Georg Klein: LiBiDiSSi (Roman) |
Georg Klein: LiBiDiSSi |
Inhaltsangabe:
Der aus Deutschland stammende Geheimagent Spaik wurde vor Jahren in die orientalische Stadt Libidissi entsandt. Obwohl er im letzten Jahr erst seinen vierzigsten Geburtstag feierte, hat ihn das ungesunde Klima schwer mitgenommen: Sein linkes Augenlid ist erschlafft, er hinkt, weil die Zehen seines rechten Fußes nicht mehr richtig durchblutet werden, und sein Körper ist verfettet. Wegen seiner Tablettenabhängigkeit holt Spaik sich regelmäßig Nachschub aus dem Münzautomaten, den sein Arzt, Doc Lynch Zinally, im Wartezimmer aufgestellt hat. Dazu musste der Körper ein letztes Mal gestreckt werden. Die beiden Sargträger erklärten mit wenigen Worten und Gesten, dass die Finger des Toten zu brechen seien, um deren Griff um die Fußknöchel zu lösen. Schwieriger war es, mir zu verdeutlichen, wie sich die Krümmung des bogenförmig erstarrten Rumpfes beheben ließ. Schließlich spielte einer der beiden den Toten, und der andere stieg über dessen hochgerecktes Gesäß, um unmissverständlich klarzumachen, dass mit kräftigem Wippen, unter Einsatz des eigenen Körpergewichts, Hüftgelenke und Lendenwirbel der Leiche zu einer leidlich flachen Gesamtlage zurückgebrochen werden könnten. (Seite 83f)
Während Spaik sich abmühte, verschwanden die Sargträger mit dem Geld, das er ihnen bereits übergeben hatte. Er fuhr ein schweres Motorrad, eine russische Militärmaschine. Das Fahrzeug war zu einer Dreiradlieferkarre umgebaut, auf deren Pritsche, in einem großen Drahtkorb, der verwertbare Müll, Schrott, Flaschen, Papier und abgelegte Kleidung, transportiert wurde. Der alte Händler war ein Seuschene, zumindest trug er stets die an einen Fes erinnernde Katzenfellmütze, jenes letzte Requisit der seuschenischen Hirtentracht, an dem die in der Stadt lebenden seuschenischen Männer hartnäckig festhalten. Den Sattel seines Gefährts verließ er nur selten. Die Anwohner kamen auf die Straße und warfen ihren Abfall in hohem Bogen in den Drahtkäfig. Dann versuchten sie ein kleines Entgelt dafür herauszuhandeln. Das Kind, ein dünngliedriges Mädchen, das durch den Innenraum des Drahtkorbs turnte, war für mich, den damals noch neugierigen Fremden, der eigentliche Augenfang. Mit affenartiger Geschicklichkeit kletterte es im Korb auf und ab, hielt sich mit Fingern und Zehen am Draht fest und schichtete das Gesammelte nach irgendeinem System über- und untereinander. (Seite 52f)
Bei einer seiner Fahrten fiel der Altstoffhändler vor Spaiks Haustüre tot aus dem Sattel seines Motorrads. Der Süßbäcker Sukkum, der sein Geschäft auf der anderen Straßenseite hat, warf Spaik das Kind zu, und er fing es auf. Im nächsten Augenblick stürzten sich die Anwohner auf die Habe des Toten. Seither haust Lieschen auf dem Dachboden. Hier am Rande der Stadt, auf der Kante ihres Sprungbretts in meine ferne heimatliche Welt, erwarte ich=Spaik meinen Nachfolger. Die Ankündigung seines Kommens hat mich bis zum Flughafen hinaus getrieben. Ich=Spaik habe mich von einem Taxi aus dem Lumpensiederviertel der Altstadt bis an die Freitreppe der Flughafenterrasse verfrachten lassen. Mir ist bis jetzt kein Ausländer begegnet, der eine Autofahrt in die Peripherie alleine wagen würde. (Seite 5) Unter den Neuankömmlingen entdeckt Spaik jedoch keinen, der für den Job in Frage kommt. Nachdem