Ulla Hahn: Spiel der Zeit (Roman) |
Ulla Hahn: Spiel der Zeit |
Inhaltsangabe:Hildegard ("Hilla") Palm studiert Germanistik und Geschichte in Köln und hat ein Zimmer in einem nach Hildegard von Bingen benannten Wohnheim für katholische Studentinnen, im "Heldejaad-Kollesch". Der Vater Josef Palm schärfte ihr immer wieder ein: Jlöw jo nit, dat de jet Besseres bes. Un du bliews doch dat Kenk vun nem Prolete. Von den 1000 Mark, die ihr der Vater vor ihrer Abreise heimlich zusteckte, kauft Hilla in Köln einen Mixer. Den bringt sie dann bei ihrem ersten Wochenendbesuch bei der Familie in Dondorf, einem Dorf zwischen Köln und Düsseldorf, als Geschenk mit. Die verwitwete Großmutter Anna Rüppli, die mit im kleinen Haus der Palms wohnt, fragt beim Anblick des Walita Jubileu Standmixers: Wer bruch denn su ne Krom? Und Hillas Mutter Maria klagt: Das jode Jeld! Wat ene Kokolores! Nur der Vater freut sich über den Mixer und probiert ihn sofort aus. Der bräunliche Brei signalisierte den Triumph der Technik über die Natur, der nun auch in die Dondorfer Küche Einzug hielt. Um Mutter und Großmutter zu besänftigen, lügt Hilla, sie habe den Mixer bei einem Preisausschreiben gewonnen. Als kurz darauf Hillas Tante Berta vorbeikommt, zeigt deren Schwester stolz auf den Mixer und erklärt:
So wat jehört in jede moderne Haushalt! [...]
In Köln nimmt Hilla mit einigen Mitbewohnerinnen an einer Demonstration gegen Preiserhöhungen bei der Straßenbahn teil. (Die Abkürzung Demo kennt sie noch nicht, die kommt erst später auf.) Die hätt sojar dat Füer em Herd usjonn losse!, empfing mich die Mutter. Un isch muss rauf un runter wejen der, dä janze Tach. Kurz bevor Hilla nach Köln gezogen war, hatte sie ihre Großmutter Anna mitten in der Woche beim Backen angetroffen.
Omma, es ist doch erst Mittwoch. Bald darauf erhält Hilla in Köln die Nachricht, dass ihr Vater einen Infarkt erlitt. Erneut eilt sie nach Hause. Als Maria, Hilla und Bertram vom Besuch im Krankenhaus zurückkommen, steht Marias Schwester Berta mit einem Besen in der Tür: Esch han hier ens jekehrt, knurrte sie, dä Pastur kütt jlisch.
Eigenmächtig rief sie den Dorfpfarrer Kreuzkamp. Der trifft mit einem Messdiener ein, um Anna Rüppli die Letzte Ölung zu spenden. Sie kommt noch ins Krankenhaus, aber dort stirbt sie. Josef Palm wird der Tod der Schwiegermutter auf Anraten des behandelnden Arztes verschwiegen. Aufregung wäre schädlich für ihn, heißt es. Maria trägt deshalb beim Krankenbesuch ein helles Kleid, das sie erst danach gegen ein schwarzes vertauscht. Am nächsten Morgen kaufte ich eine Kinderbadewanne, die ich als Fußbadewanne ausgab. Dazu schleppten wir drei große Flaschen Rotwein Marke Blutsbrüder, zwei Päckchen grüne Seife, vier Gläser Senf und eine Packung Abführtee ins katholische Studentinnenwohnheim.
Nach einer Woche geben Hilla und Gretel die Hoffnung auf, die Schwangerschaft mit diesen Mitteln abbrechen zu können. Hilla schlägt eine Abtreibung in Amsterdam vor und bietet ihrer Freundin an, ihr die 300 Mark zu leihen, über die sie noch verfügt. Gretel schreckt allerdings vor einer Abtreibung zurück. Das wäre eine Todsünde, meint sie. Außerdem wisse sie nicht, wie sie das restliche Geld aufbringen solle. Die Mitbewohnerin Yvonne kennt die Adresse einer Engelmacherin in Köln und schreibt ihnen die Adresse auf. Bevor sie Kontakt mit der Frau aufnehmen, unternimmt Gretel einen Selbstmordversuch mit Schlaftabletten, wird aber von Hilla rechtzeitig gefunden. Für die 300 Mark, die sie aufbringen können, nimmt eine Frau Anfang 50 die Abtreibung vor.
Liebe Hilla,
Weil Hilla keine körperliche Nähe erträgt, seit sie von drei Männern auf einer Lichtung im Krawatter Busch vergewaltigt wurde, hüllt sie sich für den Fastelovendsball der KaJuJa, der katholischen Jugend, in ein dick gepolstertes Raupenkostüm. So verkleidet, verliebt sie sich in einen ebenso grotesk aussehenden Käfer, dessen Höcker allerdings nicht zum Kostüm gehört, sondern echt ist. Hugo Breidenbach heißt der Student.
