Christopher Isherwood: Der Einzelgänger (Roman) |
Christopher Isherwood: Der Einzelgänger |
Inhaltsangabe:Der achtundfünfzigjährige, aus England stammende Anglizistik-Professor George erwacht in seinem Haus in einem Vorort von Los Angeles.
Das morgendliche Erwachen beginnt, wenn man bin sagt und jetzt. Dann liegt das Wachgewordene eine Weile still, starrt die Zimmerdecke an und in sich hinein, bis es sich wiedererkannt hat und daraus den Schluss zieht: ich bin. (Seite 7) Die Siedlung, in der Georges Haus steht, wurde in den Zwanzigerjahren von Stadtflüchtlingen gegründet. Es handelte sich damals um Individualisten, die Montmartre-Sitten pflegten. Ein hübsches Plätzchen, wo der Mensch ein bisschen malen, ein bisschen dichten und tüchtig bechern kann. (Seite 14f) Als Ende der Vierzigerjahre Heimkehrer aus dem Zweiten Weltkrieg in den Ort zogen, änderte sich die Lebensweise der Bewohner. Ihre Ehefrauen erklärten ihnen von Anfang an in unzweideutiger Sprache, dass Kinderaufzucht und Bohemeleben sich nicht miteinander vereinbaren ließen. Um Kinder in die Welt zu setzen, braucht man eine feste Arbeit, Pfandbriefe, Kredit und eine Lebensversicherung. Und man darf es sich nicht einfallen lassen, zu sterben, ehe nicht für die Zukunft der Familie gesorgt ist. (Seite 16) George und sein Lebensgefährte Jim hatten sich in der Nachkriegszeit hier angesiedelt. Dass Jim vor einiger Zeit bei einem Verkehrsunfall in Ohio ums Leben kam, verschweigt George den Nachbarn. Sie nehmen an, er sei verreist. Jim hat über jeden Kopfschmerz, jeden verletzten Finger, jede kleine Beule gestöhnt und geklagt … Aber am Ende hat Jim Glück gehabt – das einzige Mal, da Glück wirklich zählt. Der Lastwagen fuhr direkt in seinen Wagen hinein, er hat es nicht mehr gespürt. (Seite 93) Während George auf dem WC sitzt, blickt er durchs Fenster hinaus aufs Nachbarhaus. Mr Strunk verdient sein Geld als Immobilienmakler. Mr Strunk, so vermutet George, würde ihn nur allzu gern mit einem einzigen Wort festnageln: schwul. Aber weil wir ja mittlerweile das Jahr 1962 schreiben, darf wohl auch von ihm der Zusatz erwartet werden: Mir persönlich ist es ja egal, was er treibt, solange er mich in Ruhe lässt. (Seite 24) Mrs Strunk, die ihre Karriere als Radiosängerin aufgab, um fünf Söhne und zwei Töchter großzuziehen, nimmt sich bisweilen die Freiheit, in ihrer Meinung von der ihres Mannes abzuweichen: Sie hält Homosexualität für eine Krankheit. Wir haben es mit einem Kranken zu tun, dem die besten Dinge des Lebens für immer versagt sind, der wohl zu bemitleiden, aber nicht anzuklagen ist. Manche Fälle, rechtzeitig erkannt, könnten unter Umständen durch Psychotherapie geheilt werden. (Seite 25)
Als das Telefon klingelt, hüpft George mit der Hose an den Fußknöcheln ins Wohnzimmer und hebt ab. Es ist seine Freundin Charlotte ("Charley"). Sie fragt, ob er am Abend Zeit habe, sie zu besuchen. Weil er die Verzweiflung in ihrer Stimme hört, behauptet er, bereits anderweitig verabredet zu sein.
