Herman Koch: Sehr geehrter Herr M. (Roman) |
Herman Koch: Sehr geehrter Herr M. |
Inhaltsangabe:Laura Domènech besucht das Spinoza-Gymnasium in Amsterdam. Die letzte Woche der Sommerferien vor dem Beginn des 12. Schuljahrs will die 17-Jährige mit ihrer aus David Bierman, Stella van Huet, Michael Balvers, Ron Vermaas und Lodewijk Kalf bestehenden Clique im Ferienhaus ihrer Eltern in Zeeland verbringen. Stella ist Lauras beste Freundin, und mit David verbindet sie ein Vertrauensverhältnis, bei dem weder Sex noch Erotik eine Rolle spielen. Drei Tage vor der Abfahrt bittet David darum, auch Herman mitzunehmen, einen schlaksigen Mitschüler, der sitzen geblieben ist und nach den Ferien zu ihnen in die Klasse kommen wird. "Er hat ziemliche Probleme zu Hause. Sein Vater hat seit Jahren eine Freundin. Die Mutter ist erst vor Kurzem dahintergekommen. Aber sie lassen sich nicht scheiden. Jedenfalls wollen sie so lange zusammenbleiben, bis er Abitur gemacht hat. Er ist Einzelkind."
Die Schüler treffen sich am Hauptbahnhof in Amsterdam, nehmen den Zug nach Vlissingen und dort die Fähre nach Breskens. Das letzte Stück fahren sie mit dem Bus. Das Ferienhaus von Lauras Eltern steht in dem Weiler Terhofstede südlich von Retranchement. Zum ersten Mal ist Laura ohne ihre Eltern dort. Ihr Vater, ein Journalist, moderiert seit eineinhalb Jahren ein erfolgreiches Fernsehmagazin. Kürzlich kauften die Eltern in der Dordogne noch ein zweites Ferienhaus. Dafür war ich etwas anderes – besser gesagt: Ich hatte etwas anderes. Mit dreizehn hatte ich meine erste richtige Freundin. Sie war damals mit einem viel älteren Jungen zusammen. Einem gut aussehenden Jungen. Einem sportlichen Jungen. Mit Muskeln, langen, behaarten Beinen, die in kurzen Hosen beeindruckend aussahen. Aber er war auch zum Einschlafen langweilig [...] Mit mir wirst du dich nicht langweilen, sagte ich mit den Augen. Nie. Dann sagte ich etwas, worüber sie lachen musste. [...] Zugegebenermaßen reagierten nicht alle Mädchen so, ich war nun einmal nicht der gängige Typ, ich kannte meine Grenzen, aber es war ihre eigene Schuld, wenn sie lieber neben einem Schönling vor Langeweile starben.
Obwohl Laura es sich nicht eingestehen will, hat sie sich in Herman verliebt. Aber der fängt eine Beziehung mit Stella an. Laura versucht, sich nichts anmerken zu lassen, aber David weiß, wie sehr sie unter der Situation leidet, und als er Laura auf das Verhalten ihrer besten Freundin anspricht, zischt sie: "Ach, die Schlampe!" Er blieb stehen, kaum drei Meter von ihr entfernt. Jetzt konnte sie zweierlei tun: weitergehen, an Herman und der Kamera vorbei aus dem Bild heraus. Aus seinem, aus ihrem gemeinsamen Bild – für immer. Oder: stehen bleiben.
Laura blickt in die Kamera, ohne ein Wort zu sagen, aber Herman weiß auch so, dass sie seine Gefühle erwidert.
"Bitte, Jan", sagte sie. "Hör bitte damit auf!" Bei einem seiner Anrufe droht Jan Landzaat mit Selbstmord: "Ich vermisse dich, Laura. Ohne dich kann ich nicht leben. Ohne dich werde ich auch nicht weiterleben. In diesem Jahr noch mache ich Schluss." Während Lauras Eltern über Weihnachten nach New York fliegen, fährt sie mit Herman nach Terhofstede, um dort die Ferien zu verbringen. Unerwartet taucht Jan Landzaat auf. Er behauptet, er sei auf dem Weg zu Freunden in Paris und komme nur vorbei, um Laura zu versichern, dass er sie nicht länger belästigen werde.
