Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut (Roman) |
Michael Köhlmeier:
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Inhaltsangabe:Ein sechsjähriges Mädchen, das seinen Namen nicht kennt, steht neben einem Mann auf der Straße, den es "Onkel" nennt. Die beiden sind jedoch vermutlich nicht miteinander verwandt. Früher wurde das Kind mitunter "Yiza" gerufen. Es weiß zwar, dass das kein Name ist, aber wenn es jetzt nach seinem Namen gefragt wird, sagt es: Yiza. Jenseits der Straße ist ein Markt zu sehen. Die Händler haben gerade begonnen, ihre Stände aufzubauen. Yiza geht hin und stellt sich stumm in den geheizten Laden eines Händlers, den der Onkel ihr zeigte. Der Händler heiße Bogdan, sagte der Onkel, und werde ihr etwas zu essen und zu trinken geben. Bogdan fragte, was sie wünsche. Sie antwortete nicht. Ob sie jemand geschickt habe, wer sie geschickt habe, ob sie jemanden suche, ob sie auf jemanden warte. Wie sie heiße. Wie er ihr helfen könne. Sie gab keine Antwort. Er ließ sie. Er holte Würste, Schinken, Käse und die Tiegel mit in Öl eingelegten Oliven, Artischocken, Zucchini und Melanzani aus dem Kühlraum und breitete die Sachen unter dem Glas der Theke aus. Sie tat, was der Onkel gesagt hatte. Nichts. Sie stand nur da. Bogdan schnitt Brot ab, belegte es mit Wurst und Käse, teilte es in Viertel. Er hob sie hoch und setzte sie auf einen der Barhocker an der Theke. Er schob den Teller vor sie hin, goss gelben Saft in ein Glas.
Als später der Fischhändler herüberkommt, rät er Bogdan, die Polizei einzuschalten. Yiza versteht zwar die Sprache der Leute nicht, aber der Onkel hatte ihr verschiedene Varianten des Wortes Polizei vorgesprochen und ihr eingeschärft, lauthals zu schreien, sobald es fällt. Das tut sie nun. Daraufhin erklärt Bogdan dem Fischhändler, er werde noch bis zum Abend warten und dann die "Hmhm" rufen. Aber am Abend ist das Kind verschwunden. Schau mich nicht an, Arian. Und sag nichts. Hör mir zu. Wir müssen Yiza zurücklassen. Schau sie nicht an. Schau mich nicht an. Sie glauben, dass ich bete. Sie sollen nicht denken, dass ich mit dir rede. Yiza soll auch nicht denken, das ich mit dir rede. Schamhan will mit Arian fliehen und Yiza nicht mitnehmen, weil sie nicht schnell genug rennen kann. Als gegen Mitternacht ein randalierender Betrunkener hereingebracht wird, hält Schamhan den Zeitpunkt für die Flucht gekommen und gibt Arian ein Zeichen. "Wenn ich laufe, läufst du auch. Laufe in eine andere Richtung als ich."
Schamhan springt auf. Arian bleibt sitzen. Aber bevor der 14-Jährige die Tür erreicht, muss er an dem Betrunkenen vorbei. Der schlägt ihn nieder, tritt nach dem am Boden Liegenden und wehrt die Polizisten ab, bis sie ihn mit einem Gummiknüppel außer Gefecht setzen. Niemand achtet auf Arian, der Yiza bei der Hand nimmt und mit ihr die Polizeistation verlässt. Er will Aspirin. Ich habe Aspirin verstanden. Hast du eine Aspirin? Warum will er Aspirin?
Arian resigniert, aber eine der beiden Frauen läuft ihm nach und gibt ihm zwei Münzen. "Für Aspirin", sagt sie. Das bringt ihn auf eine Idee: Er fährt mit der U-Bahn, geht von Fahrgast zu Fahrgast, sieht jedem in die Augen, hält die Hand auf und sagt: "Aspirin". Auf diese Weise bekommt er auf Anhieb 12 Euro und 70 Cent zusammen, dazu noch vier Tabletten. Sie tat, als ob sie gähnte, und bewegte den Kopf, wie es die Frau tat, wenn sie Nackenschmerzen hatte vor Müdigkeit. So tat sie, damit ihr Blick aus dem Fenster nicht wie ein Blick aussähe, sondern wie ein zielloses Umherschauen. Sie sagte, sie müsse zur Toilette, ob die dürfe, und erschrak gleich, weil sie das gesagt hatte, denn sie sollte nicht fragen, die Frau wurde zornig, wenn sie fragte, ob sie zur Toilette dürfe, das klinge, als ob sie sich vor ihr fürchte, als ob sie ihr verbiete, zur Toilette zu gehen, sie solle einfach aufstehen und zur Tür gehen und bei der Tür warten, bis sie ebenfalls aufgestanden und zur Tür gegangen sei, und solle warten, bis die Tür aufgesperrt werde.
Die Frau holt den Schlüssel aus der Schürzentasche. Yiza entreißt ihn ihr und stößt sie zurück. Rasch sperrt sie die Tür auf und schließt sie von außen wieder ab. Dann holt sie Arian ins Haus. Offenbar kann er inzwischen auch ein wenig die Sprache der Menschen von hier, denn er erklärt Yiza, dass er hungrig sei. Das Mädchen mit dem Fingerhut zeigt auf die Küchentür. Arian holte aus und schlug das Ding gegen die Stirn der Frau. Und er schlug gleich noch einmal. Und dabei schrie er, wie Yiza geschrien hatte. Genau gleich schrie er, als würde er sie nachmachen. Die Frau taumelte in den Flur, streckte die Arme aus, stolperte und fiel. Arian schlug zum dritten Mal, diesmal auf den Hinterkopf der Frau. Die Frau zuckte, wie sie am Boden lag, wälzte sich herum, lag nun auf dem Rücken, die Beine zuckten, und aus ihrem Mund quälte sich ein merkwürdiges Geräusch, das kein Wort wurde. Arian schlug ein viertes Mal und ein fünftes Mal zu und ein sechstes Mal. Die beiden Kinder füllen Säcke und einen Rollkoffer mit Lebensmitteln und anderen nützlichen Sachen. Dann machen sie sich damit auf den Weg. |
Buchbesprechung:
In dem kurzen Roman "Das Mädchen mit dem Fingerhut" – vielleicht spräche man besser von einer Erzählung – veranschaulicht Michael Köhlmeier den Überlebenskampf von elternlosen Flüchtlingskindern (Amtsdeutsch: unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, UMF) in Mitteleuropa. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand |