Ernst-Wilhelm Händler: Die Frau des Schriftstellers (Roman) |
Ernst-Wilhelm Händler:
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Inhaltsangabe:Der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller Ende vierzig, dessen Namen wir nicht erfahren, trifft in Schumann's Bar am Hofgarten in München zufällig auf den Literaturagenten La Trémoïlle, den er drei Jahre lang erfolgreich gemieden hat. Der gehörlose Agent schreibt auf seinen Palm, der Verleger Johann Guggeis wolle den Schriftsteller sehen. Die Begegnung schockiert den Schriftsteller so, dass er sich zu Hause in die Dusche hockt.
Ich ziehe die Beine an und verschränke die Arme um die Knie, damit ich nicht so zittere. Mich friert, obwohl mir das Wasser aus der Brause, unter die ich mich nach der Wiederbegegnung mit La Trémoïlle geflüchtet habe, fast Verbrennungen verursacht. (Seite 9)
Das Wiedersehen mit La Trémoïlle wühlt Erinnerungen auf. Pototsching schreibt nur mit der Hand. Das Manuskript ist zu dreiviertel fertig. Wegen seiner Verletzung muss Pototsching es mit der linken Hand zu Ende schreiben. Das kann nur Laura lesen. Sie können sie dazu überreden, das Manuskript abzuschreiben. (Seite 61)
Bei Tonio Pototsching handelt es sich um einen Enkel des gleichnamigen, aus der Schweiz stammenden Hausmeisters, der für einen Gebäudekomplex in der Rue Hippolyte Maindron in Paris zuständig war, in dem der Künstler Alberto Giacometti zwei Atelierräume gemietet hatte. Während der Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg kollaborierte er mit den Deutschen; als Charles de Gaulle in Paris einmarschierte, setzte er sich nach Wien ab und stellte sich später als Displaced Person den Alliierten. 1946 kehrte er schwerkrank nach Paris zurück, erholte sich jedoch nicht mehr. Der Sohn des Hausmeisters und seiner Lebensgefährtin Renée Alexis zog in die Schweiz. Dort, in Chur, wurde Tonio Pototsching, der Enkel des Hausmeisters, geboren. Laura brachte sich öfter selbst Verletzungen bei, mit einer Nagelschere stach sie sich in die Venen, mit einer Rasierklinge ritzte sie sich eine geometrische Figur in den Bauch. (Seite 94) Obwohl es sich bei Lisa und Laura um Zwillinge handelt, sind sie sehr verschieden. Während des Studiums wohnten sie zusammen. Lisa arbeitete tags, Laura nachts. Lisa stellte die Bücher geordnet ins Regal, Lauras Bücher lagen in Haufen auf dem Boden. Lisa versäumte keine Vorlesung und keine Übung. Laura besuchte am Anfang eines Semesters späte Vorlesungen und Übungen, zum Ende des Semesters gar keine mehr, weil sie meistens im darauffolgenden Semester das Fach wechselte. (Seite 411f)
Laura lernte Tonio Pototsching kennen, als dieser an seinem ersten Buch schrieb. Bereits beim zweiten Treffen schlug er ihr vor, zu ihm in sein Haus in Zehlendorf zu ziehen. Laura nahm das Angebot an, allerdings unter der Bedingung, dass sie nicht mit ihm zu schlafen brauchte. Sie ließ sich zwar von ihm auch unter der Kleidung anfassen, verweigerte ihm aber den Koitus. Nach dem Umzug meldete Laura sich von der Universität ab und jobbte beispielsweise als Bedienung im Café Kranzler und als Verkäuferin im KaDeWe. Dass Pototsching schließlich nach seinen Lesungen andere junge Frauen mit ins Hotelzimmer nahm und mit ihnen schlief, nahm sie hin. Erst als er einmal spätabends zwei schwule, miteinander knutschende Literaturredakteure mit nach Hause brachte und sich mit seinem Unterkörper so lange an ihr rieb, bis er in die Hose ejakulierte, hielt Laura es nicht mehr aus: Am nächsten Morgen fuhr sie nach Norwegen, wo Lisa gerade bei einer befreundeten Familie zu Besuch war. Erst einige Zeit später kehrte sie zu dem Bestseller-Autor zurück. Lassen Sie das Manuskript, wie es ist, schreiben Sie es so zu Ende, wie Laura Turner es Ihnen sagt. (Seite 262) Der Ich-Erzähler zieht zu seiner neuen Lebensgefährtin Laura, und als Tonio Pototsching zu einer Preisverleihung nach Berlin kommt, trifft er sich mit ihm im Hotel Four Seasons. Der Bestseller-Autor liest ihm aus dem unfertigen Manuskript vor. Erst jetzt merkt der Ich-Erzähler, dass der Roman von seiner Kindheit in Österreich handelt. Pototsching muss in St. Pankraz gewesen sein und dort seine Schwestern, die Töchter des Rohrauerbauern und die Kinder der Holzers befragt haben.
