Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte |
Katharina Hacker: Eine Dorfgeschichte |
Inhaltsangabe:
Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, verbrachte als Kind jeden Sommer mit ihren Großeltern mütterlicherseits, den Eltern, dem älteren Bruder Simon und dem jüngeren Bruder Frederik in einem Dorf im Odenwald. In der übrigen Zeit des Jahres wohnten sie in der Stadt. Zu Weihnachten mietete der Vater jeweils einen kleinen Lastwagen und brachte die Dinge, die sich in der Stadtwohnung nicht bewährt hatten, aufs Land. Ihr Gesicht war angenehm, es blieb, was ihr auch begegnete, angenehm, sie verzog es nicht, nur wenn von den Nazis die Rede war und wenn einer von Tieren sprach.
Die Enkel durften nicht einmal Tiernamen aussprechen. Das hing vielleicht mit Großmutters Vertreibung zusammen. Als sie nämlich auf der Flucht erschöpft vom Wagen gerutscht war, war der Hund ihr nachgesprungen, hatte sie mit seinem Körper gewärmt und gejault, bis jemand sie auf einen Karren gehoben hatte. Sie hatte nach Hundefell gerochen und den Hund gehört, aber nicht dagegen protestiert, dass er zurückgelassen worden war. Die Vorratskeller im Dorf fanden sich nicht unter den Häusern, sondern, vom Hof getrennt, oft auf der anderen Straßenseite, als wolle man sicher sein, dass ein Brand nicht gleich die Vorräte – Kartoffeln, Eingemachtes, Apfelwein – mit vernichtete.
Ein im Dorf geborener Mann war fortgezogen und kam später blind zurück. Weil er irgendwo Orgel spielen gelernt hatte, vertraute ihm der Pfarrer die Schlüssel der Kirche an, damit er zu jeder Tages- und Nachtzeit üben konnte. Eine Flüchtlingsfrau brachte dem Blinden das Korbflechten bei. Damit verdiente er dann seinen Lebensunterhalt. Als die Erzählerin sieben oder acht Jahre alt war, lud er sie ein, ihm in die Kirche zu folgen, und sie hörte seinem beseelten Orgelspiel zu. Kurz darauf starb er. Die alte Frau Trunk kam früher zur alten Frau Schneider, die damals gar nicht alt war, und brachte Brot, das sie eben frisch gebacken hatte, der alte Brotofen stand in Trunks Scheune. Sie kam manchmal zur Melkzeit in den Stall, mit dem noch warmen Brot, ich erinnere mich, wie sich der Geruch des Brotes mit dem Geruch von Kuhmist mischte, der in Schubkarren geschaufelt wurde. Mit dem Schubkarren musste man das schmale Brett hinauf auf den Misthaufen, bis oben hin, dort den Mist auskippen. Wenn Frau Trunk mit dem Brot in den Stall oder in die Scheune kam, ging Frau Schneider in die Küche, und wir liefen hinterher, dort wurde das Brot angeschnitten, wir bekamen jeder eine Scheibe, mit Butter bestrichen. Auf einem der Höfe gab es zwei Söhne. Der jüngere war gehbehindert und wurde nur der "Hinker" gerufen. Er schaffte zwar den Hauptschulabschluss nicht, erwies sich jedoch als geschickt, wenn es darum ging, ein Auto oder einen Trecker zu reparieren. Auf die Idee, dafür Geld zu verlangen, kam er nicht. Das tat Werner, sein älterer Bruder. Dessen Hund Rolf verbellte den Gehbehinderten. Der mag nicht, was der Herrgott nicht gewollt hat, sagten manche im Dorf. Nicht weil der Hinker hinkte sondern weil er kurz vor der Hochzeit geboren war.
Als der Vater der beiden Brüder starb, erbte der Jüngere statt des Älteren den Hof. Einmal fuhren sie zusammen mit dem Trecker in den Wald. Dort rutschte Werner mit der Motorsäge in der Hand aus, stürzte und verletzte sich schwer. Sein Bruder, der bereits ein Handy besaß, obwohl der Empfang im Dorf noch unregelmäßig war, wählte den Notruf und rettete ihm das Leben. Danach hörte er auf, in den Bus zu steigen, der die Behinderten aus den Dörfern zur Lebenshilfe fuhr, und wenn er ein Auto oder einen Trecker reparierte, verlangte er von da an Geld dafür. Er starb später an Krebs.
Er wollte immer was Besseres sein, ein Flüchtling und von früher her ein Freiherr, ein Gutsbesitzer, bloß kein Bauer, bloß nicht hier aus der Gegend. Und woher kam er?, fragte ich. Die Ich-Erzählerin hält sich noch einmal einige Zeit in dem Dorf auf, um darüber zu schreiben.
Die alte Frau Schneider schaffte sich immer noch zum Gemüsegarten. Vom Hof gackerten die Hühner, gehörten aber nicht mehr ihr, sondern einem Nachbarn. Die Ställe waren lange leer. Eigentlich sahen ihre Augen auch nichts mehr, andererseits noch Kartoffelkäfer und die Nacktschnecken. Hier kannst du bestimmt gut schreiben, sagte sie mir, vielleicht Dorfgeschichten. Dorfgeschichten gibt es auch in Berlin, erwiderte ich. |
Buchbesprechung:
Katharina Hacker erzählt keine Dorfgeschichte mit einer durchgehenden Handlung, sondern komponiert einen Prosa-Text aus Erinnerungen einer namenlosen Ich-Erzählerin. "Eine Dorfgeschichte" besteht aus Anekdoten und Gerüchten, Eindrücken, Bildern und anderen sprachlichen Miniaturen, die allenfalls lose miteinander verknüpft und auch nicht chronologisch angeordnet sind. Die Protagonisten der einzelnen Episoden werden nicht näher charakterisiert, sie bleiben blass und schemenhaft. Es geht hier weniger um die Figuren als um die Atmosphäre, in dem das Dorfleben stattfindet. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Katharina Hacker: Der Bademeister |