Ian McEwan: Kindeswohl (Roman) |
Ian McEwan: Kindeswohl |
Inhaltsangabe:
Fiona Maye, eine 59-jährige Familienrichterin am High Court in London, arbeitet eines Abends im Spätsommer 2012 zu Hause am Text einer Urteilsbegründung. Die Zwillinge trennen hieß Matthew töten. Sie nicht zu trennen würde durch Unterlassung beide töten. Die Eltern, fromme Katholiken aus einem Dorf an der Nordküste Jamaikas und fest im Glauben verwurzelt, verweigerten jedoch ihre Zustimmung. Sie wollten nicht, dass Gott ins Handwerk gepfuscht werde und hielten den von den Chirurgen angestrebten Eingriff für Mord. Fiona entschied zugunsten der Ärzte: [...] den Ärzten musste erlaubt sein, Mark zu helfen und die tödliche Bedrohung abzuwehren. Matthew würde nach der Trennung nicht deshalb zu leben aufhören, weil er vorsätzlich ermordet wurde, sondern weil er von allein nicht lebensfähig war.
Die Operation verlief erfolgreich: Matthew wäre so oder so gestorben, aber Mark lebt.
Bei den Charedim, die seit Jahrhunderten an ihren Traditionen festhielten, hatten Frauen Kinder zu erziehen, je mehr, desto besser, und sich um den Haushalt zu kümmern. Ein Universitätsabschluss und ein Beruf waren höchst ungewöhnlich. Fiona entschied zugunsten der Mutter. Während sie mit der Urteilsbegründung beschäftigt ist, wird sie von ihrem ein Jahr älteren Ehemann Jack überrascht. der ihr eine Affäre mit der 28-jährigen Statistikerin Melanie ankündigt.
"Was willst du, Jack?" Bisher habe er sich nur mit Melanie zum Lunch verabredet, sagt Jack, denn er wolle nicht hinter Fionas Rücken mit einer anderen Frau intim werden. Aber er brauche vor seinem Tod noch ein exzessives sexuelles Erlebnis, erklärt der Professor für Geschichte, verweist auf sein Alter und darauf, dass er mit Fiona seit sieben Wochen und einen Tag keinen Geschlechtsverkehr mehr gehabt habe. "Hast du nicht selbst einmal gesagt, dass langverheiratete Paare immer mehr wie Geschwister miteinander leben? An diesem Punkt sind wir jetzt, Fiona. Ich bin dein Bruder geworden. Das ist schön und behaglich, und ich liebe dich, aber bevor ich tot umfalle, will ich noch eine große, leidenschaftliche Affäre haben." Fiona entgegnet: "Der richtige Augenblick, um eine offene Ehe vorzuschlagen, war vor der Hochzeit, nicht fünfunddreißig Jahre danach. Alles aufs Spiel zu setzen, nur damit er den flüchtigen Sinnenrausch noch einmal erleben konnte!"
Fiona droht mit der Trennung für den Fall, dass Jack seine Ankündigung wahr macht. Während sie durch ein dienstliches Telefongespräch mit ihrem juristischen Sekretär Nigel Pauling abgelenkt ist, verlässt Jack die Wohnung. Fiona sieht ihn durchs Fenster auf der Straße; er zieht einen Rollkoffer. Kinder haben sie keine. Zuerst hielten sie es aus beruflichen Gründen für vernünftig, bis Anfang 30 zu warten, und als sie dann die 40 überschritten hatten, überwogen die Bedenken wegen der gesundheitlichen Risiken einer Schwangerschaft in diesem Alter für Mutter und Kind.
"Ich sage dir, warum ich hier bin, Adam. Ich möchte mich vergewissern, dass du weißt, was du tust. Manche Leute denken, du wärst zu jung, um eine solche Entscheidung zu treffen, und du stündest unter dem Einfluss deiner Eltern und der Gemeindeältesten. Andere halten dich für ungewöhnlich klug und erwachsen und meinen, wir sollten dich einfach machen lassen. [...]