Und jetzt geschieht etwas Neues mit George. Seine Gesichtszüge sind wieder gespannt, die Muskeln am Kinn straffen sich, um den Mund zuckt und vibriert es, die Lippen werden zu einer schmalen Linie, und zwischen den Augenbrauen bildet sich eine Falte. Währenddessen bleibt der übrige Körper vollkommen entspannt. Er scheint sich mehr und mehr selbstständig zu machen, ein eigenständiges Wesen zu werden: ein anonymer teilnahmsloser Chauffeur ohne eigenen Willen und Individualität, die ideale Verkörperung von Muskelspiel, Sorglosigkeit und taktvollem Schweigen, der seinen Herrn ins Büro fährt. Während ein Teil von George den Wagen steuert, denkt er an einen Senator, der sich für eine Invasion Kubas stark macht und berauscht sich an einer Gewaltfantasie:
Die einzige Sprache, die sie [Scharfmacher wie der Senator] verstehen, ist brutale Gewalt. Am San Tomas State College hat George einen jungen Kollegen, Grant Lefanu, der Gedichte schreibt, obwohl er Physikprofessor ist. George sieht in ihm einen Helden, weil er vor Gericht als Entlastungszeuge für einen Buchhändler aussagte, den man angeklagt hatte, weil er beim Verkauf eines bedeutenden Porno-Klassikers aus den Zwanzigerjahren ertappt worden war. Der Respekt beruht auf Gegenseitigkeit, denn Grant schätzt den unangepassten Kollegen George. George wird von Grant wie ein Kampfgefährte behandelt, ein Kompliment, das er kaum verdient, denn er kann es sich auf Grund seines höheren Dienstalters, seiner Rolle als exzentrischer Brite und mit seinem kleinen Vermögen als letzte Zuflucht leisten, so ziemlich alles auf dem Campus zu sagen, was ihm Spaß macht. Wohingegen der arme Grant keine privaten Einkünfte, aber eine Frau und drei unklugerweise gezeugte Kinder hat. (Seite 83f)
Die Stammhörer des Literaturprofessors heißen Russ Dreyer, Tom Kugelman, Schwester Maria (eine katholische Ordensschwester), Herr Stössel, Netta Torres, Kenneth ("Kenny") Potter und Lois Yamaguchi. Sie springen auf, zahlen, rennen aus der Bar quer über den Highway, und Kenny überspringt mit elegantem Satz das Geländer und steht drei Meter tiefer auf dem Strand. Unterdessen klettert George etwas mühsamer über das Geländer. (Seite 157) Die beiden Männer ziehen sich aus und planschen ausgelassen in den Wellen. George wird so übermütig, dass Kenny ihn schließlich aus dem Wasser ziehen muss. "Können wir zu Ihnen gehen, Sir?", fragt Kenny. (Seite 160)
Während George weiter Scotch trinkt, bevorzugt Kenny Bier. Er habe einmal mit Lois geschlafen, erzählt Kenny, und zwar in einem Motel-Zimmer. Sie mussten sich an der Rezeption eintragen, und der Hotelangestellte wusste selbstverständlich, was sie vorhatten. Das missfiel Lois. George macht Kenny deshalb ein Angebot: Er werde sich angewöhnen, eine Freundin, mit der er jede Woche einen Abend verbringe, an einem festen Wochentag zu besuchen. Während seiner Abwesenheit dürfe Kenny mit Lois zusammen die von seiner Haushälterin stets frisch bezogene Bettcouch im Arbeitszimmer benutzen.
Hier haben wir nun diesen Körper, allen bekannt als Georges Körper, der jetzt schläft und laut schnarchend auf diesem Bett liegt. (Seite 178) Es ist zwar nicht damit zu rechnen, dass George im nächsten Augenblick an einem Gehirnschlag infolge von Arterienverkalkung stirbt, aber es könnte passieren.
Nehmen wir dies nur einmal an. (Der Körper auf dem Bett schnarcht immer noch.) Es ist höchst unwahrscheinlich. Tausend zu eins könnte man wetten, dass nichts passiert, weder in dieser noch in einer anderen Nacht. Und doch könnte es, durchaus möglich, innerhalb der nächsten fünf Minuten geschehen. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Der Einzelgänger" schildert Christopher Isherwood (1904 – 1986) einen Tag im Leben eines achtundfünfzigjährigen Literaturprofessors, der
[...] die Kernthematik seines Gesamtwerks: Die Auseinandersetzung des mit Komplexen überladenen, passiven Individuums mit der aggressiven Gesellschaft, in der es leben muss [...] In seiner literarischen Prosa wie auch in seinen zahlreichen (auto-)biografischen Schriften werden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität aufgehoben; die Schwächen seiner Protagonisten verdeutlichen die Schwächen der Gesellschaft. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band 3, Dortmund 1989, Seite 1452f)
Tom Ford verfilmte den Roman "Der Einzelgänger" von Christopher Isherwood: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Tom Ford: A Single Man |