Sándor Márai: Befreiung (Roman) |
Sándor Márai: Befreiung |
Inhaltsangabe:
Erzsébets verwitweter Vater, ein Astronomie- und Mathematik-Professor in Budapest, beschäftigt sich lieber mit den Geheimnissen des Himmels als mit den Menschen. Doch als die Juden in seiner Heimatstadt verfolgt werden wie schädliche Tiere [Judenverfolgung], hilft er ihnen nach Kräften – und gehört deshalb bald selbst zu den Verfemten. Als die Deutschen am 19. März 1944 Budapest besetzen, sucht die Gestapo nach ihm. Doch er war rechtzeitig gewarnt worden und fuhr mit dem Frühzug aufs Land. Seine dreiundzwanzigjährige Tochter tauchte an diesem Morgen ebenfalls unter. Die Biologiestudentin muss sich nicht nur wegen ihres Vaters verbergen, sondern auch, weil sie der Aufforderung, sich vor den Bolschewiken nach Deutschland zu retten, nicht nachkam. Die Tochter einer Putzfrau an der Universität besorgt ihr gefälschte Papiere auf den Namen Erzsébet Sós. Dass der Vorname mit ihrem richtigen übereinstimmt, ist Zufall. Die Leute verstecken sich, monatelang, mit "einwandfreien" Papieren, mit fieberhafter Vorsicht, aber dieselben Leute verließen plötzlich, um fünf Uhr am Nachmittag, aus einer Nervenkrise heraus, ihren Schlupfwinkel, gingen auf die Straße, in ihr Stammcafé oder ins Lichtspieltheater, liefen der Polizei oder den politischen Ermittlern geradewegs in die Arme. (Seite 9) Die Wohnung, in der Erzsébet und ihr Vater bis zum Einmarsch der Deutschen lebten, wird zerstört. Dabei werden auch fast alle Aufzeichnungen, Berechnungen und Manuskripte des Professors vernichtet. Zuerst hatten die deutschen Schergen die Zimmer durchsucht, dann hatten unbekannte und rätselhafte Hände Kleider und Gebrauchsgegenstände gestohlen; im Oktober, nach dem Aufstand der Pfeilkreuzler, forschten Diebe mit Armbinden in den erkalteten und verwüsteten Zimmern nach verbliebener Beute, bis im November eine Bombe das Haus und die Wohnung gänzlich zerstört hatten. (Seite 13f)
Um zu überleben, muss Erzsébet alles, was ihr verblieb auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Danach besitzt sie nicht einmal mehr Unterwäsche zum Wechseln.
Was verbirgt sich in solch einem Menschen? Geld verlangt er nicht. (Seite 44)
Sie geht zurück ins Haus gegenüber, in das Dienstbotenzimmer der Wohnung im 3. Stock, und legt sich im Mantel aufs Eisenbett. Heizen kann sie nicht, und es hätte auch keinen Sinn, denn die Druckwelle von Bombenexplosionen hat die Fensterscheiben zerbrochen.
Der Krieg ist hier, man hört ihn keuchen. Als würde sich im Dunkeln ein Ungeheuer über sie beugen. Sein stinkender, wilder Atem ist zu spüren, das heiße Schnüffeln im Nacken des Opfers. (Seite 72)
Eines Morgens werden alle geweckt. Vier Pfeilkreuzler leuchten mit einer Taschenlampe in die Gesichter. Erzsébet denkt zunächst, die Männer seien auf Raub aus, aber sie haben es auf einen jüdischen Zahntechniker abgesehen, den wohl der Hauswart denunzierte. Sie zerren ihn ins Freie und erschießen ihn. "Diese stille Disziplin, verstehen Sie? Das war schlimm, schlimmer als alles." (Seite 104)
Der Hauswart taucht mit zwei deutschen Soldaten auf und ordnet an, dass alle den Keller innerhalb von zehn Minuten verlassen. Nur zwei Menschen bleiben unbemerkt in einem dunklen Winkel zurück: Erzsébet und ein seit vier Jahren gelähmter Mathematiker. Er habe in Wien gelebt, bis die Deutschen einmarschierten, erzählt er. Daraufhin sei er in seine Heimatstadt Budapest zurückgekehrt. "Ich glaube, dass niemand vergeblich gelitten hat, ich glaube, dass die Menschen aus dem Leiden lernen. Ich glaube, dass es etwas gibt, das letzten Endes stärker ist als der Hass." (Seite 136) Der Gelähmte teilt diese optimistische Ansicht nicht. "Sie glauben daran, dass das Leiden die Menschen zur Liebe erzieht, Sie glauben, dass die Liebe den Menschen vom Leid und vom Elend befreit." (Seite 136)
Die beiden warten im Luftschutzkeller auf die Befreier. Auf Propaganda-Plakaten wurden die Bolschewisten als Bestien dargestellt. Erzsébet hat noch keinen Russen gesehen, aber sie vermutet, dass es Menschen sind wie andere auch. Das bestätigt sich, als ein Russe mit einer Maschinenpistole am Eingang auftaucht. Er ist groß, kräftig und noch keine dreißig Jahre alt. Erzsébet versucht ihm zu erklären, dass keine Deutschen mehr da sind, aber die Verständigung ist schwierig, weil sie nicht russisch kann und der Soldat kein Ungarisch versteht. Erzsébet streckt ihm die Hand hin. Er nimmt sie nicht. Wachsam und misstrauisch blickt er sich um. Den im Dunkeln liegenden Gelähmten bemerkt er allerdings nicht. Endlich lässt er die Waffe sinken, aber er bleibt auf der Hut. Aus einer zurückgelassenen Pálinka-Flasche schenkt Erzsébet ein Wasserglas voll und reicht es ihm. Der Russe trinkt es in einem Zug. In der dritten Nacht nach dem Neujahrstag – am vierundzwanzigsten Tag der Belagerung Budapests – fasste eine junge Frau im Schutzraum eines großen Mietshauses in der Innenstadt den Entschluss, aus dem belagerten Haus zu verschwinden, die zum Kriegsschauplatz umgestaltete Straße zu überqueren und, egal wie und um jeden Preis, in die zugemauerte Nische des Luftschutzkellers im gegenüberliegenden Haus zu gelangen zu dem Mann, der mit fünf weiteren schon die dritte Woche in diesem Versteck bangte. Dieser Mann war der Vater der jungen Frau. (Seite 7) Auf dem Trottoir liegt der junge Russe. Er starb durch einen Kopfschuss.
Ratlos steht sie noch eine Zeit lang da. Sie friert sehr. Sie geht um den toten Russen herum und mit unsicheren Schritten auf das gegenüberliegende Haus zu. (Seite 186) |
Buchbesprechung:
Sándor Márai schrieb den Roman "Befreiung" im Spätsommer 1945 innerhalb von sieben Wochen, beabsichtigte jedoch nicht, ihn drucken zu lassen. Das Manuskript wurde erst nach seinem Tod entdeckt und 2000 veröffentlicht. Eine erste deutschsprachige Ausgabe erschien im Januar 2010. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 |