Aldous Huxley: Schöne neue Welt. Ein Roman der Zukunft |
Aldous Huxley: Schöne neue Welt |
Inhaltsangabe:
Im Jahr 632 n. F. (nach Ford, nach der Produktion des ersten T-Modells in Detroit im Jahr 1908 nach der alten Zeitrechnung) führt der Brut- und Normdirektor (BUND) des Weltstaates Studenten durch die Brut- und Normzentrale in Berlin-Dahlem (im Original: Central London Hatchery and Conditioning Centre). Keuschheit heißt Leidenschaft. Keuschheit heißt Neurasthenie. Und Leidenschaft und Neurasthenie bedeuten Unbeständigkeit. Unbeständigkeit aber bedeutet das Ende der Zivilisation. (Seite 199)
Zwar werden nur siebzig Prozent der weiblichen Embryonen durch die Zugabe männlicher Sexualhormone unfruchtbar gemacht, damit stets genügend Ovarien zur Verfügung stehen, aber die Frauen, die Kinder bekommen könnten, nehmen Verhütungsmittel, und in Sanssouci gibt es eine Abtreibungsanstalt. Eine Schwangerschaft wird als skandalös empfunden, und jemanden nach seiner Mutter zu fragen, gilt als massive Beleidigung. "Heutzutage – sehn Sie, das ist wahrer Fortschritt! – arbeiten die alten Männer, erfreuen sich ihrer Geschlechtskraft, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall eine Lücke in der ununterbrochenen Kette ihres Zeitvertrebs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma! Ein halbes Gramm genügt für einen halbfreien Tag, ein Gramm fürs Wochenende, zwei Gramm für einen Ausflug in die Pracht des Orients, drei Gramm für eine dunkle Ewigkeit auf dem Mond. Und wenn sie zurückkehren, sind sie bereits über den Abgrund hinweg, stehn auf dem sichern Boden täglicher Arbeit und Unterhaltung, eilen von einem Fühlkino ins andre, von einem pneumatischen [großbusigen] Mädchen zum nächsten, von elektromagnetischem Golf zu ..." (Seite 60) Impfungen im Embryonendepot verhindern Krankheiten. Und es besteht TLE-Behandlungszwang. TLE steht für Tolle-Leidenschaft-Ersatz. Dabei wird der ganze Organismus einmal im Monat mit Adrenalin durchflutet. Das hat die gleiche hygienische Wirkung wie Wut oder Angst. Die Menschen bleiben bis ins Alter vital und leistungsstark. Mit sechzig, siebzig Jahren sterben sie im Soma-Rausch. Schon die Kinder führt man durch Moribundenkliniken, damit sie durch die Sterbenormung die Todesangst ablegen. Als ob ein Menschenleben der Rede wert wäre! (Seite 175) Die Toten werden verbrannt. In den Krematorien gewinnt man allein in Deutschland pro Jahr 600 Tonnen Phosphor, der als Dünger in der Landwirtschaft zum Einsatz kommt. "Ein schöner Gedanke, dass wir dem Gemeinwohl nützen können, auch wenn wir schon tot sind!" (Seite 72) Lenina Braun (im Original: Lenina Crowne), eine der Beta-Kaste zugehörige neunzehnjährige Mitarbeiterin der Brut- und Normzentrale in Berlin-Dahlem, wird von ihrer Freundin Stinni (Fanny) kritisiert, weil sie sich bereits seit drei Monaten immer wieder mit ihrem Kollegen Henry Päppler (Henry Foster) trifft. "Allen Ernstes: ich glaube, du solltest vorsichtiger sein. Es ist schrecklich ungehörig, so lange mit einem und demselben Mann zu gehen. Als Vierzig-, als Fünfundvierzigjährige ist das vielleicht verzeihlich. Aber in deinem Alter, Lenina! Es gehört sich wirklich nicht." (Seite 47)
Da vertraut Lenina ihrer Freundin an, dass sie ein Auge auf den Psychologen Sigmund Marx (im Original: Bernard Marx) geworfen hat, obwohl er als Außenseiter gilt. Sigmund ist zwar sehr intelligent, aber er leidet darunter, dass er – vermutlich aufgrund eines Fehlers im Embryonendepot – acht Zentimeter kleiner ist, als es sich für einen Alpha-Mann gehört. Den Minderwertigkeitskomplex kompensiert er durch nonkonformistische Anschauungen. Befreundet ist er nur mit Helmholtz Holmes-Watson (Helmholtz Watson), einem Lektor am Schriftstellerseminar der Hochschule für Emotionstechnik, der in seiner Freizeit als Gefühlsingenieur tätig ist, also bei der Produktion von Filmen mitwirkt.
"Wie wäre es, wenn ich könnte, wie ich wollte; wenn ich frei wäre, nicht mehr der Sklave meiner Normung?"
Lenina wundert sich, warum er nicht Soma nimmt, wenn er so schreckliche Einfälle hat.
