Erik Fosnes Hansen: Das Löwenmädchen (Roman) |
Erik Fosnes Hansen: Das Löwenmädchen |
Inhaltsangabe:
Am 13. Dezember 1912 rutscht die siebenundzwanzigjährige hochschwangere Klavierlehrerin Ruth Arctander in einer norwegischen Kleinstadt bei Fredheim auf dem Glatteis aus und bleibt benommen liegen. Elsa, die Frau des Apothekers Knut Birgerson, hilft ihr auf, bringt sie nach Hause und ruft den Arzt Abraham Levin. Der kann jedoch nicht verhindern, dass Ruth Arctander bei der vorzeitigen Geburt ihrer Tochter stirbt. Stationsmeister Arctander war ein Freund von Präzision und Verlässlichkeit und bestand darauf, dass seine Telegrafisten jeden einzelnen Tag um Schlag zwölf Uhr die korrekte Eisenbahnzeit aus der Hauptstadt anforderten – die Reichszeit, wie sie hieß –, obgleich die Vorschriften dies nur einmal wöchentlich verlangten. (Seite 85)
Unmittelbar vor dem pompösen Begräbnis Ruth Arctanders findet im kleinsten Kreis die Taufe ihrer Tochter statt. Als der Pfarrer nach dem Namen fragt, weiß Gustav Arctander keine Antwort: Darüber hat er noch gar nicht nachgedacht. Abraham Levin schlägt spontan vor, das Kind auf den Namen Eva zu taufen, und so geschieht es. "Na, du hast aber wirklich mal eine hübsche Julbockmaske, kleine Freundin." (Seite 151)
Im Publikum ruft jemand: "Braves Hündchen!" Eva fasst in den Sack, spürt einen eiförmigen Gegenstand, der allerdings viel schwerer als ein Hühnerei ist und wirft ihn dem Magier an den Kopf. El Smeraldo geht zu Boden. Glücklicherweise stellt Dr. Levin fest, dass er sich nur eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen hat. Obwohl Gustav Arctander sonst sehr streng ist und Eva auch mit einem Riemen schlägt, wenn sie ihm nicht gehorcht, bestraft er sie für den Angriff gegen den Zauberer nicht, denn dieser hatte die Situation selbst herbeigeführt. So funktioniert Unterricht. Unterricht funktioniert zum Beispiel so, dass man in der zweiten Stunde Zeichnen bei Fräulein Hadeland hat. Man holt seine Buntstifte heraus und freut sich ein klein wenig darauf, etwas zu tun, was man gut kann. Man könnte ja zum Beispiel Fräulein Hadeland zeichnen, oder etwas anderes Typisches im Klassenzimmer, den Globus vielleicht. Doch nein. Fräulein Hadeland will, dass man eine Katze zeichnet, obwohl hier keine Katzen sind (klar lachen die anderen ein bisschen), schon gar keine Katze, die sich auf dem Stationsgelände räkelt oder auf dem Gartenzaun liegt, einen weichen, geschmeidigen, welligen Strich von Tier, der ganz rasch, von einer Sekunde zur anderen, zu einem Ball werden kann oder zu einem gestreckten fliegenden Blitz aus Pelz und Krallen und Zähnen, nein, Fräulein Hadeland hat ein Rezept, wie man Katzen zu zeichnen hat, eine vorschriftsmäßige Katze sozusagen, also korrigiert sie freundlich, aber bestimmt die langen, luftigen Striche, zu denen man ansetzt, um sich daran zu erinnern, wie eine Katze aussieht, und zeigt einem stattdessen die Vorschriftskatze. (Seite 203)
Zweimal in der Woche nimmt Eva beim Kantor Ludwig Swammerdamm Musikunterricht. Sie liest viel, und Abraham Levin bringt ihr immer wieder neue Bücher vorbei. Es war ein äußerst feines und kostspieliges Restaurant. So fein, dass eine Dame, als sie Eva bei deren Hereinkommen erblickte, fast ihn Ohnmacht gefallen wäre. (Seite 256)
Man weist ihnen den Katzentisch neben dem Durchgang zur Toilette zu. Aus Trotz bestellt Arctander eine teure Flasche Wein. Weil er das Hauptgericht zurückgehen lässt und lange auf Ersatz warten muss, bestellt er noch zwei Gläser Wein, nachdem er die Flasche ausgetrunken hat. Am Ende beschwert er sich lautstark über die Qualität des Essens, und es kommt zum Eklat. Er hatte fast keine Haare auf dem Kopf, abgesehen von ein paar spärlichen Büscheln an Ohren und Schläfen. Kleine blaue, erschrocken blinzelnde Augen. Aber er hatte keine Haut. Statt Haut hatte er Schuppen, Schuppen wie eine Echse oder ein noch nie gesehenes Seetier, steife, harte, blanke Schuppen übers ganze Gesicht und überall sonst, soweit ich sehen konnte, Schuppen von einer gelbgrünen, kränklichen, widerwärtigen Farbe, und zwischen den Schuppen waren irgendwie Schründe, in denen Feuchtigkeit schimmerte, Blut oder Eiter. Seine Lippen waren ganz menschlich, doch fast lila, die Wimpern sehr lang, wie bei einem Mädchen. Doch es saß Schorf auf ihnen und auch auf den Lidern, das sah ich, wenn er zwinkerte. (Seite 271)
Er stammt aus dem böhmischen Dorf Dolni Vranov, heißt Andrej Bòr – oder auf deutsch Andreas Bauer – und ist sechsundzwanzig Jahre alt. Wie Eva wird er auf dem Kongress vorgeführt. Andreas ist Teil eines Kuriositätenkabinetts, mit dem der Besitzer Johannes Joachim von Jahrmarkt zu Jahrmarkt reist.
