Alice Munro: Tricks. Acht Erzählungen |
Kritik: Das Leben der Protagonistin Juliet wird von Alice Munro in "Tricks" eindringlich, aber nicht drastisch vorgetragen. So wie die Autorin das Verhalten der jungen Frau schildert, ist nachvollziehbar, welche schmerzlichen Erfahrungen sie zu verarbeiten hat. ![]() |
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Alice Munro: Tricks. |
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Inhalt: Ausreißer – Entscheidung – Bald – Schweigen – Leidenschaft – Verfehlungen – Tricks – Kräfte – Von den acht Erzählungen aus dem Buch "Tricks", handeln die Kapitel "Entscheidung", "Bald" und "Schweigen" von derselben Protagonistin: Juliet. Von Geschichte zu Geschichte werden die schicksalhaften Ereignisse tragischer, die die junge Frau zu verkraften hat. ![]() |
Originalausgabe: Runaway |
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Alice Munro: Tricks. Acht Erzählungen |
EntscheidungDie einundzwanzigjährige Altphilologie-Studentin Juliet arbeitet gerade an ihrer Dissertation. Sie fährt mit der Bahn nach Vancouver, um an einer privaten Mädchenschule Latein zu unterrichten. Ein Mann setzt sich zu ihr ins Abteil und drängt ihr ein Gespräch auf. Obwohl sie merkt, dass er nicht mit ihr flirten will – er hatte nur den Wunsch geäußert, sich während der langen Fahrt mit ihr "irgendwie zusammentun" zu wollen – ist sie verärgert und zieht sich in den Aussichtswagen zurück. An einem kleinen Bahnhof hält der Zug; einige Leute steigen aus und vertreten sich die Beine. Die Aufforderung des Schaffners, wieder an die Plätze zurückzukehren, wird befolgt und die Fahrt geht weiter. Gleich darauf stoppt der Zug abrupt, weil, wie sich herausstellt, jemand auf den Gleisen überfahren wurde. Sie erfährt, dass es jener Mann war, den sie gerade abblitzen ließ. Es ergibt sich, dass Juliet durch ihre Nachfrage mit einem anderen Fahrgast ins Gespräch kommt, und dieser Mann lädt sie in den Speisewagen ein. Eric Porteous ist Mitte dreißig, hatte ein paar Semester Medizin studiert, verdient seinen Lebensunterhalt aber nun als Krabbenfischer. Er ist verheiratet; seine Frau Ann hatte vor acht Jahren einen Autounfall und ist seither gelähmt, kann nicht nicht mehr sprechen und versteht nicht, was um sie herum vorgeht. Mit Hilfe einer Nachbarin – sie heißt Ailo –, die ihm bei der Pflege zur Hand geht, versorgt er Ann bei sich zu Hause. Vom Aussichtswagen aus betrachten sie die Sterne, deren Namen und Konstellationen Eric ihr erklärt, wohingegen sie zu den griechischen Namen der Sternbilder die entsprechenden mythologischen Geschichten erzählen kann. Sie gehen zu ihren Schlafwagenbetten und verabschieden sich. [...] sie suchten das Gleichgewicht auf dem ruckelnden Boden, damit er sie gründlich küssen konnte. Als das fertig war, ließ er sie nicht los, sondern hielt sie in den Armen, strich ihr über den Rücken und küsste sie über das ganze Gesicht. (Seite 93)
Nach einem halben Jahr fährt Juliet nach Whale Bay, um Eric zu besuchen. In seinem Haus trifft sie lediglich auf Ailo, die damit beschäftigt ist, Geschirr zu spülen und das Haus aufzuräumen. Am Tag vorher war nämlich die Beerdigung von Ann. Eric ist nicht da; er ist zu seiner Freundin Christa gefahren. Die mürrische Ailo stellt es Juliet frei, allein im Haus zu übernachten, weil es wohl umständlich wäre, mit dem Bus zurückzufahren. Es ist wie der Augenblick in der Schule, bevor der Gewinner des jährlichen Leistungspreises verkündet wird. Nur schlimmer, weil sie keinen Grund zu Hoffnung hat. Und weil es in ihrem Leben nie wieder eine so weitreichende Entscheidung geben wird. (Seite 99) "Du bist da", sagt er, lacht und breitet seine Arme aus. Sie hört seiner Stimme an, dass er sie für sich fordert.[...] Er geht auf sie zu, und sie fühlt sich, als fiele jemand von Kopf bis Fuß über sie her, von Erleichterung überflutet, vom Glück bestürmt. Wie erstaunlich das ist. Wie nah am Erschrecken. (Seite 100) Bald