"Warum hast du das dann nicht gleich gesagt?", flüsterte sie [...]
Sie zieht sich erregt aus, aber da weicht der Wilde erschrocken vor ihr zurück.
"Gefällt euch etwa euer Sklavendasein?", rief der Wilde [...]
Er wirft das Soma aus dem Fenster und versucht, die Deltas zu einer Rebellion anzustiften. Aber diese sind wütend, weil er ihnen das Soma wegnimmt und greifen ihn an. Sigmund und Helmholtz werden alarmiert und eilen herbei. Während Helmholtz Michel beisteht, hält Sigmund sich ängstlich zurück, bis es der Polizei gelungen ist, die aufgebrachten Deltas mit Soma-Dämpfen und Lautsprecher-Durchsagen zu beruhigen.
"Selbstverständlich", stimmte der Aufsichtsrat bei. "Aber diesen Preis müssen wir eben für die Beständigkeit der Welt bezahlen. Man muss zwischen menschlichem Glück und dem wählen, was die Leute hohe Kunst zu nennen pflegten. Wir haben die hohe Kunst geopfert. Dafür haben wir Fühlfilme und die Duftorgel." (Seite 186) Dann kommt Mustafa Mannesmann darauf zu sprechen, dass eine nur aus Alphas bestehende Gesellschaft nicht funktioniere. Das habe ein Experiment bewiesen. 473 n. F. habe man die Insel Zypern geräumt und mit 22 000 Alphas neu besiedelt. Sie bekamen alle für Industrie und Landwirtschaft erforderlichen Resourcen. "Das Ergebnis entsprach haargenau aller theoretischen Voraussicht. Der Boden wurde nicht ordentlich bestellt, in den Fabriken gab es Streiks, die Gesetze wurden missachtet, Befehle nicht befolgt, alle für einige Zeit zu untergeordneten Arbeiten Bestimmten intrigierten unablässig um höhere Posten, und die Höhergestellten spannen Gegenintrigen, damit sie um jeden Preis auf ihren Plätzen bleiben könnten. Binnen sechs Jahren gab es einen prima Bürgerkrieg. Als neunzehntausend von den zweiundzwanzigtausend gefallen waren, richteten die Überlebenden eine einstimmige Eingabe an den Weltaufsichtsrat, die Regierungsgewalt über die Insel wieder zu übernehmen." (Seite 188)
Der Wilde fragt, ob man nicht die Arbeitszeit reduzieren könne. Das sei technisch ganz einfach, meint Mustafa Mannesmann, aber man halte entsprechende Erfindungen unter Verschluss, denn bei einem vor mehr als hundertfünfzig Jahren in Irland durchgeführten Versuch mit einem Vier-Stunden-Tag für die unteren Kasten kam es zu Unruhen und einem erhöhten Soma-Verbrauch. Die Menschen konnten mit ihrer Freizeit nichts anfangen und waren deshalb unglücklich. "Wenn er nur einen Funken Verstand hätte, sähe er ein, dass seine Stafe eigentlich eine Belohnung ist. Er kommt auf eine Insel, das heißt, an einen Ort, wo er die interessantesten Leute der Welt antreffen wird, lauter Menschen, denen aus irgendeinem Grund das Bewusstsein ihrer Individualität so sehr zu Kopf gestiegen ist, dass sie sich nicht mehr ins Gemeinschaftsleben eingliedern ließen. Lauter mit der orthodoxen Lebensordnung Unzufriedene, die unabhängige, eigene Ideen haben. Kurz jeder, der jemand ist. Ich beneide Sie fast, Herr Holmes-Watson." (Seite 191) Nachdem er angeordnet hat, Sigmund nach Island und Helmholtz auf die Falkland-Inseln zu verbannen, bleibt er mit dem Wilden allein zurück. Der Weltaufsichtsrat erklärt Michel, warum die Religion abgeschafft wurde.