"Du gehst jetzt besser", sagte Laura leise. "Auf die Nummer habe ich wirklich keine Lust." Als Jan Landzaat endlich ins Auto einsteigt, drehen die Räder im frischen Schnee durch. "Das ist mir wirklich sehr unangenehm", sagte Landzaat. "Ich wollte wirklich weg. Das habt ihr doch gesehen. Aber was soll man machen. Gibt es hier im Dorf irgendwo ein Hotel?"
Er muss gewusst haben, dass es in dem Weiler kein Hotel gibt. Notgedrungen lassen ihn Laura und Herman auf dem Dachboden übernachten. Am nächsten Tag ist das Auto unter einer dicken Schicht Neuschnee begraben und springt nicht an. Offenbar ist die Batterie leer. Ein Telefon gibt es in dem Ferienhaus nicht. Die nächste Werkstatt befindet sich in Sluis. Herman bietet Jan Landzaat an, ihm den fünf Kilometer weiten Weg zu zeigen. – – –
Jahrzehnte später bitten zwei in der Redaktion einer Schülerzeitung mitarbeitende Abiturientinnen M. um ein Interview. Ana kommt dann allein zu der Verabredung, weil ihre Freundin verhindert ist. Die erste Ehe des Schriftstellers ist gerade in die Brüche gegangen, weil ihn seine Frau mit einem Maler betrog. Obwohl er älter als Anas Vater ist, verliebt sie sich in ihn, und zum Entsetzen ihrer Mutter heiraten Ana und Herman M.
Sehr geehrter Herr M.,
Herman hat dem Briefträger schon des Öfteren das Verteilen der Post auf die Briefkästen des Mietshauses abgenommen. Das ermöglicht es ihm, sich die Absender anzuschauen und daraus Schlüsse über seine Mitbewohner zu ziehen. Auch die Ansichtskarte, die der Schriftsteller von seiner Frau aus der Kleinstadt H. bekommt, entgeht dem Nachbarn nicht. Offenbar besitzt die Familie dort ein Wochenendhaus. "Ich bin wegen dem Naturschutzgebiet hier. Ich fotografiere. Vögel."
Ein Gewitter zieht auf. Herman bietet Ana an, sie und das Kind im Auto mitzunehmen und später wieder herzubringen, damit sie die zurückgelassenen Fahrräder holen können.
"Mein Buch beruht, wie man so schön sagt, auf einer wahren Begebenheit. Ich befürchtete, dass wenn ich mit dem Jungen oder dem Mädchen spräche, ich Dinge erfahren könnte, die den Roman, wie ich ihn mir vorstellte, gefährden würden. [...] Ich wollte nur sagen, dass ich meine Freiheit als Autor nicht durch eine allzu handfeste Konfrontation mit den Fakten gefährden wollte."
An diesem Abend findet ein Bücherball in Amsterdam statt, zu dem M. und seine Frau selbstverständlich eingeladen sind. Ana kommt jedoch mit einem Fieberthermometer in der Hand ins Arbeitszimmer ihres Mannes, hält es ihm hin und sagt, Catherine klage über Kopfschmerzen und Übelkeit, nun habe sie auch noch Fieber. Ana erklärt ihrem Mann, sie wolle zu Hause bei der kranken Tochter bleiben und der bestellten Babysitterin Charlotte absagen. In Wirklichkeit hielt Ana das Thermometer an die Lampe, um nicht mit zum Bücherball zu müssen. Sie schlägt ihrem Mann vor, Herman statt ihr mitzunehmen. "Na ja, wenn es nach deinem Vater gegangen wäre, hätte diese Befreiung nie stattgefunden", sagt N. "Dann wären wir hier alle" – er macht eine Handbewegung – "in einem Konzentrationslager gelandet. Aber wahrscheinlich wären wir vorher längst irgendwo in einem Wald abgeknallt worden." Während Herman sich die Hände wäscht, hört er, wie draußen ein Tumult losbricht. M. schreit: "Ich bring dich um, du widerliche Drecksau!" M. und N. prügeln sich, bis M. nach einem Tritt in die Hoden nach Luft ringt und Herman ihn nach Hause bringt. Bevor M. im Taxi das Bewusstsein verliert, glaubt er, seine Frau sei noch auf dem Ball: "Meine Frau. Ana. Ana ist noch drinnen." Am nächsten Abend erkundigt sich Herman nach dem Befinden des Schriftstellers. Ana rief am Morgen den Hausarzt. Der diagnostizierte bei ihrem Mann eine Gehirnerschütterung und riet zu einer Woche Ruhe. Wir sitzen in Ihrem Wohnzimmer: eine italienische Couch, ein niedriger Glastisch, eine Chaiselongue aus den Sechzigerjahren. Ihre Tochter liegt schon im Bett. Ihre Frau hat uns Bier, Wein und Nüsse gebracht.