die letzte Maschine gelandet ist, lässt er sich zu Freddys Dampfbad fahren. Während das Auto durch den Basar der Blechschmiede rollt, legt sich ein Verkäufer aufs Dach und drängt Spaik, ihm eine Art Collier abzukaufen. Es war mit feinen Zangen und mit dem Lötkolben, gewiss unter der Lupe, aus den Innereien elektronischer Geräte gearbeitet. Sein zartes Netzwerk aus Drähten, Widerständen, Diödchen und Transistörlein schillerte in den Farben der polierten Edelmetalle und der vielfältigen Lackierungen. (Seite 28f)
Freddy wechselt seine nur mit Nummern benannten Hausboys häufig aus, und er führt seinem Stammgast regelmäßig einen frisch eingetroffenen Knaben zu, "jenen knabenhaften, sehnigen, aber nicht allzu mageren Typ, den mein Altersgeschmack bevorzugt" (Seite 15). Sein Vater sei Pilot der einheimischen Fluggesellschaft gewesen, behauptet Freddy, und seine Mutter eine maltesische Stewardess, aber Spaik glaubt ihm das nicht, zumal Freddys Muttersprache Deutsch zu sein scheint. Zum dritten Mal versuche ich=Spaik ohne einheimische Hilfe nach Hause zu finden. Es muss möglich sein, die Strecke gehend zu bewältigen, es kann sich nur um eine gute Stunde, höchstens anderthalb Stunden Fußmarsch handeln, aber es gilt dabei, den Rand des alten Egichäer-Viertels zu überwinden, eine Barriere besonderer Art. Hier wurden die Häuser von zwei Seiten, vom Viertel der egichäischen Minderheit und von der umgebenden Stadt, in lückenlosen Reihen Rücken an Rücken errichtet. Diese plumpen, vier oder fünf Stockwerke hohen Lehmbauten bilden einen mehr als fünfzehn Meter breiten Gebäudegürtel. Es gibt keine Straßen, die ihn durchbrechen. Hinein in das Viertel oder aus ihm hinaus kommt man nur durch tunnelartige Passagen, die durch das Innere zweier Häuser, durch ein altes Egichäer-Haus und durch sein Gegenbauwerk, führen. (Seite 25f)
Zum Glück findet Spaik unterwegs ein Taxi. Schnell hattest du zwei antiquierte Mikrofone aufgespürt, ein tschechisches und ein israelisches Fabrikat, beide dilettantisch angebracht und von fettigem Staub und toten Fliegen überkrustet. Die einst von Spaik entdeckte Abhöranlage im Schlafzimmer war inzwischen herausgerissen worden. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Spuren der Demontage zu kaschieren. Das Esperanza, vom Tag seiner Eröffnung an das bevorzugte Hotel der Westeuropäer und US-Amerikaner, roch in fast aufdringlicher Weise nach unsresgleichen, nach der Geschäftigkeit, die unsere Rasse andernorts auszuschwitzen pflegt. Du zeigtest ein gewisses Verständnis dafür, dass Spaik sich nach einem anderen Domizil umgesehen hatte. Aber sein Auszug, sein Verschwinden in ein dem Zentralamt gegenüber geheim gehaltenes Privatquartier, blieb dennoch unbestreitbar die erste schwerwiegende seiner dienstlichen Verfehlungen. (Seite 45)
Das Hotel Esperanza gehört Madame Haruri. Man hat sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Gerüchten zufolge lebt sie unter dem Dach, sitzt in einem Rollstuhl und wird von der Mau-Krankheit zerfressen. Axoms Arbeit ist teuer. Unverschämt teuer vielleicht, denn von Anfang an verlangte er die Hälfte des Lohns in harten Devisen. Auf Doc Zinallys Rat halten wir ihn zusätzlich mit kleinen Geschenken bei Laune, vor allem mit bestimmten Pornofilmen indischer Produktion, die Lieschen in preiswerten Zwölferpacken auf dem Videobasar besorgt. Gern nimmt unser Schuster auch Feinkostkonserven, sie müssen nur von weit her sein, denn Axom liebt die fremdartigen Etiketten mit den für ihn unverständlichen Aufschriften. (Seite 59)
