Javier Marías: Dein Gesicht morgen (Romantrilogie) |
Javier Marías: Dein Gesicht morgen |
Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 1 Fieber und Lanze
"Man sollte niemals etwas erzählen [...]" Mit diesen Worten beginnt der Spanier Jaime Deza – je nachdem, mit wem er gerade spricht, heißt er auch Javier, Jacopo, Giacomo, Juan, Jacques oder Jack – zu erzählen. ("In Wirklichkeit sollte man niemals etwas erzählen", heißt es noch einmal in "Tanz und Traum", Seite 252.) Jaime war früher einmal als Lektor für spanische Literatur in Oxford tätig. Als seine Ehefrau Luisa sich von ihm trennte und ihn aufforderte, die gemeinsame Wohnung in Madrid zu verlassen, in der sie mit Sohn und Tochter zurückbleiben wollte, ging Jaime erneut nach England. Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 2 Tanz und TraumWollte Gott, dass niemand uns jemals um etwas bittet oder auch nur fragt, weder um einen Rat noch um einen Gefallen oder ein Darlehen, nicht einmal um Aufmerksamkeit, wollte Gott, die anderen bäten uns nicht, ihnen zuzuhören, ihren jämmerlichen Problemen und ihren peinlichen Konflikten, die den unseren so sehr gleichen, ihren unbegreiflichen Zweifeln und ihren bloßen Geschichten, die so austauschbar und immer schon geschrieben sind (sie ist nicht sehr breit, die Skala dessen, was man versuchen kann zu erzählen), oder den früher einmal so genannten Nöten, wer hat sie nicht oder sucht andernfalls nicht nach ihnen, "das Unglück erfindet man", zitiere ich oft für mich, und das Zitat ist wahr, wenn es Missgeschicke sind, die nicht von außen kommen und nicht objektiv unvermeidbar sind, keine Katastrophe, kein Unfall, kein Tod, kein Zusammenbruch, keine Entlassung, keine Seuche, keine Hungersnot oder unerbittliche Verfolgung desjenigen, der nichts getan hat, die Geschichte ist voll von ihnen, auch unsere, und ich meine damit diese unsere unvollendeten Zeiten (und es gibt sogar Entlassungen und Zusammenbrüche und Tode, die tatsächlich gesucht oder verdient oder tatsächlich erfunden sind). Wollte Gott, dass niemand zu uns kommt und "bitte" sagt oder "sag mal" [...] (Seite 11)
Mit diesen eineinhalb Sätzen beginnt Javier Marías den zweiten Band ("Tanz und Traum") beziehungsweise das dritte Kapitel ("Tanz") seines dreibändigen Romans "Dein Gesicht morgen". Meine Unruhe wuchs: wegen De la Garza, der sich im verbalen Sturmangriff auf Flavia befand (ich vertraute darauf, dass er sich nicht zum taktilen oder digitalen verstieg), oder wegen Flavia, die ohne jedes Schutzschild war gegen die Pfeile, die dieser ordinäre und zugleich manierierte Einfallspinsel ihr ins Gesicht schleudern mochte: im Augenblick lachte sie (gutes oder schlechtes Zeichen, je nach dem Auge des Betrachters), ich versuchte, die beiden nicht länger als ein paar Sekunden aus dem Blick zu verlieren [...] (Seite 110f) Unvermittel sind die beiden verschwunden. "Mr Reresby" fordert Jaime auf, in den Toiletten nachzusehen und Mrs Manoia unverzüglich zurückzuholen: "Bring her back. Don't linger or delay." (Seite 135) Ich stand auf und rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite, um entschlossener zu wirken. (Seite 128) – Und so stand ich auf und rückte meinen Stuhl ein wenig zur Seite. (Seite 134) Jaime sieht zunächst in der Herren-, dann in der Behindertentoilette nach. Dort sind Mrs Manoia und De la Garza nicht. In der Damentoilette gibt er sich als jemand vom Sicherheitsdienst aus, inspiziert den Waschraum und späht danach unter den Türen hindurch in die acht besetzten Kabinen. Ich warf einen Rundblick unter