Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff (Roman) |
Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff |
Inhaltsangabe:Die Erzählerin reist mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester und einem Mann namens Rumen Apostoloff am Steuer eines klapprigen Kleinwagens einige Tage durch Bulgarien. Apostoloff ist stolz auf sein Land und möchte es den beiden Besucherinnen aus Deutschland zeigen. Die ältere der beiden, die mit einem Schönheitschirurgen aus dem Iran verheiratet ist und zwei Kinder hat, lässt sich gern darauf ein und verliebt sich auch ein bisschen in Apostoloff, aber ihre Schwester, die im Fond sitzt, findet alles nur schäbig und hässlich. Mit einem riesigen Besen müsse man das alles auskehren, meint sie.
Wir haben Bulgarien schon satt, bevor wir es richtig kennengelernt haben. Traurig, aber wahr, die bulgarische Sprache dünkt uns die abscheulichste von der Welt. (Seite 14) Sie glaubt, die "kommunistische Amtsmaschine" habe "alle Menschen gleichermaßen für blindes Geziefer" (Seite 117) gehalten und wirft den Bulgaren vor, die Entwicklungen seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgeblendet zu haben.
Es fehlen die deutsche Wehrmacht und die SS.
Unterwegs kommen sie an einem Lastwagen vorbei, den die Polizei gestoppt hat. Später erfahren sie, dass er zwanzig Jahre altes Fleisch geladen hatte. Die Erzählerin fühlt sich dadurch in ihrer Kritik an Bulgarien bestärkt, aber Apostoloff behauptet, die Ladung sei für Rumänien bestimmt gewesen. Die Männer schnappten sich die erstbeste Blondine, deren sie habhaft werden konnten, und setzten sich fest. Ihre sozialen Herkünfte, politischen Motive, die Kriegserlebnisse waren grundverschieden, verschieden auch der Grad an Faszination oder Widerwille, den sie gegenüber den deutschen Mordbrüdern an den Tag gelegt hatten. Immerhin, man war ja während zweier Weltkriege mit den Deutschen verbündet gewesen, und zum Dank hatten die Deutschen sich Mühe gegeben, bei den Bulgaren nicht auf ein slawisches Mindervolk zu erkennen, sondern in ihnen ein höheres, arisch versetztes Hybridvolk zu sehen, den Russen weit überlegen. Was sie aber nicht davon abhielt, bei unserem Vater Schädelvermessungen vorzunehmen, als er in Tübingen Medizin studierte. (Seite 27)
Die wenigsten der Bulgaren blieben in Schwaben. Der Reichste aus der Gruppe und letzte Überlebende heißt Alexander Iwailo Tabakoff. Er hatte Lieselotte ("Lilo") Wehrle geheiratet. Ihr Sohn starb im Alter von sechs Jahren an einer Hirnhautentzündung. Später gebar Lilo noch eine Tochter. Sie starb 1981 mit sechzig. Der Witwer zog verbittert nach Florida. Vor eineinhalb Jahren kehrte er jedoch in sein Haus in Stuttgart-Sillenbuch zurück, und zwar in der Absicht, die sterblichen Überreste der neunzehn Verstorbenen nach Sofia zu überführen. Burgbesichtigungen zählen nicht zu unseren liebsten Beschäftigungen. Ungute Erinnerungen legen sich auf jeden ruinösen Stein, den wir heute anschauen. Fahrten nach den schwäbischen Burgen der Umgebung gehörten zu den gottlob seltenen Sonntagsausflügen, die wir gezwungen waren, mit unseren Eltern zu unternehmen. (Seite 41) Vier Kilometer nordöstlich davon liegt das Dorf Arbanassi. In Schumen gehört das 1981 errichtete Denkmal "1300 Jahre Bulgarien" zu den Sehenswürdigkeiten. Dreck. Zwingdreck. Kraftdreck. Volkdreck. Was so an Worten beifällt, taugt nicht. Roh, brutal, monströs – ja, das passt, aber es passt auf die meisten Denkmale der letzten hundert Jahre, Ost wie West. (Seite 118)