Juliet hat inzwischen eine dreizehn Monate alte Tochter: Penelope. Der Vater ist Eric, in dessen Haus in Whale Bay sie lebt. Sie möchte ihren Eltern, die in der Nähe von Vancouver wohnen, ihr Enkelkind zeigen und außerdem zu Hause nachsehen, wie es den beiden geht. Sam, ihr Vater, war fast dreißig Jahre Lehrer, hatte aber zuletzt den Eindruck, bei Beförderungen übergangen worden zu sein und quittierte den Schuldienst. Er findet nun Freude daran, Gemüse auf dem eigenen Grundstück anzubauen, sein Obst zu ernten und zu verkaufen. Damit verdient er den Lebensunterhalt. Sara, seine Frau, ist seit Jahren kränklich und lässt sich auch etwas gehen, sodass sie eine Hilfe für den Haushalt und das Geschäft eingestellt haben: Irene Avery, "die gute Fee". Sie ist drei Jahre jünger als Juliet, zweiundzwanzig, verhärmt und zurückhaltend. Ihr Mann kam vor einem Jahr bei einem Unfall ums Leben, und sie muss ihre zwei kleinen Kinder, die bei ihrer Mutter untergebracht sind, allein durchbringen. Jetzt hat sie einen wesentlich älteren Witwer kennen gelernt, den sie wohl heiraten wird. Das bekümmert Sam, denn er schätzt Irenes Arbeit und ihre Unterstützung sehr. Zu sehr, wie Juliet findet. Ihres Erachtens verhält er sich zu vertraut seiner Bediensteten gegenüber und seine Bemerkung "sie hat mir meinen Glauben an die Frauen zurückgegeben" kommt ihr bedenklich vor.
Nicht in Whale Bay bei Eric, sondern wieder da, wo sie früher zu Hause gewesen war, ihr früheres Leben lang. Nach dem hitzigen Gespräch mit dem Geistlichen damals hatte ihr Sara etwas anvertraut. Daran muss Juliet jetzt denken: "Mein Glaube ist nicht so einfach", sagte Sara. [...] Er ist ein ... wundervolles ... Etwas. Wenn es wirklich schlimm für mich wird ... wenn es so schlimm wird, dass ich ... weißt du, was ich dann denke? Ich denke, gut. Ich denke ... Bald. Bald werde ich Juliet sehen." (Seite 141) Darauf wusste Juliet keine Antwort.
Warum war ihr das so schwer gefallen? Einfach Ja zu sagen. Sara hätte es sehr viel bedeutet – und sie selbst hätte es sehr wenig gekostet. (Seite 143) Schweigen
In der Beziehung des Paares Juliet und Eric kriselt es. Juliet will einige Dinge geklärt haben. Christa ist seit langer Zeit Juliets beste Freundin. Dass sie früher Erics Freundin und Geliebte war, nimmt sie Eric nicht übel – zumal er sich ja von Christa trennte, als er mit Juliet zusammenzog – nur verdächtigt sie ihn jetzt, dass er während ihrer Reise zur Beerdigung ihrer Mutter vor zwölf Jahren wieder etwas mit Christa hatte. Auf ihre Vorhaltungen gesteht Eric, dass es in betrunkenem Zustand passierte; und jetzt, wiederum bei erhöhtem Alkoholpegel gibt er zu, dass es "wahrscheinlich öfter passiert war". Juliet blieb mit weit aufgerissenen Augen hocken und streckte das Gesicht der Hitze entgegen [...] Es war nur Fleisch, das da brannte. Nichts, was mit Eric verbunden war. (Seite 163)
In dem Feriencamp, in dem Penelope sich aufhält, erfährt sie nichts vom Tod ihres Vaters. Als sie wieder in Vancouver ist, ruft sie vom Telefon ihrer Schulkameradin Heather zu Hause an. Christa ist bei Juliet in Whale Bay und bringt ihre Freundin zu Penelope. Diese nimmt die Nachricht zwar zuerst "mit allen Anzeichen des Entsetzens" auf, dann aber "eher mit Verlegenheit". Von der Leichenverbrennung erzählt Juliet nichts.