Weil Axom keinen einzigen "Schießprügel" mehr hat, rät er Spaik, sich an den alten Lui zu wenden. Den kennt der Geheimagent, denn Lui war der Chefkellner auf der Etage im Hotel Esperanza, in der Spaik sein Zimmer hatte. Inzwischen trat er vorzeitig in den Ruhestand. Er wohnt in einer Dachkammer des Hotels. Auf der Veranda des Hotels bemerkt Spaik zwei junge Ausländer. Denen fällt wiederum ein völlig verlotterter, übel riechender Kerl auf, den sie für einen Italiener halten. Spaik lässt sich zeigen, wo Luis Kammer ist. Als er die Türe öffnet, prallt er vor einer offensichtlich durch die Mau-Krankheit entstellten Leiche zurück. Sie bat uns, sie mit ihrem Vornamen anzusprechen, und zählte auf, was es im Club zu erwerben gab: Souvenirs, dazu diverse Dienste, die ohne Umstände während des Bühnenvortrags im Halbdunkel der Nischen geleistet werden könnten. Für Gäste, die Komfort nicht missen wollten, stünden im oberen Stockwerk Zimmer zur Verfügung, die viertelstundenweise zu buchen seien. Auch die gepflegten, sicher verriegelbaren Kabinen der Toiletten böten sich für die Inanspruchnahme des einen oder anderen Services an. (Seite 106)
Spaik, der in den Naked Truth Club gekommen ist, um nach einer Waffe zu fragen, beobachtet zwei Ausländer, die ihn an die Touristen auf der Veranda des Hotels Esperanza erinnern, die es sogar sein könnten. Der kleine Calvin sitzt bei ihnen. Der Rock des Transvestiten ist so kurz, dass die Rüschen des Unterhöschens zu sehen sind.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Die beiden Agenten werden auf einer Brücke von Freddy angesprochen, den sie bereits im Hotel Esperanza kennengelernt hatten. Sie erkundigen sich bei ihm nach einer Möglichkeit, das Goto zu besichtigen, und er führt sie zu einem kyrenäischen Abdecker und Seifensieder, der auf seinem Fuhrwerk ein Versteck gebaut hat und in wolkenarmen Vollmondnächten Touristen durch das verbotene Viertel fährt. Nachdem Freddy mit dem Kutscher verhandelt hat, will er sich verabschieden, aber die Agenten packen ihn und zerren ihn zu sich in das Versteck. Mit Freddy hatten wir einen wunderbaren Fremdenführer gewonnen. Als er in einem jähen Aufbäumen noch einmal versucht hatte, aus der anfahrenden Kutsche zu entkommen, hatte ihn dein letzter Ellenbogenstoß zwar unglücklich im Gesicht getroffen, und seine Unterlippe war sofort heftig angeschwollen; aber die Schwellung stoppte auch das Bluten, und bald ließ sich der gute Kerl nicht mehr von seiner dicken Lippe beeinträchtigen und kommentierte uns die Einfahrt ins Goto. (Seite 143) Sie fahren zur verwüsteten amerikanischen Baptisten-Mission, die sich im selben Gebäude wie das Goethe-Institut befindet. Die Büroeinrichtung ist zertrümmert, und der Gestank ist unerträglich. Einen Hinweis auf Spaik finden die Agenten nicht. Also fragen sie Freddy nach ihm. Lange leugnete er die Bekanntschaft von Spaik, aber als du in geschickter Drehung den kleinen Finger seiner Rechten aus dem Gelenk springen ließest, fiel ihm ein, dass ein Deutscher dieses Namens zu den treuesten Gästen seines Dampfbades gehöre. Mindestens jede zweite Nacht verbringe der Mann