Du musst es aussprechen. Und wenn du das nicht kannst, aufschreiben. [...]
Die Teufelsaustreibung auf der Lichtung bezeichnen sie von da an als ihre Lichtmess. Dat dolle Döppe, knurrte sie, rennt dursch Dondorf un behauptet, et hätte disch im Fernsehen jesehen, bei dä Demonzrazion op de Neumarkt. Wat ene Quatsch! Aber Tante Berta zeigt Verständnis für die Demonstranten gegen den Schah: Dä hat ja auch dat ärme Soraya verstoße.
Josef Palm feiert im August seinen 59. Geburtstag. Aufgrund seines Gesundheitszustandes bekommt er bereits eine Rente, die allerdings nur knapp über dem Fürsorgesatz liegt. Maria Palm muss deshalb weiterhin mit Putzarbeiten Geld hinzuverdienen. Immerhin konnte sich das Ehepaar inzwischen von einem Verwandten ein Stück von der Wohnküche abteilen und ein Bad einrichten lassen. Als Hilla noch zu Hause wohnte, war der Spülstein in der Küche die einzige Waschgelegenheit. Beneidete ich diese Jungen und Mädchen? Bewunderte sie sogar? Jeder bemühte sich, etwas Besonderes darzustellen; nicht zu sein, das wäre zu anstrengend, es genügte der Schein, solange er nur echt wirkte. Wem es nicht gelang, diese Besonderheit durch Gerede vorzutäuschen, musste sie nonverbal behaupten. Besonders die Mädchen [...] Bevor Hilla den Eltern ihren Freund vorstellt, führt sie ihn durch Dondorf und zeigt ihm, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbrachte. Die Mutter pflückt Johannisbeeren, als sie ankommen. Der Vater tritt aus dem Schuppen und meint erst einmal: Nänä, esch treck mesch ens öm, äh, isch mein, isch zieh mir wat anderes an. Hugo hilft Maria Palm bei der Johannisbeeren-Ernte. Dann unternehmen alle zusammen einen kleinen Ausflug und kehren in einem Gasthaus ein. Für die Palms ist das ein Novum, denn Essen im Restaurant hat es bisher nur bei Beerdigungen und Hochzeiten gegeben. Der "hausgemachte Kartoffelsalat" kam sicher aus dem Eimer, das Kotelett war groß, aber zäh, wen kümmerte das? Eigentlich wollte Hugo die Rechnung übernehmen, aber Hillas Vater lässt es sich nicht nehmen, zu bezahlen. Ich stellte mir den Vater vor, wie er zu Hause die Scheine, stolze Scheine, aus dem Versteck im Stall unterm Werkzeug herausgenommen, geglättet und eingesteckt hatte. Und wie er in klammheimlicher Vorfreude, sie am Ende wieder herausziehen und für unsere Freude hier aufkommen zu können, den Ausflug die ganze Zeit über doppelt genossen hatte. Hoffentlich war vom Erbe der Tant noch etwas übrig. Wie gut ich ihn verstand: sich nichts schenken lassen. Sich nicht lumpen lassen. Nur zögerlich ist Hugo bereit, Hilla seinen Eltern Adolph Ottokar und Irmgard Breidenbach in Marienburg vorzustellen. Er ahnt, dass es nicht angenehm wird. Hugos Vater hatte keinen Beruf, weil er keinen brauchte. Hatte keine Fabrik und keine Firma, weil er keine brauchte. Nicht seine Arbeiter, sein Geld ließ er für sich arbeiten. Verwaltete er seinen Besitz? Er tat so. Die Arbeit der Verwaltung überließ er Fachleuten. Er besaß. Das war alles.
Angesichts der schlossähnlichen Villa bleibt Hilla die Luft weg. "Da wohnt ihr ganz allein", wundert sie sich. "Fast", erwidert Hugo verlegen. Es gibt Zimmer für die Eltern, seine Schwester Brigitte und ihn, für seinen Onkel Adalbert, die Großtante Sibille und eine Tante mit ihrem Mann, außerdem Kammern für die Dienstboten.
Jetzt Rentner, sagte ich.
Hilla und Hugo besuchen gemeinsam ein Seminar bei Professor Gerhard Fricke. Sie erleben mit, wie eine seiner Vorlesungen über Andreas Gryphius gesprengt wird. Man wirft ihm vor, Nationalsozialist gewesen zu sein und sich an der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Göttingen beteiligt zu haben. Arnfried Tannhäuser liest aus einer Hetzrede vor, die Gerhard Fricke damals hielt.