Herman führt selbst gedrehte Filme vor, darunter die Aufnahmen am Blumenstand und mit der Englischlehrerin.
Und dann dein Filmszenario. Ich glaube, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Über die Geiselnahme an deiner Schule. Dass ihr das Ganze in die Luft fliegen lassen wolltet. Das würde doch ein 'normaler Schüler' nie tun! Aber das ist natürlich Quatsch. Man könnte im Nachhinein höchstens sagen, dass du deiner Zeit weit voraus warst. [...] In einem weiteren, ebenfalls 40 Jahre alten Film ist Laura zu sehen. Sie sitzt in der Cafeteria des Spinoza-Gymnasiums, steckt sich einen Finger in den Hals und würgt.
"Was für ein hübsches Mädchen", sagt Ihre Frau. "Was macht ihr denn da?"
Zum Schluss zeigt Herman noch einen Film, den die Polizei damals nicht fand, weil er gerade bei Entwickeln war. Zu sehen ist Jan Landzaat. Am Ende einer verschneiten Brücke will er nach links gehen, dreht sich dann aber um und blickt erstaunt in die Kamera. "So, sie schläft wieder." Ich hatte Ihre Frau nicht hereinkommen hören. "Möchtest du noch ein Bier, Herman?"
Als sie ihren Mann sieht, greift sie wortlos nach ihrem Handy und wählt die Notrufnummer. Er fragt sich, wie es ihm selbst ergehen wird. Er hat es bei verstorbenen Kollegen erlebt. Auf einmal standen ihre Bücher wieder auf der Bestsellerliste. Nicht lange, höchstens einige Wochen, aber immerhin. – – –
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Nachdem Jan Landzaats Ehefrau den fremden Ohrring im Bad findet, trennt sie sich von ihrem Mann und nimmt die Töchter mit. Der Lehrer hat von Laura erfahren, dass sie Weihnachten mit Herman im Ferienhaus ihrer Eltern verbringen würde. Er beabsichtigt, sie dort zu überraschen und so zu tun, als sei er auf dem Weg nach Paris. Um glaubwürdig zu klingen, denkt er sich sogar Namen von angeblichen Freunden in Paris aus: Jean Paul und Brigitte, ein kinderloses Ehepaar. Bevor Jan Landzaat losfährt, nimmt er einen kräftigen Schluck aus der Whiskyflasche, die er bei sich hat. Weil du das Trinken wieder unter Kontrolle hast, kannst du dir ab und zu einen Schluck genehmigen. Dass das Auto dann in Terhofstede im Schnee stecken bleibt, passt in seinen Plan. Bevor er mit Laura und Herman wieder ins Haus geht, knipst er heimlich die Deckenbeleuchtung im Wagen an, um die Batterie zu leeren. Nachts denkt er über seinen Plan nach. Wenn das Fahrzeug am nächsten Morgen nicht anspringt, wird Herman ihm wahrscheinlich anbieten, ihn zur nächsten Werkstatt zu führen, weil es kein Telefon im Haus gibt. Auf dem Fußmarsch nach Sluis will er Herman auf irgendeine Weise abschütteln, sich dann mit einem Stein einige Male gegen Nase, Mund und Stirn schlagen und sich dann hinlegen, um zu erfrieren.
Ein Lehrer besucht zwei Schüler in einem Ferienhaus in Zeeland. Mit dem Mädchen hatte er mal eine kurze Affäre. Am nächsten Morgen springt sein Wagen nicht an. Der Junge schlägt vor, ihn zu einer Autowerkstatt nach Sluis zu bringen. Doch dort kommen sie nie an. Der Junge kommt allein zurück. Seine Aussagen klingen wirr (wenn nicht sogar verdächtig). Er ist auf einmal losgerannt. Am nächsten Tag (nach zwei Tagen, drei Tagen, einer Woche) wird der Lehrer tot in den Dünen gefunden. Sein Kopf weist schwere Verletzungen auf, die von Schlägen mit einem Stein (oder einem Stück Holz) herrühren. Die Obduktion wird zeigen, ob er erschlagen wurde oder ob er erfroren ist. Jan Landzaat ändert seinen Plan. Zwar will er weiterhin Lauras Zukunft und die ihres Liebhabers zerstören, aber selbst am Leben bleiben.
