David Herbert Lawrence: Der Hengst St. Mawr (Roman) |
David Herbert Lawrence: Der Hengst St. Mawr |
Inhaltsangabe:
Louise ("Lou") Witt stammt aus einer amerikanischen Familie, die von Louisiana nach Texas zog. Im Alter von zwölf Jahren wird sie in ein französisches Internat geschickt. Nach dem Schulabschluss reist sie durch Europa. In Rom lernt sie den drei Monate älteren Australier Rico Carrington kennen. Die leidenschaftliche Affäre, die sie mit dem Maler auf Capri hat, zerrüttet ihre Nerven so, dass man sie in ein Erholungsheim in Umbrien bringt. Rico kehrt nach Melbourne zurück, wo kurz darauf sein Vater stirbt, ein Regierungsbeamter, der ihm seinen Adelstitel vererbt, sodass aus Rico Sir Henry wird. Einige Zeit später sieht er Lou in Paris wieder. Sie sind beide vierundzwanzig, als sie heiraten und sich ein Haus in Westminister mieten. Das Geld dafür besitzt Lou bzw. Lady Carrington aus dem Erbe ihres früh verstorbenen Vaters. "Der Sohn von Mr Griffith Edwards hat ihn dort im Forst von Dean ein bisschen wild geritten. Dem Jungen wurde dabei der Kopf an einem niedrigen Eichenast zerschmettert. Im letzten Herbst war das. Und vor einiger Zeit hat er einmal einen Reitknecht gegen die Stallmauer gequetscht – tödlich verletzt. Aber das waren beides Unfälle, Lady Carrington. So etwas kommt eben vor." Lou ist von St. Mawr fasziniert.
Jetzt, nachdem sie jenes volle, dunkle, leidenschaftliche Leuchten der Kraft und eines anderen Lebens in den Augen des unheimlichen Pferdes gesehen hatte, brachte die ängstliche Kraftlosigkeit ihres Mannes sie zur Verzweiflung. Rico sah so gut aus, er war so beherrscht, er verfügte über so viel galante Liebenswürdigkeit und echte weltmännische Klugheit. Man musste ihn bewundern – zumindest sie musste es. Rico versucht Lou davon abzuhalten, St. Mawr für ihn zu kaufen, zumal er lieber mit dem Auto fährt als zu reiten. Wohlweislich haben die Menschen andere Fortbewegungsmittel erfunden: Autos und Lokomotiven. Das Pferd ist für den Menschen untauglich geworden.
Aber Lou besteht darauf, dass er sich St. Mawr anschaut, und am Ende erwirbt sie nicht nur den Hengst, sondern übernimmt auch den schwarzbärtigen Pferdeknecht Morgan Lewis, der St. Mawr betreut. Er wuchs in der walisischen Grafschaft Merioneth bei einem Onkel und einer Tante auf, die ihn nicht mochten. "Ist das nicht eigenartig! Ein richtiges Tier! Ohne Verstand! Ein Mann ohne Verstand! Ich habe immer gedacht, so ein Mensch müsste ein verächtliches, abstoßendes Geschöpf sein. Und dabei so herrliche Haare, die sich so wunderbar anfassen! Dein Henry hat bestimmt einen prächtigen Verstand, aber der Gedanke, dass ich seine Haare anfassen könnte, widerstrebt mir."
Mit Flora Manby, ihrer Schwester Elsie und deren Mann Frederick Edwards unternehmen Rico, Lou und Rachel einen Ausritt zu zwei Felsengruppen mit den Namen Engelskanzel und Teufelskanzel. Lewis zeigt ihnen den Weg. Rico reitet auf St. Mawr. Kurz vor dem Ziel ärgert er sich über den Hengst, der vor einer toten Schlange scheut, und zerrt an den Zügeln. St. Mawr bäumt sich auf, stürzt. Ein Hufschlag trifft Frederick Edwards ins Gesicht. Rico bricht sich zwei Rippen, und eines seiner Fußgelenke wird zertrümmert. Oh, diese grässlichen, lammfrommen, biederen Menschen, wie abstoßend waren sie doch! Aber auch Lou denkt über das Böse nach.
