Christoph Hein: Von allem Anfang an (Roman) |
Christoph Hein: Von allem Anfang an |
Inhaltsangabe: Die Erklärung befriedigte mich nicht. Eines Morgens nämlich – ich lag noch im Bett, um mir eine Ausrede auszudenken, weil ich am Tag zuvor die Katze aus dem ersten Stock des Treppenhauses auf die Steinfliesen des Hausflurs hatte fallen lassen, erwischt und in mein Zimmer geschickt worden war, ich hatte feststellen wollen, ob Katzen wirklich jeden Sturz überlebten, ob sie, wie mein Großvater sagte, tatsächlich sieben Leben hätten, doch das konnte ich nicht gestehen, wenn ich einer weiteren Strafe entgehen wollte –, an jenem Morgen sah ich eine dicke Spinne aus dem schwarzen summenden Kasten kriechen. Ich sah, wie sie sich aus dem schmalen Spalt an der Vorderfront zwängte, zur Decke hinauflief, dort minutenlang bewegungslos verharrte, um danach auf dem gleichen Weg zum Kasten zurückzulaufen und in ihm zu verschwinden. Seit diesem Tag wusste ich, dass es kein Elektrokasten war, denn wenn ich ihn wegen der Elektrizität nicht anfassen durfte, wie sollte da eine fette Spinne eine Berührung mit ihm überleben. Der Kunststoffkasten war ein großes Spinnennest, ich war davon überzeugt, dass unendlich viele dieser widerlichen Tiere mit behaarten Beinen in dem Kasten herumkrabbelten, so wie im Stülpkorb der Imkerei Tausende von Bienen über die Waben kletterten und unablässig übereinander krochen. Das Summen wurde nicht von der Elektrizität verursacht, es kam von den Spinnen. Jochen, ein etwas älterer Freund, ist wenig begeistert, als er mit dem Fahrrad zum Russensee fährt und Daniel ihn begleiten will. Der wiederum versteht die Abweisung durch Jochen nicht.
"Und warum soll ich nicht mitkommen?"
Daniel lässt nicht locker und – um Jochens Interesse zu wecken – erzählt er, dass sein Großvater ins Landratsamt musste und als Verwalter entlassen wurde, weil er nicht in die Partei eintreten will. Schließlich gibt Jochen seinen Widerstand auf und nimmt den Jüngeren mit. Seine Freundin Pille – eigentlich heißt sie Hilde Buschke – ärgert sich über den unerwarteten Begleiter, aber dann fahren sie alle drei zum Russensee. Daniel folgt dem Beispiel Jochens, zieht sich nackt aus und legt sich auf den Bauch. Pille ziert sich zunächst, aber dann entledigt auch sie sich ihrer Kleidung – und Daniel sieht zum ersten Mal eine nackte Frau. Jochen schickt ihn nach einiger Zeit zurück in den Wald; wo er auf die Fahrräder aufpassen soll. Bei der Erinnerung an den nackten Körper des Mädchens erlebt er seine erste Ejakulation. Etwas davon spritzt auf Pilles Sattel, und weil er sich über die beiden ärgert, wischt er es nicht ab. Als sie mich sah, nickte ich und murmelte Guten Tag, aber Frau Blüthgen antwortete mir nicht. Ihre Augen wurden ganz groß, sie stieß einen Schrei aus, einen kurzen, schrillen Schrei, der plötzlich abbrach. Dann floh sie in das Zimmer zurück, sie stürzte dabei fast hin.
Nach einem mit Tante Magdalena einstudierten Balladenvortrag während des Unterrichts wird Daniel von Fräulein Kaczmarek, der Lehrerin, überredet, sich dem Dramatischen Zirkel der Schule anzuschließen. Die ihm angetragene Hauptrolle übernimmt er jedoch nicht, weil der Held zum Schluss eines der Mädchen küssen muss und er befürchtet, von seinen Klassenkameraden als "Kussmaul" verlacht zu werden.
"Warum will sie denn mit mir befreundet sein?"
Er hat nichts dagegen, dass sie zu ihm kommt. Die Botschafterinnen winken ihr. Daniel und Mareike gehen spazieren. Im Wald bleibt sie mehrmals stehen. Dann fordert sie ihn zu einem Kuss auf, aber danach meint sie, er müsse noch viel lernen. Beim Schulbesuch einer Kunstausstellung zeigt Mareike auf Gemälde nackter Frauen und fragt ihn, was er davon halte. Sie malt sich aus, wie es sei, einem Maler nackt Modell zu stehen. Einige Tage später findet eine "Solidaritätssammlung für irgendein Land oder für einen Befreiungskrieg" im Schullandheim statt. Mareike kommt mit der Sammelbüchse zu Daniel ins Zimmer und setzt sich – obwohl es gemäß Hausordnung verboten ist – auf sein Bett, erzählt ihm, sie wolle zum Ballet und tanze zu Hause auf dem Dachboden gern nackt. Bei der Vorführung einiger Tanzschritte stolpert sie. Hier sei es zu eng, meint sie, und außerdem sei sie nicht richtig angezogen. Aber er bittet sie, es noch einmal zu versuchen: "Nur noch ein bisschen, Mareike. Und wenn dich das Kleid dabei stört, das Kleid kannst du ja ausziehen. Ich meine nur, wenn es dich beim Tanzen stört." Sie geht darauf ein. "Aber vollkommen ausziehen, das mache ich nicht. Nur so, dass ich mich richtig bewegen kann." Außerdem müsse er sich dann auch ausziehen. "Und Anfassen gibt es nicht, ist das klar?" Verlegen sitzen die beiden im Slip auf dem Bett, Mareike mit verschränkten Armen. Dann steht sie auf, lässt die Arme sinken und beginnt zu tanzen. Er bittet sie, auch das Höschen auszuziehen: "Das sieht irgendwie blöd aus. Das stört." Aber da klopft es an der Tür.
"In welchem Berlin?", fragte der Beamte.
Er freut sich, dass er nicht lügen musste. Aber bei einer weiteren Kontrolle in der S-Bahn bleibt ihm nichts anders übrig, als eine Ostberliner Adresse zu nennen. Nur wenn er sich weiterhin mit dem Schuldirektor, dem Bürgermeister und den Funktionären der Partei herumstreiten würde, wenn er den Behörden der Stadt und des Kreises gegenüber weiterhin so standhaft bliebe, dass die Lehrer gelegentlich auch mir gegenüber eine bissige Bemerkung machten, wäre gesichert, dass mein Antrag auf Besuch der Oberschule abgelehnt werden würde.
Endlich ist es so weit: Daniel geht zu seiner Tante Magdalena, um sich von ihr zu verabschieden, bevor er seinem Bruder nach Westberlin folgt. Auf dem Weg begegnet er Lucie, die ihn bedauert, weil er trotz seiner guten Noten nicht zum Besuch der Oberschule zugelassen wird. Ob er nun vorhabe, wie sein Bruder in den Westen zu gehen? Inzwischen hat Daniel seine Lektion gelernt und antwortet nur mit einer Gegenfrage: "Wie kommst du denn darauf?" |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002/2007
Christoph Hein: Willenbrock |