"Wir erleiden keine Verluste, für die wir entschädigt werden müssten; demnach ist das religiöse Gefühl überflüssig. Und wozu sollten wir einem Ersatz für jugendliche Triebe nachjagen, wenn der jugendliche Trieb nimmer aufhört? Einem Ersatz für Zerstreuungen, wenn wir uns bis ganz zuletzt an den alten Narreteien erfreuen? Wozu brauchen wir Ruhe, wenn unser Geist und Körper weiter in Tatkraft schwelgen? Wozu Trost, wenn wir Soma haben? Wozu etwas Bleibendes, solange es die Gesellschaftsordnung gibt [...] In der modernen Gesellschaft gibt es weder Scheitern noch Leid. Der Wilde wendet ein, dass es auch keine Freiheit gebe. Er vermisst in der Zivilisation das Edle und Erhabene. "Mein lieber junger Freund", sagte Mustafa Mannesmann, "die Zivilisation hat nicht den geringsten Bedarf an Edelmut oder Heldentum. Derlei Dinge sind Merkmale politischer Untüchtigkeit. In einer wohlgeordneten Gesellschaft wie der unsern findet niemand Gelegenheit zu Edelmut und Heldentum. Solche Gelegenheiten ergeben sich nur in ganz ungefestigten Verhältnissen. Wo es Kriege gibt, Zwiespalt der Pflichten, Versuchungen, denen man widerstehn, und Liebe, die man erkämpfen oder verteidigen muss, – dort, ja, dort haben Heldentum und Edelmut einen gewissen Sinn. Heute gibt es keine Kriege mehr. Übergroße Liebe zwischen zwei Menschen verhindern wir mit möglichster Sorgfalt. Gewissenskonflikte gibt es auch nicht; man wird so genormt, dass man nichts andres tun kann, als was man tun soll. Und was man tun soll, ist, im ganzen genommen, so angenehm und gewährt den natürlichen Trieben so viel Spielraum, dass es auch keine Versuchungen mehr gibt. Sollte sich durch einen unglücklichen Zufall wirklich einmal etwas Unangenehmes ereignen, dann gibt es Soma [...] Immer ist Soma zur Hand, Zorn zu besänftigen, einen mit seinen Feinden zu versöhnen, Geduld und Langmut zu verleihen. Früher konnte man das alles nur durch große Willensanstrengung und nach jahrelanger harter Charaktererziehung erreichen. Heute schluckt man zwei, drei Halbgrammtabletten, und damit gut! Jeder kann heutzutage tugendhaft sein." (Seite 199f)
Die Frage des Weltaufsichtsrats, ob er bereit sei, Unglück in Kauf zu nehmen, bejaht der Wilde. Daraufhin erlaubt ihm Mustafa Mannesmann, dass er sich als Einsiedler in einen verlassenen Leuchtturm auf dem Hügelrücken zwischen Schneverdingen und Amelinghausen zurückzieht. |
Buchbesprechung:In seinem dystopischen Roman "Schöne neue Welt" skizziert Aldous Huxley einen totalitären Weltstaat, der "Gemeinschaftlichkeit, Einheitlichkeit, Beständigkeit" durch künstliche Fortpflanzung, Konditionierung und Indoktrination sicherstellt. Es herrscht Frieden, die Gesellschaft funktioniert, aber der Preis ist der Verzicht auf Freiheit und Kultur. Im Vorwort schreibt Aldous Huxley: Es gibt natürlich keinen Grund, warum der neue Totalitarismus dem alten gleichen sollte. Ein Regieren mittels Knüppeln und Erschießungskommandos, mittels künstlicher Hungersnot, Massenverhaftungen und Massendeportationen ist nicht nur unmenschlich (darum schert sich heutzutage niemand viel); es ist beweisbar leistungsunfähig – und in einem Zeitalter fortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist. Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre einer, worin die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrschen, die gar nicht gezwungen zu werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben. Ihnen die Liebe zu ihr beizubringen, ist in heutigen totalitären Staaten die den Propagandaministerien, den Zeitungsredakteuren und Schullehrern zugewiesene Aufgabe. Aber deren Methode sind noch immer plump und unwissenschaftlich. (Aldous Huxley im Vorwort zur Ausgabe von 1949)
"Schöne neue Welt" weist Parallelen zu einer um 370 v. Chr. verfassten Utopie auf: "Politeia". Platons Staat wird von Philosophen geführt. Mustafa Mannesmann, einer der zehn Weltaufsichtsräte in Huxleys Roman, ist zwar Physiker, kann aber durchaus auch als Philosoph angesehen werden. Den fünf Kasten in der "Schönen neuen Welt" entsprechen die drei Stände in der "Politeia": Regenten, Wächter, Handwerker und Bauern. Platon dachte zwar noch nicht an Retortenbabys und Konditionierung, aber in der von ihm beschrieben Gesellschaft werden die Kinder auch nicht von den Eltern, sondern in staatlichen Institutionen erzogen.
Originaltitel: Brave New World – Regie: Burt Brinckerhoff – Drehbuch: Doran William Cannon, Robert E. Thompson, nach dem Roman "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley – Kamera: Harry L. Wolf – Schnitt: James T. Heckert – Musik: Paul Chihara – Darsteller: Julie Cobb, Bud Cort, Keir Dullea, Ron O'Neal, Marcia Strassman, Kristoffer Tabori, Dick Anthony Williams, Jonelle Allen u.a. – 1980; 180 Minuten
Roland Maier (Libretto) und Stefan Wurz (Musik) adaptierten "Schöne neue Welt" als Musical. Die Uraufführung fand am 8. Oktober 1994 im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim statt. Am 2. November 2006 fand im GRIPS-Theater in Berlin die Premiere einer von Laura Huxley – der Witwe von Aldous Huxley – lizenzierten Musical-Version des Romans "Schöne neue Welt" statt, für die Achim Gieseler die Musik komponiert und Volker Ludwig den Text geschrieben hatte. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Aldous Huxley: Zeit muss enden |