Adam beeindruckt Fiona sehr. Der intelligente und nachdenkliche Junge spielt ihr etwas auf der Geige vor, und am Ende singt sie dazu. Es handelt sich um die Vertonung des Gedichts "Drunten beim Weidengarten" von William Butler Yeats durch Benjamin Britten. Ja, sagte Jack, einmal in Melanies Wohnung angekommen, habe er sich stupiderweise verpflichtet gefühlt, mit dem, was er angefangen habe, weiterzumachen. "Und je mehr ich mich in der Falle fühlte, desto klarer wurde mir, was für ein Idiot ich war, alles aufs Spiel zu setzen, alles, was wir haben, alles, was wir miteinander geschaffen haben, diese Liebe, die –" Als einzige Versöhnungsgeste überlässt Fiona ihm einen der neuen Schlüssel. [...] was Jacks Rückkehr in ihr auslöste. Ganz einfach. Es war Enttäuschung darüber, dass er nicht weggeblieben war. Nur noch ein kleines bisschen länger. Nichts als das. Enttäuschung. Bei der Sozialarbeiterin Marina Greene erkundigt Fiona sich einige Wochen später nach Adam Henry und erfährt, dass er sich gut erholt habe, dabei sei, zu Hause den versäumten Unterrichtsstoff nachzuholen und in Kürze wieder in die Schule gehen werde. In einem Brief, den er der Richterin schreibt, heißt es: Ich glaube, ich war eine Zeitlang bewusstlos, und als ich aufwachte, saßen sie beide [die Eltern] an meinem Bett – und beide weinten, und ich wurde noch trauriger, weil wir alle gegen Gottes Gebote verstießen. Aber jetzt kommt das Wichtige: Bald erkannte ich, dass sie vor FREUDE weinten! Sie waren so glücklich, umarmten mich, umarmten einander und lobten schluchzend den Herrn. Das war mir unheimlich, und ich bin erst nach ein, zwei Tagen daraus schlau geworden. Zuerst habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Dann aber doch. Ein Omelett machen, ohne Eier zu zerschlagen! Früher habe ich diese Redensart nie verstanden. Jetzt schon. Man hat die ganzen Eier immer noch in der Hand, obwohl ein fertiges Omelett auf dem Tisch steht. Meine Eltern haben sich an die Lehre gehalten und den Ältesten gehorcht und alles richtig gemacht und können damit rechnen, ins Paradies auf Erden einzugehen – und gleichzeitig blieb ich am Leben [...] Schuld hat die Richterin, Schuld hat das gottlose System, Schuld hat das, was wir manchmal die 'Welt' nennen. Was für eine Erleichterung!"
Fiona beschließt, nicht auf den Brief zu antworten. Im September hat sie für einige Zeit außerhalb von London zu tun, zuerst in Newcastle. Ihr Kollege, der Strafrechtler Caradoc Ball, ist dort mit der Wiederaufnahme eines Mordprozesses beschäftigt. Laut Anklage wurde eine Frau von ihrem Sohn zu Tode geprügelt, weil sie ihr jüngstes Kind, die Halbschwester des Beschuldigten, misshandelt hatte. Fiona sitzt zuerst über einen Fall zu Gericht, der sich um einen zweijährigen Jungen und ein vierjähriges Mädchen dreht. Die Mutter, eine amphetaminsüchtige Alkoholkranke mit psychotischen Anfällen, sträubt sich gegen eine Entscheidung des Jugendamtes, die Kinder in Pflege zu geben. Der mehrmals vorbestrafte, von der Mutter getrennt lebende Vater, der ebenfalls drogenabhängig ist, mag auch nicht auf seine Rechte verzichten. Die Großeltern mütterlicherseits, die gern bereit wären, sich der Kinder anzunehmen, können allerdings keine Rechte geltend machen. Fiona spricht den Großeltern das Sorgerecht zu und entscheidet, dass die Eltern die Kinder regelmäßig unter Aufsicht besuchen dürfen.