Ein anderer hatte genau das Buch geschrieben, das ich schreiben wollte. Ein anderer hatte mir meine Kindheit geraubt. Ein anderer hatte mein Buch geschrieben. (Seite 210)
Protagonist des Romans ist ein Junge, der mit drei Schwestern auf dem Reitbauerngut in St. Pankraz aufwächst. "Die Gnädige", die in Wolfsegg am Hausruck lebende Besitzerin des Reitbauernguts, kommt regelmäßig nach St. Pankraz. Sie erzählt dem Jungen, dass sie einmal auf dem Eis einbrach und aufgrund der Unterkühlung klinisch tot war, bis man sie nach über einer Stunde endlich herausziehen und wiederbeleben konnte. Der Vater des Jungen, der das Reitbauerngut gepachtet hat, kommt nur alle drei Wochen nach Hause, denn er arbeitet als Sprengmeister am Bosruck-Tunnel zwischen Spital am Pyhrn und Liezen. Während seiner Abwesenheit kümmert sich die Mutter des Jungen um das Vieh, die Äcker und die Felder.
Für den italienischen Priester nahm die Welt ihren Ursprung im Geschriebenen, und nur dort erschloss sie sich. Den Deutschen hatte der Junge niemals lesen gesehen, nie mit einem Buch, nie mit einer Zeitung in Verbindung gebracht.
Auf dem Rückweg von der Einserhütte überrascht der Junge einmal den Idioten Franz aus St. Pankraz zusammen mit der mongoloiden Tochter des Arztes Dr. Moldowan aus Wien, die jedes Jahr im Sommer drei Wochen mit ihrer Mutter in der Gästepension der Holzers verbringt. Franz entfernt sich schuldbewusst einen Schritt von dem Mädchen, das dem Jungen sein Kropfband schenkt.
Der Junge träumte davon, Bücher zu schreiben. Er musste gar nichts erfinden, er konnte Schauplätze und Personen hernehmen, die er kannte, und etwas beschreiben, was er selbst erlebt hatte. Der Ich-Erzähler wirft Laura vor, sie helfe dem Bestseller-Autor, ihn auszulöschen:
Du tust so, als wären wir identisch, ich und derjenige, dessen Kindheit Pototsching beschreibt, ein und dieselbe Person, aber wir sind es nicht [...] Als der Ich-Erzähler sich bei Johann Guggeis beschwert, meint der Verleger:
Keiner wird wissen, dass Sie Pototschings Buch zu Ende geschrieben haben. Sie schreiben noch ein Buch, in dem Sie sich dagegen wehren, dass Pototsching sich über Ihre Kindheit verbreitet! Und dann schreiben Sie ein weiteres Buch, in dem Sie enthüllen, dass Sie es waren, der Pototschings Buch fertiggstellt hat! Sie sind schließlich Schriftsteller, und ich bin Verleger! (Seite 263)
Der Ich-Erzähler befürchtet, durch das Buch seiner Identität beraubt zu werden. Er weigert sich, Pototschings Manuskript zu Ende zu schreiben, vernichtet seinen Entwurf und verlässt Laura ohne Erklärung. Wer so gut fickt wie sie, muss intelligent sein. Beatrice ist Psychohistorikerin, sie hat einen Lehrauftrag am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität. Ihr Vater besitzt eine Supermarktkette in Südtirol. (Seite 31) Übrigens behauptet Beatrice, dass es sich bei der RAF um eine Nachfolgeorganisation der SS gehandelt habe (S. 62). Im Gespräch mit ihr meint der Ich-Erzähler:
Ich sagte, das Hauptnahrungsmittel der Deutschen sei Wurst. Kein anderes Volk der Welt verzehre so viel zerhacktes, in Därmen abgefülltes Fleisch. Da sei es unvermeidlich gewesen, dass die Nazis an die Macht kamen. Und die Deutschen essen immer noch so viel Wurst. (Seite 32) Drei Monate, nachdem Beatrice ihn ansprach, trifft er im Schumann's auf La Trémoïlle und verbringt die Nacht unter der Dusche. Beatrice kam früh am Morgen. Ich hatte die ganze Nacht unter der Brause verbracht. Sie hatte versucht, mich telefonisch zu erreichen. Widerstandslos ließ ich mich aus dem Bad führen. Sie tupfte mich ab und trug Salbe auf meine aufgequollene und wunde Haut auf. (Seite 506) Nachdem er sich erholt hat, fährt Beatrice ihn nach Wien, wo angeblich Johann Guggeis im Hotel Palais Schwarzenberg auf ihn wartet. Statt des Verlegers sind dort jedoch La Trémoïlle und Tonio Pototsching. Der Bestseller-Autor stellte das Manuskript fertig – es liegt jetzt bei Guggeis –, aber Pototsching, der inzwischen ein neues Buch geschrieben hat, will gar nicht mehr, dass es veröffentlicht wird. Er kann es Guggeis zwar nicht verbieten, rät jedoch den Ich-Erzähler, eine Verletzung seiner Persönlichkeitssphäre geltend zu machen. Meta, die neue Cheflektorin des Verlags, sichert dem Ich-Erzähler schließlich zu, Pototsching das alte Manuskript zurückzugeben, sobald er das neue abliefere.