die amputierten Türen, zwei faltige Hosen und sechs Röcke oder eher nicht – die Röcke dürften hochgeschoben sein und waren nicht zu sehen –, vielmehr sechs Beinpaare mit heruntergelassenen Strümpfen und Slips (ein Tanga war darunter, und eine der Frauen trug keine Strümpfe, das war seltsam in England selbst im Sommer, bestimmt eine Ausländerin [...] Flavias Beine schienen sich nicht unter den sechzehn zu befinden, die jünger waren, fast alle Füße sehr gut beschuht – das fand meine Anerkennung: sie waren festlich –, mir fielen die eleganten Stöckelschuhe der Frau auf, die keine Strümpfe trug oder sie vor dem Hinsetzen ausgezogen hatte, ebenso den Slip – nichts hing um ihre Knöchel [...] (Seite 140ff)
Da fällt ihm ein, wie er einmal bei Mrs Berry einen winzigen Bluttropfen auf der Treppe entdeckte und überlegte, ob es sich um Menstruationsblut handeln konnte, vielleicht von einer Frau, die keine Unterwäsche trug. Zwei Tage später rief er Luisa in Madrid an und fragte sie, ob das "technisch und physiologisch" möglich sei. Sie befanden sich mitten auf der raschen Tanzfläche und tanzten wie Besessene, ein jeder, als riefe er nach einem Exorzisten [...] (Seite 202)
Während "Mr Reresby" Flavia Manoia zur Damentoilette begleitet, damit sie sich frisch machen und eine kleine Schramme im Gesicht überschminken kann, beauftragt er Jaime, mit De la Garza in der Behindertentoilette auf ihn zu warten. Javier Marías: Dein Gesicht morgen. 3 Gift und Schatten und AbschiedAls Jaime Deza von seinem Einsatz für den MI6 in London nach Madrid zurückkehrt, wird er sich bewusst, dass niemand vor Gewalt und Verrat gefeit ist. |
Buchbesprechung:
Während Javier Marías sich im ersten Band seines Romans "Dein Gesicht morgen" damit beschäftigt, was aus den verbalen Äußerungen einer Person gefolgert werden kann, dreht sich der zweite Band um die Unwägbarkeiten, die mit der Erfüllung einer Bitte oder eines Auftrags verbunden sind. Immer geht es um die Unergründlichkeit der menschlichen Psyche. Diese Geschichte, die meinem Vater [Julián Marías] passierte, vielmehr dem Vater des Erzählers im Roman, bildet einen der zentralen Punkte im Buch. Wie ist es möglich, dass einem nahe stehende Personen, Freunde, Ehefrauen, eine Frau, plötzlich wie unbekannt vorkommen, dass wir ihr Gesicht von morgen nicht kennen, wie es der Titel metaphorisch ausspricht. Mein Vater konnte im wirklichen Leben nicht voraussehen, dass ihn sein lange Jahre bester Freund verraten würde, bei der franquistischen Polizei anzeigen würde, am Ende des Bürgerkriegs. Der falsche Freund hat mit ihm Schluss gemacht. Mein Vater hätte erschossen werden können. Das war der Krieg. (Javier Marías) Inhalt und Handlung spielen in "Dein Gesicht morgen" nur eine unwesentliche Rolle. Entscheidend ist die Form. Da experimentiert Javier Marías mit einer extremen Dilatation der Zeit: Zwanzig Seiten lang bedroht Jaime Dezas Chef den spanischen Attaché Rafita de la Garza mit einem Schwert ("Tanz und Traum", S. 281 – 300), und die gesamte, sich innerhalb weniger Minuten abspielende Szene in der Behindertentoilette dehnt sich sogar auf hundert Seiten (S. 266 – 365). An action interessierte Leser werden sich dabei langweilen. Wer jedoch ein Gefühl für die Sprache hat, erlebt die elegante Wortkunst von Javier Marías wie ein Musikstück, mit Themen, Wiederholungen, Variationen, Drehungen und Verschiebungen, weit ausgreifenden Figuren und Miniaturen. Javier Marías ist ein Klangvirtuose. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 / 2009
Javier Marías (Kurzbiografie) |