In Varna kommt Rumen Apostoloff nicht umhin, einem alten Bekannten seine Aufwartung zu machen, der hier als König der Unterwelt gilt: Saschko Trendafilow. Verheiratet ist der Mittvierziger mit der deutlich älteren Witwe seines früheren Bosses, den er angeblich eigenhändig ermordete. Noch nie habe ich einen so hässlichen Strand gesehen. Überall Drecksbuden mit dröhnender Musik, die Art von Musik, mit der man einen Bürgerkrieg anfängt. (Seite 182) Über Plovdiv fahren sie zurück nach Sofia. Alles Weitere bleibt geheim. (Seite 235) |
Buchbesprechung:
"Apostoloff" ist eine Mischung aus Reisebericht und Familiengeschichte mit autobiografischen Elementen. Eine Ich-Erzählerin aus Stuttgart schildert ihre Reiseeindrücke, während sie und ihre Schwester – deren Namen wir auch nicht
Eine Dame mittleren Alters, der Autorin zum Verwechseln ähnlich, sitzt auf dem Rücksitz eines Automobils und hält fest, was sie sieht und worüber sie nachdenkt, was sie reizt und woran sie sich erinnert. Manchmal träumt sie auch nur, versucht der vergessenen Stimme des Vaters hinterherzulauschen, spielt mit Wörtern, lässt die Roten reden [...] Das Handeln haben andere ihr abgenommen, der Fahrer vor allem, aber auch die "Kopilotin" auf dem Beifahrersitz. (Thomas Steinfeld, Süddeutsche Zeitung, 10. März 2009) Sibylle Lewitscharoff macht in "Apostoloff" aus einer nicht besonders glücklichen Familiengeschichte – der Vater der Protagonistin erhängte sich, als sie neun Jahre alt war – eine Groteske. Fast alle Kritiker loben die Komik, den Witz und die Ironie des Romans "Apostoloff", aber meine Begeisterung hält sich in Grenzen. Figuren wie Rumen Apostoloff – dessen Name immerhin für den Buchtitel verwendet wurde – bleiben schemenhaft, und einigen Szenen fehlt es an Farbe. Sibylle Lewitscharoff schreibt zwar auf hohem sprachlichen Niveau, aber nicht alle Abweichungen von der gewohnten Wortbildung klingen überzeugend. Allerdings hat das Feuerwerk an sprachlicher Bravour, Schwarze-Komödien-Effekten und geistreichen Keckheiten seinen Preis. Dem Grundproblem eines jeden Exzellenzstils, der mit allem, was er präsentiert, wenigstens ein bisschen Furore machen will, entkommt auch Lewitscharoff nicht. Der Stoff, von dem sie handelt, wird dabei doch ziemlich gezaust und verschlissen, zerplaudert und verjuxt, seine Substanz löst sich auf, sein Gewicht zerbröselt. Zartere, wackligere Empfindungen haben da keine Chance. Kaum etwas bleibt, was die Erzählerinneninstanz mit ihrer rasiermesserscharfen Zunge nicht in maulfertige Häppchen zersäbelt. Literaturästhetisch betrachtet, erscheint das schön und schrecklich, bewundernswert und nervtötend zugleich. Ganz abgesehen davon, dass die erzählerische Opulenz gedanklich doch etwas mager ausfällt und die virtuose Rhetorik zuweilen ein wenig hohl tönt. (Eberhard Falcke, Die Zeit, 26. Februar 2009)
Den Roman "Apostoloff" von Sibylle Lewitscharoff gibt es auch als Hörbuch, in einer gekürzten Fassung von Regina Carstensen, gelesen von Sibylle Lewitscharoff (München 2009, 4 CDs, ISBN: 978-3-86717-502-9). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg |