Thomas Hürlimann: Fräulein Stark (Novelle) |
Thomas Hürlimann: Fräulein Stark |
Inhaltsangabe:
Die Bibliothek des Klosters St. Gallen ist der ehrwürdige Schauplatz der Novelle, die in den sechziger Jahren angesiedelt ist. Der Stiftsbibliothekar und Prälat, Jacobus Katz, ist sich seiner prominenten Stellung durchaus bewusst. Mit der stehenden Redewendung: "Im Anfang war das Wort, dann kam die Bibliothek und erst an dritter und letzter Stelle stehen wir, wir Menschen und die Dinge. Nomina ante res – Die Wörter zuerst", begrüßt er die Besucher, die zur Besichtigung des prächtigen Saales kommen. Und er weist darauf hin: "An Bord unserer Bücherarche haben wir einfach alles, von Aristoteles bis Zyste." Es geschah zum dritten oder vierten Mal, und alle ahnten wir, dass es auch diesmal schiefgehen würde, nur Totes würde Mama gebären, einen blutig verschleimten Klumpen, den man an der Hintertür der Klinik an die Schweinemäster abgab. (Seite 13)
Zum besseren Verständnis ist hier die Geschichte der Familie Katz, über die immer so abwertend gesprochen wird: Der Neffe ist nun also bei seinem Onkel, dem Prälat, der eine wichtige Aufgabe in der Stiftsbibliothek für ihn hat. Der Fußboden ist so empfindlich, dass er nur mit Filzpantoffeln betreten werden darf. Der Junge soll den Besuchern – es sind vorwiegend Besucherinnen – in die Schlappen helfen. Der Onkel schmeichelt ihm:" Du arbeitest nicht [...], du bekleidest ein Amt." Er sei nun der "Pantoffelministrant am Portal zur Bücherkirche". Dementsprechend stolz ist der Neffe. Sicher, ich trug eine hohe Verantwortung, denn der Geigenholzboden mit seinen Intarsien galt als derart wertvoll, dass schon die winzigste Schädigung, beispielsweise ein Hüflein, vom Spitzenabsatz eines Stöckelschuhs in das hautweiche Kirschholz gedrückt, beim Onkel und seinen Hilfsbibliothekaren ein entsetztes Aufjaulen ausgelöst hätte [...] (Seite 16)
Der den weltlichen Genüssen nicht abgeneigte, teuer gekleidete Stiftsbibliothekar beschäftigt eine Haushälterin, Fräulein Stark. Magdalena Stark wuchs im Appenzellischen in einer kinderreichen Familie eines knorrigen Bergbauern auf. Als die Mutter "im achten oder neunten Kindbett" früh starb, zog der Vater ganzjährig ins Tal. "In einer buchstabenfeindlichen, bilderlosen Stube" groß geworden, kann sie kaum lesen und nur ihren Namen schreiben. Fräulein Stark ist groß und kleidet sich leger: "ihr Alpendécor, Kordhose und kariertes Hemd".
Die Pantoffeln [...] sind nichts für den Buben. Und sie schlägt vor, den Neffen zu den Hilfsbibliothekaren zu versetzen. Aber der Onkel verteidigt den Jungen:
Fräulein Stark, hic est nepos praefecti, das ist der Neffe des Chefs –
Und noch etwas ist Fräulein Stark aufgefallen: Sein besonders feiner Geruchssinn; als einziger roch er die Spezialmischung Kaffee, die sie einmals ausnahmsweise kochte ("du mit deiner Nase!").
