Carson McCullers: Die Ballade vom traurigen Cafe (Novelle) |
Carson McCullers: Die Ballade vom traurigen Cafe |
Inhaltsangabe: Das Haus sieht völlig verlassen aus. Im ersten Stock ist jedoch ein Fenster nicht mit Brettern vernagelt, und manchmal in den späten Nachmittagsstunden, wenn die Hitze am schlimmsten ist, kommt es vor, dass eine Hand langsam die Läden öffnet und ein Gesicht auf die Stadt niederblickt. Es ist ein Gesicht, wie es einem in Träumen begegnet, von schrecklicher Unbestimmtheit, bleich und geschlechtslos, mit grauen, schielenden Augen, die beide so stechend einwärts gerichtet sind, als tauschten sie untereinander einen langen Blick verschwiegenen Grams aus. Das Haus gehört Miss Amelia Evans. Sie hat es von ihrem Vater geerbt. Früher war unten ein Laden, in dem sie Futtermittel, Guano, Maismehl, Schnupftabak u.a. verkaufte. Außerdem schenkte sie illegal Schnaps aus, den sie im Sumpf, drei Meilen entfernt, selbst brannte. Obwohl sie reich war – denn sie besaß auch noch eine Baumwollplantage – nutzte sie jede Gelegenheit, andere zu übervorteilen. Und ständig strengte sie irgendwelche Gerichtsverfahren gegen andere Bürger der Stadt an. Kranke behandelte sie allerdings kostenlos mit Heilmitteln, die sie selbst braute und an sich selbst ausprobierte. Aus Männern machte Miss Amelia sich nichts. An Werktagen trug sie einen Overall, am Sonntag ein dunkelrotes Kleid, "das merkwürdig komisch an ihr herunterhing". Sie war 1,85 m groß und androgyn. Sie war eine dunkle, hochgewachsene Frau und hatte Muskeln und Knochen wie ein Mann. Im Frühling des Jahres, in dem sie 30 wurde, tauchte plötzlich ein buckliger Zwerg auf, den manche auf 12, andere auf 40 schätzten. Er behauptete, Lymon Willis zu heißen und mit Miss Amelia verwandt zu sein: "Meine Mutter war Fanny Jesup, und sie stammte aus Cheehaw. Vor dreißig Jahren, als sie zum ersten Mal geheiratet hat, ist sie aus Cheehaw weggezogen. Ich kann mich noch erinnern, wie sie oft erzählt hat, sie hätte eine Stiefschwester namens Martha. Und in Cheehaw ist mir heute gesagt worden, die Martha wäre Ihre Mutter gewesen. Fanny und Marthy Jesup waren also Stiefschwestern. Und ich bin der Sohn von Fannys drittem Mann, und Sie und ich ... wären ... also ..."
Zur Verblüffung der Umstehenden holte ihn Amelia ins Haus und gab ihm zu essen. Als der Fremde am anderen Morgen das Haus immer noch nicht verlassen hatte, befürchteten die Nachbarn, Miss Amelia habe ihn umgebracht. Merlie Ryan setzte das Gerücht in die Welt: "Ich weiß, was Miss Amelia getan hat. Sie hat den Fremden umgebracht, weil er etwas in seinem Koffer hatte." Schon als junger Bursche hatte er jahrelang das getrocknete und eingepökelte Ohr eines Mannes mit sich herumgetragen, den er im Messerkampf umgebracht hatte.
Marvin Macy wurde Webstuhlmechaniker. Trotz seines bösartigen Charakters fielen immer wieder Mädchen auf den 1,82 m großen, stattlichen Mann herein und wurden von ihm geschändet. Als er 22 war, entschied er sich für die drei Jahre jüngere Amelia, deren Vater seit vielen Monaten tot war. Zwei Jahre lang liebte er sie, ohne sich zu erklären. In dieser Zeit besserte er sich und besuchte sogar den Gottesdienst. Eines Abends brachte er Amelia einen Strauß Sumpfblumen, einen Sack Gekröse, einen silbernen Ring – und hielt um ihre Hand an. Ohne lang zu überlegen, willigte sie ein. Die Liebe ist erstens einmal ein gemeinsames Erlebnis zweier Menschen; die Tatsache jedoch, dass es ein gemeinsames Erlebnis ist, bedeutet noch nicht, dass es für die beiden Beteiligten ein ähnliches Erlebnis ist. Es geht immer um den Liebenden und den Geliebten – doch stammen die beiden aus verschiedenen Landen. Oftmals löst der Geliebte nur all die aufgespeicherte Liebe aus, die bis dahin so lange im Liebenden geschlummert hat. Und irgendwie ahnt das auch jeder Liebende. Er fühlt es in seinem Herzen, dass seine Liebe ihn vereinsamt. Er erlebt eine neue, seltsame Einsamkeit, und er leidet unter dieser Erfahrung. Marvin Macy kam als Anhalter auf einem Lastwagen. Vor dem Café sprang er ab. Amelia war gerade nicht da, aber der Bucklige erspähte ihn und folgte ihm neugierig. Seit der Bucklige zum erstenmal Marvin Macy erblickt hatte, war er von einem unnatürlichen Geist besessen.
Macy nistete sich wieder bei Mary Hale ein. Wenn es Essen gab, stieß er ihre Kinder wortlos beiseite und häufte sich den Teller voll, obwohl es kaum für alle reichte. Sonntags zog er stets ein rotes Hemd an. Doch im gleichen Augenblick, gerade als der Sieg errungen war, ertönte im Café ein Schrei, der jedermann einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Was eigentlich geschah, ist bis auf den heutigen Tag ein Rätsel geblieben. Die ganze Stadt war anwesend und Zeuge, und doch waren einige darunter, die ihren eigenen Augen nicht trauen wollten. Denn die Theke, auf der Vetter Lymon gestanden hatte, war ja mindestens drei Meter von der Mitte des Cafés und von den Kämpfenden entfernt. Im Augenblick jedoch, als Miss Amelia ihre Finger um Marvin Macys Kehle legte, sprang der Bucklige los und segelte wie auf Habichtsflügeln durch die Luft. Er landete auf Miss Amelias breitem, starkem Rücken und verkrallte sich mit seinen kleinen Klauen in ihrem Hals.
Macy stand auf und schlug Amelia bewusstlos. Jemand goss ihr einen Eimer Wasser über den Kopf, damit sie wieder zu sich kam. Weinend zog sie sich in ihr Büro zurück. Marvin Macy und der Bucklige verwüsteten ihr Haus und verließen vor Tagesanbruch die Stadt. |
Buchkritik: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Simon Callow: Die Ballade vom traurigen Café |