"Schneckenbad?"
Der Katechet, der die Konfirmanden unterrichtet, plant eine Aufführung für deren Eltern und Geschwister in Fredheim, die er "Programm" nennt, weil ihm der Begriff Kabarett zu anstößig klingt. Dass die von allen umschwärmte langbeinige Konfirmandin Inger dabei mitmacht, steht von vornherein fest. Als der Katechet nach weiteren Freiwilligen fragt, meldet sich Arvid zu Evas Verwunderung. Arvid und Inger sollen ein verheiratetes Paar spielen, und bei den Proben sieht Eva, wie sich die beiden küssen. Ihre Eifersucht schlägt in Rachedurst um. Als die Konfirmanden ein Lied anstimmen, übertönt sie Inger und macht so den Katecheten auf ihre kräftige Stimme aufmerksam. Er ist begeistert und schlägt ihr vor, bei der Aufführung ein Solo zu singen. Eva bittet ihn, sie am Klavier zu begleiten und übt mit ihm zusammen. Damit verschafft sie sich die Möglichkeit, ihn zu verführen. Als Arvid sie – wie erhofft – in flagranti ertappt, beendet Eva ihre Teilnahme an den Vorbereitungen für das "Programm". Aufgrund des Getuschels wird der Katechet im Jahr darauf nicht mehr für den Konfirmanden-Unterricht eingeteilt. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Das Löwenmädchen" zeigt der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen (* 1965), wie eine Außenseiterin immer wieder ausgegrenzt und angefeindet wird. Ärzte präsentieren Eva nackt im Auditorium und geilen sich an ihrem Anblick auf, ohne sie als gedemütigtes Individuum wahrzunehmen. Für sie ist Eva nur ein interessanter "Fall". Das ist ebenso würdelos wie die Show eines Kuriositätenkabinetts oder die Ausstellung von Tieren im Zoo. Erik Fosnes Hansen beschäftigt sich damit, wie das Löwenmädchen von anderen wahrgenommen wird und schildert einfühlsam, was Eva aus ihrer Perspektive erlebt. Sehr überzeugend stellt er auch ihren überforderten Vater dar. Der Roman "Das Löwenmädchen" ist ein eindrucksvolles Plädoyer für Toleranz.
Die kluge Sprachvirtuosität von Fosnes Hansen teilt das Buch auch in erste und dritte Person. Als Eva im Wortsinne ihr Geschlecht entdeckt, dankt der bis dahin allwissende Erzähler ab und das erzählende Ich der jungen Frau übernimmt die Erzählung [...]
Menschen, die am ganzen Körper wie Tiere behaart waren – sogenannte "Haarmenschen" oder "Affenmenschen" – wurden früher als Kuriositäten an Fürstenhöfen gezeigt. Der Spanier Petrus Gonsalvus und seine um 1580 in Frankreich geborene Tochter Tognina Gonsalvus lebten zum Beispiel einige Zeit am Hof des französischen Königs Heinrich II. in Fontainebleau. Der italienische Arzt Ulisse Aldrovandi (1522 – 1605) beschrieb sie 1642 in seiner "Monstrorum Historia". Nach ihnen heißt das Phänomen Gonsalvus Syndrom. Berühmt sind auch Julia Pastrana (1834 – 1860) und Lionel der Löwenmensch (1890 – 1932), die in Kuriositätenkabinetten auf Jahrmärkten herumgezeigt wurden. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Erik Fosnes Hansen: Choral am Ende der Reise |