Elke Heidenreich: Der Welt den Rücken (Erzählungen) |
Elke Heidenreich: Der Welt den Rücken |
Die schönsten Jahre
Die in Norddeutschland lebende Journalistin Nina Rosenbaum leidet darunter, dass ihre Mutter Eva nicht liebevoller zu ihr ist. Nur aus Pflichtgefühl besucht Nina die in einer süddeutschen Kleinstadt wohnende Witwe alle paar Monate und nimmt sich dabei ein Hotelzimmer, statt bei ihrer Mutter zu übernachten. Widerwillig trinkt Nina von dem angebotenen Rotwein mit Schraubverschluss. Die fünf praktischen Korkenzieher, die sie Eva im Lauf der Zeit schenkte, liegen unbenutzt herum. Um die ambivalente Beziehung nicht weiter zu gefährden, verheimlicht die Fünfundvierzigjährige der Achtzigjährigen, dass sie ihres Lebensgefährten Ludwig überdrüssig ist und sich in die Fotografin Flora verliebt hat, die fünf Jahre jünger ist als sie. Nina ahnt nicht, dass die alte Dame mehr versteht, als sie zu erkennen gibt.
Auf zwei der Fotos rauchte meine Mutter, ich hatte sie nie rauchen gesehen. Und neben ihr, den Arm um sie gelegt, ebenfalls rauchend, Tante Karla in einem Männeranzug mit Oberhemd, gelockertem Kragen und Schlips. So standen sie nebeneinander, umarmten sich, sahen unbeschreiblich glücklich aus und lachten in die Kamera, mitten im Krieg, und die Fotos hatte sicher Tante Paula gemacht. Im Hintergrund stand ein Kinderwagen, vielleicht lag ich darin und schlief [...]
Offenbar hatte auch Eva ihrer Tochter eine lesbische Romanze verheimlicht, und Nina begreift, dass sie ihre Mutter gar nicht wirklich kannte. Aber es ist zu spät. Silberhochzeit
Ben und Alma feiern Silberhochzeit und haben dazu die engsten Freunde eingeladen. Alma hat gekocht und wird gelobt. Während Anekdoten über frühere Erlebnisse erzählt, Geheimnisse ausgeplaudert und gegenseitige Aversionen spürbar werden, reift in Alma der Entschluss, sich von Ben zu trennen. Der Tag als Boris Becker gingWährend Boris Becker am 30. Juni 1999 zum letzten Mal in Wimbledon spielt, das Tennismatch verliert und sagt: "Es war Zeit zu gehen", sitzen ein paar Altachtundsechziger in ihrer Stammkneipe unter dem Wandspruch "Schafft alles ab!" und schwadronieren in gedrückter Stimmung über den Sport, das Leben und ihre früheren politischen Überzeugungen. Ist wirklich schon alles vorbei? Wir fühlten uns, wie Eltern sich fühlen, wenn die Kinder endgültig das Haus verlassen und unsichtbar an die Tür schreiben: "Jetzt seid ihr alt." (Seite 76) Ein Sender hat GeburtstagZur Feier des 50. Geburtstags eines Fernsehsenders versammeln sich Fernsehstars mit ihren Marotten und teilweise längst überholten Ansichten, so der Dichter Albrecht Donner, die ehemalige Journalistin Klara Zander und der frühere Literaturredakteur Dr. Ernst Gauselmann in Begleitung seiner neuen Lebensgefährtin Jessica. Die Kultur, das waren Dr. Gauselmann, Albrecht Donner und Klara Zander, die zusammen auf zwölf veröffentlichte Bücher und fünf Scheidunen kamen. (Seite 97) "Nicht Elend und Aussatz, die Banalität wird uns umbringen", knurrt Dr. Gauselmann. "Wir werden überhäuft mit den Plagen der Banalität." (Seite 101) Zu Klara sagt er später: "Ich weiß, dass Jessica zu jung für mich ist, aber Frauen wie du machen mir angst. Jedenfalls hält sie mich für irgendwas und merkt nicht, dass ich in Wahrheit mit allem gescheitert bin." (Seite 123) Karl, Bob Dylan und ichKarl und Irene sind seit vielen Jahren befreundet. Bei einem Kneipenbesuch beklagen sie sich über ihre Partner, von denen sie verlassen wurden. Dann geht Irene allein nach Hause, denkt über ihren geschiedenen Mann und ihren letzten Liebhaber nach und kommt zu dem Schluss, dass keiner der beiden zu ihr passte und sie mit ihnen nichts mehr zu tun haben möchte. Überraschend kommt Karl vorbei, um mit ihr gemeinsam eine Fernsehsendung über Bob Dylan anzuschauen – und aus den langjährigen Freunden wird endlich ein Liebespaar. Wurst und LiebeWehmütig erinnert sich die belesene Ich-Erzählerin Doris an ihren Jugendschwarm, einen Geiger, während sie dem angehenden Filmregisseur Harry bei seinem ersten Drehbuch hilft. Dafür schenkt er ihr und ihrem Lebengefährten Otto eine Wurst- und Schinkenschneidemaschine, die er von seinem Großvater geerbt hatte. [...] immer, wenn wir damit Schinken, Mortadella oder Salami schnitten, gab es einen leisen Schmerz in meiner Brust, als wäre es mein eigenes Herz, das da von dieser Wurstmaschine in hauchdünne Scheiben geschnitten würde. (Seite 160) Als sie sich kurz darauf von Otto trennt, lässt sie ihm die Wurstschneidemaschine. Der Welt den RückenDie neunzehnjährige Studentin Franziska Steinmetz in München möchte endlich defloriert werden. Dafür sucht sich im Oktober 1963 bewusst nicht einen unerfahrenen Jungen aus, sondern den fünfunddreißig Jahre alten Schlosser und Bundeswehrsoldaten Heinrich, mit dem sie ein Zimmer in einem Gasthof in Landsberg nimmt und gleich darauf noch "zehn Tage der Liebe" am Ammersee verbringt. Am Ende dieser zehn Tage sah sie ihn an und dachte: Nun ist es genug. Es gab nichts mehr, was sie nun noch hätten ausprobieren, schon gar nichts, worüber sie noch hätten reden können [...] Sie fuhren am nächsten Tag nach München zurück. (Seite 178f)
Erst von ihren Kollegen Hugo und Walter bei der Post, wo sie als Briefträgerin die Kosten fürs Studium verdient, erfährt sie von der Kubakrise und erschrickt, als sie begreift, wie dicht die Welt vor einem Atomkrieg stand. |
Buchbesprechung:
Unter dem Titel "Der Welt den Rücken" hat Elke Heidenreich kurze Erzählungen veröffentlicht: Geschichten über Liebe und Verlust, die Midlife Crisis und das Altern.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006
Elke Heidenreich und ihre Sendung "Lesen!" |