"[...] aber diesmal war es wirklich schlimm, wir haben uns angebrüllt, und ich hab ihm an den Kopf geworfen, was ich von seiner blöden Religion halte. Nicht dass er zugehört hätte. Dann hab ich ihn stehenlassen. Bin in mein Zimmer, hab meine Sachen gepackt, mein erspartes Geld eingesteckt und mich von meiner Mum verabschiedet. Dann bin ich gegangen." Dann kommt er auf die Zeit im Krankenhaus zu sprechen:
"Wenn die Ärzte und Schwestern mich zu bequatschen versuchten und ich ihnen sagte, sie sollten mich in Ruhe lassen, kam ich mir immer ganz großartig und heldenhaft vor. Ich war rein und gut. Es gefiel mir, dass sie meine tiefschürfenden Gedanken nicht verstehen konnten. Ich war richtig abgehoben. Meine Eltern und die Ältesten waren so stolz auf mich, das fand ich toll. Nachts, wenn keiner da war, hab ich mein Abschiedsvideo geprobt, wie so ein Selbstmordattentäter. Das wollte ich mit meinem Handy aufnehmen. Es sollte in den Fernsehnachrichten und bei meiner Beerdigung gezeigt werden. Ich hab mich selbst zu Tränen gerührt." Ob er bei Fiona Maye und ihrem Mann wohnen könne, fragt er. Sie antwortet, das sei schon deshalb nicht möglich, weil es in ihrer Wohnung nur ein Gästezimmer gebe und das für die Besuche zahlreicher Neffen benötigt werde. Adam Henry meint, eine Schwester seiner Mutter in Birmingham sei bereit, ihn für ein oder zwei Wochen aufzunehmen. Fiona besteht darauf, dass Adam seine Mutter mit einer SMS beruhigt. Dann beauftragt sie Nigel Pauling, ein Taxi zu rufen, den Jungen zum Bahnhof zu bringen und ihm eine Fahrkarte nach Birmingham zu kaufen. Zum Abschied versucht sie, Adam flüchtig auf die Wange zu küssen, aber durch eine Kopfdrehung seinerseits treffen sich ihre Lippen. Sie hätte zurückweichen können, sie hätte auf der Stelle von ihm abrücken können. Stattdessen blieb sie, wo sie war, dem Augenblick schutzlos preisgegeben. Nachdem Fiona eine Woche lang in Newcastle und dann auch noch in Carlisle Recht gesprochen hat, kehrt sie nach London zurück. Es herrschte Tauwetter, aber das Eis schmolz weder schnell noch stetig. Zunächst einmal war es eine Erleichterung: Sie gingen sich in der Wohnung nicht mehr befangen aus dem Weg und stellten auch ihren kühlen, beklemmenden Höflichkeitswettstreit ein. Sie aßen gemeinsam, nahmen Einladungen bei Freunden an, sprachen miteinander – meist über die Arbeit. Aber er schlief noch immer im Gästezimmer, und als einmal ein neunzehnjähriger Neffe bei ihnen übernachtete, zog er wieder auf die Couch im Wohnzimmer um. Einige Wochen nach der Begegnung mit Adam Henry in Newcastle erhält Fiona von ihm ein Gedicht ohne Begleitbrief: "Die Ballade von Adam Henry". Die ersten Verse sind gut zu lesen. Sie enden mit den Zeilen:
Und Jesus stand auf dem Wasser, und dies sagt' er zu mir: Im folgenden Text hat Adam so viel herumgestrichen und geändert, dass Fiona nicht erkennt, ob er das Gedicht fertiggestellt hat oder nicht.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
In der Weihnachtszeit geben Fiona und der mit ihr befreundete Anwalt Mark Berner zum fünften Mal ein Konzert in der Great Hall: Berlioz, Mahler und Schubert stehen auf dem Programm. Mark Berner singt, und Fiona begleitet den Tenor am Flügel. Übrigens versuchte Jack, Fiona für Jazz zu begeistern. Allenfalls mit Keith Jarrett hatte er dabei etwas Erfolg. Fiona kann mit Improvisationen wenig anfangen und bevorzugt die strenger reglementierte klassische Musik. So soll er, der mein Kreuz ertränkt, mit eigner Hand sein Leben enden. Einige Zeit nach ihr kommt Jack nach Hause, und es dauert eine Weile, bis er merkt, dass sie nicht nur von der Musik aufgewühlt ist. Sie erzählt ihm vom dem Besuch bei dem jungen Krebspatienten im Krankenhaus, dem unerwarteten Wiedersehen in Newcastle und dem Kuss.
"Du hast ihn also geküsst, und er wollte mit dir leben. Was versuchst du mir gerade zu sagen?" Mit fester, ruhiger Stimme erzählt Fiona ihrem Mann die ganze Geschichte und von ihrem Anteil an seinem Tod. Adam hatte sich an sie gewandt, und sie hatte ihm nichts geboten, keinen Ersatz für seine Religion, keinen Schutz, dabei war das Gesetz eindeutig, sein Wohl hatte ihr als oberste Richtschnur zu dienen. |
Buchbesprechung:
Ian McEwan benützt zwar in "Kindeswohl" die dritte Person Singular, erzählt jedoch aus der subjektiven Perspektive der Protagonistin (auch wenn er an manchen Stellen die Sichtweise eines auktorialen Erzählers einnimmt). Fiona Mayes bis auf musikalische Ambitionen und eine bizarre Ehekrise kaum vorhandenes Privatleben ist wie eine Rahmenhandlung mit der Berufstätigkeit der Richterin verflochten, wobei Ian McEwan das Schwergewicht auf die juristischen Probleme legt, mit denen sie konfrontiert wird. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Ian McEwan: Der Zementgarten |