss er Ausfahrer observieren, um sicherzustellen, dass sie ihre Pausen nicht überziehen. Die Kontrolle der Kollegen widerstrebt Warlich, denn er hält das Leben schon für anstrengend genug: Wenn ich könnte, würde ich das Projekt "Halbtags leben" erfinden. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen.
Seit zehn Jahren wohnt Warlich mit Traudel zusammen in einer dreieinhalb-Zimmer-Wohnung in einem Frankfurter Mietshaus. Traudel wohnte hier auch schon vorher mit einem Bankangestellten. Sie leitet eine Bankfiliale in einer Kleinstadt, achtzig Kilometer außerhalb von Frankfurt.
[...] dass es hinter der ersten Wirklichkeit eine zweite und eine dritte gibt, an denen ich teilhabe und die ich, so ich Glück habe, irgendwann zu meinem Beruf machen werde. Davon bin ich leider noch ziemlich weit entfernt. Bis jetzt habe ich es nur zum Beinahe-Künstler gebracht; ich mache Collagen, ich zeichne und male, ich filme, ich schreibe Nonsens-Gedichte, aber nichts davon so richtig, ich meine: leidenschaftlich und also ohne Ausweg. Eines Tages äußert Traudel den Wunsch, doch noch zu heiraten. Falls ihr Lebensgefährte einmal auf der Intensivstation eines Krankenhauses liege, so begründet sie ihr Anliegen, wolle sie sicher sein, ihn besuchen zu dürfen. Das lässt Warlich allerdings nicht gelten: Muss man sich verheiraten, weil man nur so die Bürokratie von Krankenhäusern überlisten kann? Einige Zeit später kommt Warlich auf Traudels Heiratsabsicht zurück:
Ich fasse mir ein Herz und sage: Du hast vor einiger Zeit gesagt, dass du heiraten willst. Traudel gibt zu, dass ihre Mutter hinter dem Heiratswunsch steckt, weil diese der Ansicht ist, dass Traudel im Fall einer Schwangerschaft einen Ehemann haben sollte. Warlich will weder einen Trauschein noch ein Kind. Er denkt: Sie braucht, um das Leben zurückzugewinnen, ein paar deutliche Geschmacksverstärker, sie braucht Kinder. Laut sagt er: Als meine Mutter ehemüde wurde, wollte sie plötzlich ein eigenes Haus mit Garten, und als sie beides nicht bekam, kriegte sie zwei Kinder, meine Schwester und mich.
Am Ende lässt er Traudel in dem Glauben, dass sowohl eine Hochzeit als auch ein Kind für ihn denkbar wären. Aber dann unterläuft ihm beim Vorspiel ein Fehler: Er packt ein Kondom aus. Beleidigt klappt Traudel die Beine zusammen, und als er sie wieder auseinanderdrücken will, schlägt sie ihn mit der Fernsehzeitschrift auf den Kopf. Ich selbst glaube nicht mehr an die Veränderbarkeit irgendwelcher Verhältnisse.
Eigendorff entlässt ihn nach der Rückkehr ins Büro fristlos, und zwar mit der Begründung, jemand habe ihn während der Arbeitszeit als Teilnehmer einer Demonstration beobachtet. Sobald es die Schule der Besänftigung gibt, werde ich Vorlesungen über den Aufbau des Glücks in glücksfernen Umgebungen halten. Das ist mein Spezialgebiet. Auf die Unterredung mit Dr. Heilmeier vom Kulturamt bereitet er sich im Café gegenüber zwanzig Minuten lang gedanklich vor. Der Kulturreferent empfängt ihn mit den Worten:
Sie kommen in einem günstigen Augenblick. Die Stadt trägt sich schon länger mit der Absicht, eine Pop-Akademie zu eröffnen.
Die Sätze, die Warlich sich im Café zurechtlegte, sind damit unbrauchbar geworden.
Ein anderer Mann klopft der Frau den Straßenschmutz vom Rock. Haben Sie sich verletzt, fragt der Mann zweimal. Die Frau nimmt schon auf mich Rücksicht, untersucht nicht die von mir malträtierte Hand und sagt: Vielen Dank, Gott sei Dank nicht. Ich beneide den anderen Mann um seinen routinierten Umgang mit dem Unglück [...] Ich mache mir Vorwürfe, dass ich weder die Brille noch die Tasche aufgehoben habe. Diese ins Leere gehende Fürsorge ist ganz typisch für mich. Deswegen komme ich mir jetzt oberflächlich, halb zerfleddert und nichtswürdig vor. Mir passt nicht, dass ich erschöpft und müde bin, obwohl ich nicht gearbeitet habe.
Nach dem Vorfall kauft er sich an einer Imbissbude eine Bockwurst, aber die Brötchen sind aus, und er bekommt stattdessen eine Scheibe Brot. Weil er die nicht mag, steckt er sie in die linke Innentasche seines Jacketts. Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik. Dabei glaubte Warlich noch bis vor kurzem, nicht verrückt zu sein: Echte Verrückte sind laut, aggressiv, pöbelnd, unberechenbar. Ich dagegen bin leise, duldsam und verhuscht wie ein vergessener Fisch in einem Aquarium.
Als Traudel ihn besucht, die Türe seines Zimmer von innen abschließt und ihre Bluse aufknöpft, weist Warlich den "quasi ehemäßigen Samariterdienst" zurück. Traudels Moralismus könnte eine solche Strategie der Lebenserleichterung niemals gutheißen. Als Adrian im Rahmen der Therapie eine Nacht als Obdachloser verbringen darf, begleitet Warlich ihn ein paar Stunden. Dann kehrt er aus freien Stücken in die Klinik zurück. Eine Art Glück durchzittert mich. Offenbar kann ich, trotz allem, immer noch wählen, wie ich in Zukunft leben will. |
Buchbesprechung:
Bei dem promovierten Philosophen Gerhard Warlich, der Hauptfigur in "Das Glück in glücksfernen Zeiten", handelt es sich um einen antriebsschwachen, grüblerischen Mann ohne Ehrgeiz, der das Leben für viel zu anstrengend hält. Den gewohnten Gang der Dinge bringt der Wunsch seiner langjährigen Lebensgefährtin nach Kind und Eheschließung aus dem Tritt. Als er dann auch noch seinen Arbeitsplatz verliert, verzweifelt Warlich vollends, und die Scham
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Wilhelm Genazino: Abschaffel |