Da jeder Verein, wie mir inzwischen aufgefallen war, eine ähnliche Figur an seine Spitze setzt, nämlich eine Resolute mit hochtoupiertem Haar, kam es mir vor, als würde dieselbe Person immer wieder gegen mich und mein Pantoffellager anrennen. Natürlich war es nicht dieselbe, sondern mit jeder Gruppe eine andere, da aber jede dieser Resoluten in der gleichen Funktion, in der gleichen Haltung, mit den gleichen Gesten und Schritten und Gummischuhen durch den langen Flur dahergeknirscht kam, streng der Blick, steif der Rücken, die Frisur ein Turm, die Bluse weiß, Krausen an den Ärmeln, Krausen am Hals, Krausen am Busen, glockig und grün der Faltenrock, die Waden kräftig, die Nylons dunkelbraun, war ich überzeugt, mehrmals am Tag ein- und dieselbe Gruppenführerin mit einen Paar Schutzpantoffeln ausrüsten zu müssen. Die nächste bitte! (Seite 31) Nicht nur seine Nase schwelgt in Hochgenüssen, Auch seine Augen wagen sich in unbekannte Regionen, "sie kletterten hinauf, in den zwielichtigen taubenzartgrauen Abgrund ihrer Stoffglocken". Das "Dunkel unter den Röcken" verlockte ihn; "fremd war es und voller Reize". Sicher, bei den ganz Dicken und den ganz Dünnen gab es hin und wieder ein kleines Problem, ei guck, dieses Ferkel, hatte eine gerufen, eine andere, die Knie zusammenpressend, war x-beinig zurückgewichen, aber das waren Ausnahmen.[...] (Seite 41) War er verpetzt worden? Fräulein Stark setzt Monsignore von einer Beschwerde über den Buben in Kenntnis. Der nimmt ihn in sein Studierzimmer mit. Eine Standpauke erfolgt wider Erwarten nicht, aber das Wohlwollen von Fräulein Stark muss er zurückgewinnen. Wenn er zur Beichte ginge, das könnte sie vielleicht versöhnen. Aber was sollte er bekennen? [...] etwa eine "unkeusche Handlung"? War Riechen eine Handlung? Wer atmet, riecht, eine Sünde war das nicht [...] "Unkeusche Gedanken"? Schon eher, ja, aber war es unkeusch, von der taubenzartgrauen Dämmerung unter ihren Stoffglocken angelockt zu werden, war es unkeusch, im leisen Knistern der Strümpfe ein liebliches Flüstern zu vernehmen? (Seite 51) Beim Beichtvater sieht er sich dann doch an der falschen Adresse. Wenn er sich beeilte, wäre er noch rechtzeitig da, wenn die "Abendschöne" kommt. Sie ist an jedem Abend die letzte Besucherin. Warum sie immer wieder kam, wusste niemand [...] Sie war unsere Dämmerung, glitt auf den Filzpantoffeln wie eine Eisprinzessin über den leis knarrenden Bodenhimmel, drehte Kreise, zeigte Figuren, flatterte und schwebte [...] bis dann, ihre Hände in die Hüften gestemmt, die Stark unseren Tag beendete: Die Bibliothek ist geschlossen! (Seite 63)
Bevor der Neffe in die Klosterschule muss, will ihm der Onkel noch eine Freude machen: Er nimmt ihn in sein Stammlokal mit, eine ziemlich heruntergekommene Wirtschaft. Die Schweinsbratwurst, deren "Gummihaut zu zersägen" nicht gelingt, stößt dem Jungen noch lange säuerlich auf, wobei wohl das für ihn ungewohnte, dazu getrunkene Bier seinen Teil beiträgt. Die derben Sprüche der Herrenrunde am Stammtisch gefallen ihm auch nicht. Spät löst sich die bezechte Gesellschaft auf, und er folgt dem singend vorausmarschierenden Onkel nach Hause. Dort werden sie von Fräulein Stark bereits mürrisch erwartet. Nach bewährter Methode schleppt sie Monsignore in seine Gemächer und legt ihn aufs Bett. Auch um den betrunkenen Jungen kümmert sie sich, der geweint hatte, weil er sich so ausgeschlossen vorkam, dabei will er doch so sein, wie die "Altherren", eine "Normalseele, die nur dann eine Schweinsbratwurst bestellt, wenn sie Schweinsbratwürste wirklich mag." (Seite 84)
Du spekulierst neuerdings?
Ihr altes fröhliches Verhältnis ist wieder hergestellt; nur "das Fräulein [ist] sauer". Katastrophe? Gellendes Geschrei? Aufschnellen vom Stuhl? Nein, zu meinem grenzenlosen Erstaunen schleckte das Fräulein mit einer großen, grauroten Zunge den Glasrand ab und lud mich dann madonnensüß lächelnd ein, mit ihr [...] anzustoßen. Ja, da war er wieder, der schöne Zwiespalt im Fräulein Stark! Ausgerechnet sie, die all ihr Sinnen und Trachten dem Sechsten geweiht hatte, die mir jedes Blicken verbot und sogar das Riechen verübelte, beantwortete die Berührung ihrer sündenreinen Haut mit einer Belohnung, sie griff zum Glas, hieß mich anstoßen, ich trank und trank ein weiteres Glas, und als mein Kopf, von einem dritten Likörchen angeschlagen, gegen ihre pflaumenweiche Achsel taumelte, tätschelte sie meine Wange und flüsterte: Kannst schon bleiben, wenn du magst. (S. 131) So wie sie sonst den Monsignore in einem derartigen Zustand zu Bett bringt, so verfährt sie jetzt mit dem Jungen.