in seinem Etablissement, bleibe dort in der Regel bis zum Morgengrauen, und es sei gut möglich, dass wir ihn noch im Dampfbad antreffen würden, wenn wir uns jetzt gleich, nach dem Verlassen des Gotos, dorthin begäben. Freddys Bereitschaft, ein sofortiges Treffen mit Spaik herbeizuführen, stimmte uns misstrauisch. Wir nahmen uns die Zeit, uns genauer nach Spaiks Lebensumständen zu erkundigen. Bei aller Geduld war es schließlich nötig, auch an Freddys linker Hand den kleinen Finger auszukugeln, um Spaiks Adresse zu erfahren. (Seite 157f) Sie versuchen, ein Taxi anzuhalten, aber die meisten sind besetzt, und die wenigen anderen halten auch nicht. Dir kam schließlich der Gedanke, es könnte an Freddys Anblick liegen, der, gekrümmt zwischen uns hängend, für einen Betrunkenen gehalten werden mochte. (Seite 159) Endlich bringt ein Taxi sie ins Lumpensiederviertel. Einer der beiden Agenten zieht aus dem Polsterwinkel der Rücksitzbank ein offenbar von einem früheren Fahrgast verlorenes Schmuckstück, und sein Kollege legt es ihm um den Hals. [...] eine Art Collier, aus den Innereien elektronischer Geräte gearbeitet. Sein zartes Netzwerk aus Drähten, Widerständen, Diödchen und Transistörlein schillerte in den Farben der polierten Edelmetalle und der vielfältigen Lackierungen. (Seite 162) Freddy zeigt ihnen, wo Spaik wohnt, und sie schleifen ihn vor das Haus. Die Türe ist unverschlossen. Im Flur treten sie Freddy tot. Dann durchsuchen sie die Räume. In einem Plastiksack finden sie die mumifizierte Leiche eines Mau-Toten. Der hintere Raum ist Spaiks Schlafzimmer. Vor dem Bett ist eine bunte Vielzahl Tabletten in die Fugen der Dielen getreten. Mit spitzen Fingern ziehst du die Bettdecke beiseite. (Seite 170)
Das Bettlaken ist gelb, an manchen Stellen braun verfärbt.
Zinally ist Rassenkundler, und wer von seiner Behandlungskunst profitieren will, muss seine Tiraden über die Mehr- oder Minderwertigkeit von Völkern und Volksgruppen erdulden. (Seite 85) |
Buchbesprechung:
"LiBiDiSSi" ist eine Mischung aus Science Fiction, Agenten- und Großstadtroman, die sich jeder Schubladisierung entzieht. Das Lesevergnügen ergibt sich aus der eigentümlichen Komposition und einer ganz besonderen Sprache.
Georg Klein ist ein Autor. Georg Klein weiß um die Geschlechtlichkeit in der Kunst. Spaik, die Hauptfigur in Libidissi, gehört zum Zeugenden Geschlecht.
Zynisch, fantasievoll und mit großer Liebe zum skurrilen Detail entwickelt Georg Klein eine absurde, wahnwitzige Handlung mit kafkaesken Zügen. Dabei evoziert er eine dichte Atmosphäre.
Es wimmelt von unappetitlichen, aber faszinierenden Einzelheiten, mittels derer ein ungleicher Wettbewerb ausgetragen wird: orientalisches Dunkel contra westlicher Rationalismus. Es siegt das Dunkel, selbstredend [...] Den Roman "LiBiDiSSi" gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Ulrich Noethen (Bearbeitung: Georg Klein, Regie und Aufnahmeleitung: Martin Freitag, Berlin 2007, 4 CDs, ISBN: 978-3-8291-1874-3). Georg Klein wurde am 29. März 1953 in Augsburg geboren. 1998 veröffentlichte er seinen Debütroman "LiBiDiSSi". 2010 erhielt Georg Klein den Preis der Leipziger Buchmesse. Er lebt mit seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Katrin de Vries, in Ostfriesland. Georg Klein: Bibliografie
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 |