So dachte sie die ganze Zeit an Eric. Nicht, dass ihr nicht bewusst gewesen wäre, dass Eric tot war – das geschah keinen Augenblick. Trotzdem bezog sie sich im Geiste ständig auf ihn, als sei er immer noch der Mensch, für den ihr Leben wichtiger war, als es für irgend jemand anders sein konnte. [...]
Juliet bekommt eine Anstellung in einer Bibliothek und findet eine neue Wohnung. Penelope geht als Externe in die Schule zurück. Das also ist Trauer. Sie fühlt sich, als sei ein Sack Zement in sie hineingekippt worden, der rasch zu Beton aushärtet. [...] Und jetzt muss sie das vor Penelope verbergen. (Seite 168)
Beim Abendessen fängt sie zu zittern an. Und Penelope begreift die Situation: "Es ist Dad, nicht wahr?" Sie streichelt sie und kümmert sich mehrere Tage um sie. So kann ihr Juliet auch endlich alles über den Verlauf der letzten Tage in Whale Bay gestehen (einschließlich der Leichenverbrennung am Strand). Wenn ich sie in die Sonntagsschule gesteckt hätte und ihr beigebracht hätte, ihre Gebete zu sprechen, wäre das wahrscheinlich nicht passiert. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte es tun sollen: Es wäre wie eine Schutzimpfung gewesen. Ich habe ihre Spiritualität vernachlässigt. Behauptet die Hexe Shipton. (Seite 157)
Erst wieder im Juni, so wie im letzten Jahr, kommt erneut eine ähnliche Karte, auch diesmal ohne ein geschriebenes Wort. Alles was an Penelope erinnert, verbannt sie in deren Zimmer und hält die Tür verschlossen. Penelope war kein Phantom, sie war in Sicherheit, so weit man nur in Sicherheit sein konnte, und sie war vermutlich so glücklich, wie man nur sein konnte. Sie hatte sich von Juliet gelöst und höchstwahrscheinlich auch von ihren Erinnerungen an Juliet, und Juliet konnte nichts Besseres tun, als sich ihrerseits lösen. (Seite 179) Nach der Begegnung mit Heather erzählt Juliet Gary jetzt zum ersten Mal von Penelope. Und Juliet überlegt, ob die Neuigkeiten, die sie gerade erfahren hat, es einfacher machen würden, mit Gary eine feste Bindung einzugehen. Die Existenz von Penelope würde sie aus ihrer Beziehung ausblenden. Denn: Die Frau, die Heather in Edmonton getroffen hatte, [...] deren Gesicht und Körper sich so verändert hatten, dass Heather sie nicht erkannte, war niemand, den Juliet kannte. Glaubte Juliet das? (Seite 180)
An diesem Abend wird Juliet und Gary jedoch bewusst, dass sie nicht zusammenleben werden.
Könnten diese Worte nicht einfach das bedeuten, was sie sagen? Penelope hat keine Verwendung für mich. |
Buchbesprechung:
Die Kapitel "Entscheidung", "Bald" und "Schweigen" handeln von derselben Protagonistin: Juliet. Von Geschichte zu Geschichte werden die schicksalhaften Ereignisse tragischer,
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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2006
Pedro Almodóvar: Julieta |