Das Böse! Die geheimnisvolle Macht des Bösen. Sie konnte es überall sehen: in den Einzelnen, in der Gesellschaft, in der Presse. Es war im Sozialismus und im Bolschewismus vorhanden: das gleiche Böse. Aber der Bolschewismus zerstört die glänzende Außenseite des Lebens, darum weg mit ihm! Versuchen wir's mit dem Faschismus. Der Faschismus würde die Außenseite des Lebens unversehrt lassen und dafür umso gründlichere Zerstörungsarbeit leisten.
Phoenix erfährt, dass Rico heimlich vorhat, den Hengst an Flora Manby zu verkaufen, die wiederum beabsichtigt, St. Mawr kastrieren zu lassen, um ihm die Wildheit zu nehmen. Auf Phoenix' Warnung hin beschließt Rachel, zu Freunden in Oxfordshire zu reiten, und Lewis soll sie auf St. Mawr begleiten.
Die Menschen, alle Menschen, die sie kannte, waren so völlig eingeschlossen in ihre glückliche Scheinwelt. Wie Maschinen waren sie alle nur auf Glück und Vergnügen eingestellt.
Sie will deshalb weg von Rico und mit ihrer Mutter zurück nach Amerika. In Southampton schiffen sie sich mit Phoenix, Lewis und St. Mawr auf einem Frachter ein und reisen nach San Antonio in Texas. Bald war ihr dieses Leben zuwider, in dem man sich vorkam wie in einer Filmdekoration und in dem alles von dem Willen 'etwas zu erreichen', das heißt Geld zu verdienen, um das Spiel im Gang zu halten, seinen mechanischen Antrieb erhielt. Die mystische Pflicht 'etwas zu erreichen' hatte hier den Zweck, aus der Farm möglichst nennenswerte Beträge für die 'Besitzer' herauszuwirtschaften. Lou war selber einer dieser 'Besitzer'. Und die Beträge, die ihr daraus nach dem Testament ihres Vaters zugeflossen waren, hatte sie dazu verwandt, St. Mawr zu kaufen und das Haus in Westminster einzurichten. Außerdem hatte hier jeder noch die geheimnisvolle Pflicht sich 'wohlzufühlen'. Alle mussten sich wohlfühlen, großartig!
Lou und ihre Mutter beschließen deshalb, nach Santa Fé zu fahren.
Die Farm ging zurück. Die Ziegenherde verringerte sich. Das Wasser hörte auf zu fließen. Und schließlich gab der Besitzer auf. Trotz der Unwirtlichkeit des Areals kauft Lou die Farm "Las Chivas". Ihrer Mutter erklärt sie: Da ist etwas, das mich liebt und auf mich wartet. Ich kann dir nicht sagen, was es ist. So etwas wie ein Geist. Und es ist hier, auf dieser Farm. Es ist hier, in dieser Landschaft. Etwas, das für mich realer ist als Männer, das mich beruhigt und mich aufrecht hält. Ich weiß noch nicht endgültig, was es ist. Es ist etwas Wildes, das mir gelegentlich wehtun und mich manchmal auch erschöpfen wird. Ich weiß es. Aber es ist etwas Großes, größer als Männer, größer als alle Menschen, größer als die Religion. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Der Hengst St. Mawr" von D. H. Lawrence ist eine expressionistische Fabel über den Gegensatz zwischen Wildnis und Zivilisation. Das ungebändigte Tier steht hier für die Urkraft der Natur, während der Künstler Sir Henry, dessen
So einfach und gradlinig die Handlung ist, so erregend und überwältigend ist sie in ihrer hintergründigen Ambivalenz, unversehens und unausgesprochen weitet sie sich zu fast metaphysischer Größe und stellt die entscheidende Frage unserer Zeit, die Frage nach dem Sinn und Wert unserer Zivilisation. (Robert Lucas: Frieda von Richthofen) Bei der Beschreibung der Las Chivas-Ranch des Romans hatte David Herbert Lawrence die Kiowa-Ranch vor Augen. Dort wohnten er und seine Ehefrau Frieda während der Arbeit am Manuskript. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
David Herbert Lawrence (Kurzbiografie) |