Umfunktionieren war die neue Parole: "Schlagt die Germanistik tot, färbt die blaue Blume rot." Die Lebenswirklichkeit der Studierenden sollte das Fach widerspiegeln, raus aus dem Elfenbeinturm von Barock, Klassik und Romantik. Kurz vor Weihnachten 1967 kündigt Hugos Tante Lilo an, dass sie nach Köln kommen werde. Der junge Amerikaner Tim, den sie mitbringt, studierte bei ihr in Berkeley und avancierte zum Assistant Professor. Inzwischen ist er auch der Liebhaber seiner Chefin Prof. Dr. Lieselotte Breidenbach, die ein Sabbatical genommen hat. Lilo ist gut über 40 Jahre alt und ebenso unangepasst wie Hugo: Vertraten Hugos Eltern das Groß-Geld-Bürgertum auf eine nicht zu übertreffende Art und Weise mit ihren dünkelhaften Wert- und Moralvorstellungen, so legte es Lilo darauf an, diese Zug um Zug zu entkräften. Sie zwängt ihre stattlichen Brüste nicht in einen BH, raucht Joints, und in ihrer Wohnung treffen Hugo und Hilla nun fast jeden Tag auf neue Leute, die sich als Hippies verstehen.
Make love not war.
Die Anhänger der Flower-Power-Bewegung reden von Selbstverwirklichung. Einige von ihnen verwechseln das Aussprechen von Wörtern wie Möse, Schwanz und ficken mit der sexuellen Revolution. Einmal trifft Hilla im Dunkeln auf ein vier oder höchstens fünf Jahre altes Mädchen. Kiki hebt den Rock, zeigt ihr, dass sie keine Unterwäsche trägt, spreizt die Beine und krault sich an der "Mieze". Dann führt sie Hilla zu ihrer Mutter, die mit Lilo und anderen zusammen einen Joint raucht. War die Klobrille intakt? Die Wasserspülung? Konnte man sich die Hände waschen? Abtrocknen? Hugo bringt Hillas Eltern und ihren Bruder Bertram mit seinem 2CV nach Köln. Während sich Maria und Bertram von ihm den Dom zeigen lassen, führt Josef seine Tochter in die Taubengasse.
Vor der Nummer 5 machte der Vater halt: Hier hab isch jewohnt. Früher war dort eine Bäckerei, in der Josef arbeitete, nachdem er als 21-Jähriger den Bauernhof der Eltern verlassen hatte, und Therese Vetten war die Tochter des Meisters. Kurz vor der geplanten Hochzeit starb sie an einer Lungenentzündung. Sie wurde im Brautkleid beerdigt. Isch bin dann weg. Wollt auch nix mehr mit Backen ze tun haben. War dann in Solingen, in Wuppertal, in Burscheid. Un dann hab isch die Mamma kennenjelernt. Da war schon Kriesch.
Im "Prager Frühling" 1968 wollte Alexander Dubcek durch Liberalisierungen einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz schaffen, aber der Versuch wird am 21. August von Truppen des Warschauer Pakts gewaltsam niedergeschlagen. Die Ehe fordert von der Frau eine Gewährung des Beischlafs in Opferbereitschaft und verbietet es, Gleichgültigkeit und Widerwillen zur Schau zu stellen.
Wie erhofft, trifft Hilla auch Gretel auf dem Kirchentag. Sie trägt Nonnentracht, gehört zu den Franziskanerinnen in Olpe und heißt jetzt Bertholdis. Groß in der Mitte unsere Namen: Hildegard Elisabeth Maria Palm und cand. phil. Hugo Felix Servatius Breidenbach. Darüber, umrahmt von Buchsteinen und Kornblumen: Ihre Verlobung geben bekannt. Unter unseren Namen: Es freuen sich sehr: Maria und Josef Palm. Friedrich und Lieselotte Breidenbach |
Buchbesprechung:
Mit dem Bildungsroman "Spiel der Zeit" knüpft Ulla Hahn nahtlos an "Aufbruch" an. Die beiden Romane bilden zusammen mit "Das verborgene Wort" eine Trilogie über die Entwicklung einer Arbeitertochter ("Kenk vun nem Prolete") zur Germanistik-Studentin.
[...] meine Vergangenheit, die ja ihre, Hillas, Gegenwart ist. [...] meine Erfindungen, die nicht meine, aber doch Hillas Erfahrungen sind.
Wie weit "Das verborgene Wort" autobiografisch ist, wissen wir nicht, aber die Parallelen zwischen Hilla Palm und Ulla Hahn sind nicht zu übersehen. Der fiktive Ort Dondorf entspricht Ulla Hahns Geburtsort Monheim zwischen Köln und Düsseldorf. Hilde Palm war übrigens der bürgerliche Name der ab 1936 mit Erwin Walter Palm verheirateten Lyrikerin Hilde Domin (1909 – 2006). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Ulla Hahn: Das verborgene Wort |