Wenn dein Bett schwankt, betest ein Gegrüßetseistdumaria. Willst einen Gutenachtkuss? Die Brille tut gute Dienste bei seinen voyeuristischen Eskapaden. [...] wirkliche Schlüpferschnallen und wirkliche Nylonstrümpfe, Fersen, Stöckelschuhe, Unterröcke, Höschen Öschen Döschen, [...] alles wirklich, alles zu sehen, klar zu sehen, zum Greifen nah, zum Sterben schön, unter dem Trachtenrock unserer Hochzeitsreisenden zeigt sich mir in grandioser Deutlichkeit der gesteppte Saum eines fleischfarbenen Schlüpfers, kurz danach in ungewohnter Schärfe der Rüschenrand eines Höschens, und dann [...] erscheint mir unter dem Jupe einer hoch gestiefelten, schön prallen Nachmittagsschönen ganz oben am schneeweißen Oberschenkel ein seltsames, mich heftig erregendes Ding, das mir das Herz bis zum Halszapfen springen lässt... (Seite 138) Am nächsten Tag ist sein Laken abgezogen. Die Stark zerrt ihn vor die Tür des Tabulariums – der Onkel hätte ihm wohl etwas zu sagen. Die Sache sei delikat, sagt der Onkel, aber er werde "ohne jede Schweifung" auf das Wesentliche kommen. Das Wesentliche bleibt dann doch eher abstrakt und abschweifend, bis er dann konstatiert, für ihn, den Neffen und seine Altersgenossen, habe es bei den alten Griechen für "die Kraft, sich fortzuzeugen und weiterzuwirken [...] höchst bedeutsame Namen gegeben, nämlich logoi spermatikoi, lateinisch rationes seminales, oder auf gut deutsch [...]: Vernunftspermien. (Seite 142) Was raus muss, muss raus, und es versteht sich wohl von selbst, mein Lieber, dass so ein Prozess, zumals er sich des Nachts wiederholen dürfte, unsere Stark ein wenig überfordert. (Seite 142)
Nach dem Geschlechtlichen hatte der Onkel eigentlich noch vor, ihn über das Geschlecht der Katzen (also der Familie Katz) aufzuklären, aber er liest dann lieber in seinem Buch weiter, wobei er im Übrigen immer Seidenhandschuhe zum Umblättern der Seiten trägt. Denkbar, gewiss, [...] und wenn ich es mir recht überlegte - eigentlich hatte ich schon immer geahnt, dass Onkel Katz ein doppeltes Spiel spielte. [...] wer sein Priestergewand als Sonderanfertigung aus einer Römer Exclusiv-Boutique bezieht und mit Schnallenschuhen, die er unter dem rotgefütterten Rocksaum hervortanzen lässt, den vornehmen Prälaten markiert, der versucht doch, mit all diesem halbseidenen Aufwand etwas zu verbergen, oder nicht? (Seite 156)
Der Junge versucht, das Fräulein zu trösten: "Sie sind nicht allein auf dieser Welt, ich werde Ihnen helfen. [...] Ich nehme Sie mit. Wir gehen zusammen." (S. 157ff) Nares ist eine unter uns Gelehrten gebräuchliche Abkürzung. Das N steht for Nomina, das a für ante, res für res. Na-res. Ein Philosophenscherz! [...] meine Geliebte heißt tatsächlich Nares, und ich hätte geschworen, du würdest die Pointe erfassen. (Seite 165)
Sein Verhältnis mit dem Fräulein Stark ist immer noch gespannt. Aber sie bietet ihm immerhin an, beim Packen seines Koffers behilflich zu sein. Ich zog die linke Braue in die Stirn, er ahmte mich nach, da grinsten wir beide. Ja, ganz konnten wir unser Geschlecht nicht wegschummeln. Die Katzenbraue stand in die Stirn hinaus wie ein Seidenstrumpf, den ein Strapsbändelchen am Oberschenkel in die Höhe zurrt. (S. 191)
Und das Adieu von Fräulein Stark? Sie zeichnet ihm ein Kreuz auf die Stirn. Es ist nicht deutlich zu sehen, ob sie Tränen in den Augen hat. |
Buchbesprechung:
Die Novelle "Fräulein Stark" ist eine Geschichte über das Suchen und Finden. Ein Zwölfjähriger erfährt mehr über die jüdische Herkunft seiner Familie (das Geschlecht der Katz),
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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Thomas Hürlimann: Das Innere des Himmels |