In der finalen Version seines Plans B starb er nicht mehr.
Ein halbes Jahr später will Jan Landzaat nach Amsterdam zurückkehren und zunächst eine Amnesie vortäuschen, dann so tun, als kehre die Erinnerung allmählich zurück und berichten, wie er auf dem Weg zu einer Autowerkstatt in Sluis von hinten niedergeschlagen wurde und später im Schnee liegend wieder zu sich kam.
Sein Gesicht in dem Moment, in dem er kapiert, dass wir in die falsche Richtung gegangen sind, dass wir das ganze Stück wieder zurückmüssen, dass dann aber wahrscheinlich keine Autowerkstatt in Sluis mehr offen sein wird. Zu blöd, würde ich sagen. Ich habe mich wohl doch geirrt. Unerwartet geht der ORWO-Film zu Ende. Um ihn ohne Lichteinfall wenden zu können, benötigt Herman etwas Schatten. Deshalb geht er ein Stück weit in ein Wäldchen. Als er auf den Weg zurückkommt, ist der Lehrer verschwunden. – – –
Während M. den letzten Schliff am Manuskript seines Romans "Abrechnung" vornimmt, kündigt er diesen in einem Interview an und erzählt dabei auch, welchen authentischen Fall er mit dem Plot aufgegriffen hat. Drei Wochen später erhält er einen Luftpostbrief aus Paris: "Sehr geehrter Herr M." Absender ist Jan Landzaat. Der Schriftsteller reist nach Paris und verabredet sich mit ihm in einer Brasserie an der Ecke Boulevard Saint-Michel und Saint-Germain-des-Prés. Der Ober vergewissert sich besorgt bei M., ob ihn der unrasierte, nach Wein stinkende und einen verschmutzten Mantel tragende Mann auch nicht belästige.
"Warum glauben Sie eigentlich, dass ich das alles für mich behalte?", fragte M. "Warum sollte ich nicht morgen nach Amsterdam fahren und auf der Stelle zur Polizei gehen?"
M. hat nach Jan Landzaats Bericht nicht vor, seinen Roman zu ändern. Was er gerade erfahren hat, würde den Lehrer zu sehr in den Mittelpunkt rücken. |
Buchbesprechung:Der Roman "Sehr geehrter Herr M." des niederländischen Schriftstellers Herman Koch (* 1955) weist Elemente eines Thrillers auf, denn die Handlung dreht sich immerhin um einen vor 40 Jahren verschwundenen Lehrer und zwei Schüler, die deshalb unter Mordverdacht gerieten. Das Lesen eines Krimis war wie der schüchterne Puffbesuch, das eines guten Romans war jedes Mal wie eine Eroberung, wie die Begegnung mit einer Frau an der Bar des Hotels in einer fremden Stadt, das Gespräch, in dem Blicke wichtiger waren als Worte – und dann mit dem Aufzug hinauf.
"Sehr geehrter Herr M." ist sehr viel mehr als ein Krimi: Ein guter Teil spielt im Schulmilieu, und da werden die Lehrer nicht sehr vorteilhaft porträtiert, die übrigens am stärksten von den zahlreichen Todesfällen im Buch betroffen sind. Parallel dazu gibt es in "Sehr geehrter Herr M." eine zum Teil selbstironische Satire auf den Literaturbetrieb. (Sind mit den beiden Schriftstellern M. und N., die sich auf einem Bücherball in Amsterdam prügeln, Harry Mulisch und Cees Nooteboom gemeint?) Nicht nur unter den konkurrierenden Buchautoren, sondern auch zwischen Schülern und Lehrern (Laura – Stella – Herman; Jan Landzaat – Laura – Herman) geht es um Neid und Eifersucht. Der Leser liest ein Buch. Wenn das Buch gut ist, vergisst er sich selbst. Das ist die einzige Aufgabe eines Buches. Wenn der Leser sich selbst nicht vergessen kann und während des Lesens dauernd an den Autor denken muss, ist das Buch misslungen.
Das ist eine schelmische Äußerung, denn Herman Koch tut nach dem Vorbild des epischen Theaters alles, um die Leser immer wieder auf die Fiktionalität der Handlung hinzuweisen. Dazu dienen unter anderem mehrere Wechsel der Perspektive:
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015 |