Ich bin nicht meine Erinnerung oder meine Erinnerungen, sonst wäre ich vor drei Jahren in Pototschings Hotelzimmer sofort ein anderer geworden. Ich bin meine Klappentexte, die biografischen Anmerkungen, die Rezensionen meiner Bücher, die Fragen bei Lesungen und Interviews. Natürlich bin ich auch meine Bücher [...] Auch wenn ich mich an nichts erinnern könnte, solange ich den Entwurf meines Klappentextes meines Lektors abnehmen kann, solange bin ich immer noch ich. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Die Frau des Schriftstellers" von Ernst-Wilhelm Händler (* 1953) dreht sich um die Frage des Verhältnisses zwischen Autor und Romanfigur. Der namenlose Protagonist befürchtet, durch eine Romanfigur könne er seiner Identität, ja seiner Existenz beraubt werden. Ist es möglich, dass Figuren eine Eigendynamik entwickeln und Fiktion und Realität ineinander übergehen? Welche Beziehung besteht zwischen einem Menschen und der Hauptfigur in einer entsprechenden Biografie?
Sie [Laura] stützte sich auf die Krücken, sie war nackt und trug nur noch ihre Schnürstiefel. Die Krücken reichten ihr bis unter die Achsel, sie berührte kaum den Boden mit den Schuhen. Unten waren die Krücken mit dicken schwarzen Gummienden, oben mit rosafarbenen, flauschigen Polstern versehen. Bei jedem Aufsetzen gab es ein quietschendes Geräusch. (Seite 486) Es gibt auch Textstellen wie die folgende: Wand vor Wand, Wand vor Wand, Wand hinter Wand, Gang im Raum, Raum im Raum, Gang im Raum, Wand vor Wand, blaue Papierfläche in Wand, Raum im Raum, Raum im Raum, roter Stein hinter Raum, Blei um Raum, Blei im Boden, Licht um Raum, Wand vor Wand, Figur in Wand, Kubus in Wand, schwarzer Stein in Wand, bewegliche Decke unter Decke, Gang im Raum, Wand vor Wand ... (Seite 325)
Eine vier Seiten lange Passage auf den Seiten 222 bis 226 wiederholt sich wortwörtlich auf den Seiten 228 bis 223. Ich schlafe in Bed No. 923 [...] Ich esse am Table No. 669, ich liege auf dem Settle No. 208 und blicke auf zwei Tabourets No. 601 und den Armchair No. 324, meine Bücher schreibe ich am Library Table No. 619 [...] Vom Library Table blicke ich auf das China Cabinet No. 815. (Seite 235f) An anderer Stelle heißt es in einem siebzehn Zeilen langen Abschnitt: Er zeichnete heitere senkrechte Streifen. Dunkelblau, orange, dunkelblau, gelb, hellblau, orange, hellblau, schwarz [...] hellblau, gelb, dunkelblau, orange, dunkelblau. (Seite 240) Laura stellt dem Ich-Erzähler neunundneunzig Fragen, ohne dass dieser auch nur eine einzige beantwortet:
"Levi's oder Armani?" Auf den Seiten 340 bis 370 listet Ernst-Wilhelm Händler 424 "Namen der Angst" auf, und eine Aufzählung von Eigenschaften des Protagonisten durch Beatrice zieht sich durch das ganze Buch:
BESCHÄFTIGT SICH ÜBERMÄSSIG MIT DETAILS, REGELN, LISTEN, ORDNUNG, ORGANISATION ODER PLÄNEN, SODASS DER WESENTLICHE GESICHTSPUNKT DER AKTIVITÄT DABEI VERLORENGEHT. ZEIGT EINEN PERFEKTIONISMUS, DER AUFGABENERFÜLLUNG BEHINDERT [...]
Laura und Beatrice, die beiden Geliebten des Protagonisten, tragen wohl nicht zufällig die gleichen Namen wie die von Dante und Petrarca verehrten Frauen. Die Figur des Verlegers Johann Guggeis weist Züge von Siegfried Unseld auf. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009 |