Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften (Roman) |
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften |
Inhaltsangabe:HandlungDie Handlung des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften" beginnt im August 1913 und spielt in Wien, der Hauptstadt der k. u. k. Doppelmonarchie, die hier Kakanien genannt wird. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. In dem Vielvölkerstaat Kakanien gibt es kein einheitliches Staatsvolk. Die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich passten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war.
Der Protagonist und die Dame in seiner Begleitung geraten gleich zu Beginn des Romans in eine Ansammlung von Passanten, die um einen am Boden liegenden Mann herumsteht, der von einem Lastwagen erfasst wurde. Er [...] unterschied nur drei Arten von Menschen: Offiziere, Frauen und Zivilisten; letztere eine körperlich unterentwickelte, geistig verächtliche Klasse, der von den Offizieren die Frauen und Töchter abgejagt wurden.
Als 20-jähriger Leutnant verliebte er sich in die deutlich ältere Ehefrau eines Majors, aber die Affäre dauerte nicht lang.
Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren.
Nachdem Graf Leinsdorf einige Zeit vergeblich auf Ulrich gewartet hat, der ihm angekündigt worden war, ersucht er den Polizeipräsidenten, nach ihm zu fahnden. Die große patriotische Aktion, erklärte sie, müsse ein großes Ziel finden, das, wie Se. Erlaucht gesagt habe, aus der Mitte des Volks aufsteigt. "Wir, die heute zum ersten Mal Versammelten, fühlen uns nicht berufen, dieses Ziel schon festzusetzen, sondern wir sind vorerst nur zusammengetreten, damit wir eine Organisation schaffen, welche die Bildung von Vorschlägen, die zu diesem Ziel führen, in die Wege leiten soll."
Sie scheitert mit ihrem Vorhaben, Dr. Paul Arnheim zum Vorsitzenden zu machen, denn die anderen Teilnehmer wollen keinen Preußen an der Spitze ihrer Aktion. Man kann mit dem Verstand allein weder moralisch sein, noch Politik machen. Der Verstand reicht nicht aus, die entscheidenden Dinge vollziehen sich über ihn hinweg. Menschen, die Großes erreichten, haben immer die Musik, das Gedicht, die Form, Zucht, Religion und Ritterlichkeit geliebt.
In Wien wohnt der Deutsche mit seinem 16-jährigen afrikanischen Diener Soliman in einem der exklusiven Hotels. Weder Diotima noch Arnheim hatten geliebt. Von Diotima weiß man es, aber auch der große Finanzmann besaß eine in erweitertem Sinn keusche Seele. Er hatte immer Angst gehabt, dass die Gefühle, die er in Frauen erregte, nicht ihm, sondern seinem Geld gelten könnten, und lebte deshalb nur mit Frauen, denen auch er nicht Gefühle, sondern Geld gab. Er hatte niemals einen Freund besessen, weil er sich fürchtete, missbraucht zu werden, sondern nur Geschäftsfreunde, auch wenn der geschäftliche Austausch ein geistiger war.
Arnheim überlegt, ob er Hans Tuzzi um die Scheidung bitten und Diotima heiraten soll. Aber er befürchtet, sich lächerlich zu machen. Und um seine Geschäfte zu fördern, müsste er einer reichen amerikanischen Witwe oder einer dem Hof nahestehenden Adeligen den Hof machen, nicht der Frau eines bürgerlichen Beamten. "Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!" Ulrich gehört zu den Freunden der Familie Fischel. Leo Fischel lässt sich als "Direktor" titulieren, ist aber eigentlich nur Prokurist der Lloyd-Bank. Als er vor 24 Jahren Klementine heiratete, deren Vater Präsident des Obersten Rechnungshofes war, brauchte er noch keine antisemitischen Anfeindungen zu befürchten. Inzwischen änderte sich das, und darunter hat auch seine Ehe gelitten. Die 23-jährige Tochter Gerda ist mit Hans Sepp befreundet, der in christgermanischen Kreisen verkehrt. Sie waren keine Rasseantisemiten, sondern Gegner der "jüdischen Gesinnung", worunter sie Kapitalismus und Sozialismus, Wissenschaft, Vernunft, Elternmacht und -anmaßung, Rechnen, Psychologie und Skepsis verstanden. Gerda liebt Hans Sepp nicht besonders, sie hängt eher aus Opposition gegen ihre Eltern an ihm. Nicht von ihm, sondern von Ulrich will sie sich deflorieren lassen. Widerstrebend lässt dieser sich darauf ein, aber der Versuch scheitert. Seine Lage erinnerte ihn mit einem Mal durch einen unklaren Zusammenhang an seinen nächtlichen Kampf mit den Strolchen, und er wollte diesmal schneller sein, aber im gleichen Augenblick begann etwas Entsetzliches. Gerda hatte alles, was sie überhaupt in sich erreichen konnte, zu Willen gemacht und dazu verwendet, die schmähliche Angst niederzuhalten, die sie litt; es war ihr zumute, als sollte sie hingerichtet werden, und in dem Augenblick, wo sie Ulrich in ungewohnter Nacktheit neben sich spürte und von seinen Händen berührt wurde, schleuderte ihr Körper allen ihren Willen von sich. Irgendwo tief in ihrer Brust fühlte sie noch immer unsagbare Freundschaft, einen zitternd zarten Wunsch, Ulrich zu umarmen, sein Haar zu küssen, seiner Stimme mit ihren Lippen zu folgen, und hatte die Vorstellung, wenn sie sein wahres Wesen berühre, werde sie daran zergehen wie ein wenig Schnee in einer warmen Hand; aber das war ein Ulrich, der, wie gewöhnlich gekleidet, sich in den bekannten Räumen ihres Elternhauses bewegte, und nicht dieser nackte Mann, dessen Feindseligkeit sie erriet und der ihr Opfer nicht ernst nahm, obgleich er ihr keine Besinnung ließ. Und auf einmal bemerkte Gerda, dass sie schrie. [...] Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. Sie hatte die Hände an die Brüste gezogen und bedrohte Ulrich mit den Nägeln, während sie ihre langen Schenkel krampfhaft zupresste. Diese Empörung ihres Körpers gegen sie selbst war schrecklich.
Am selben Tag kommt die zunehmend geistesgestörte Clarisse, die den wahnsinnigen Lustmörder Christian Moosbrugger bewundert, zu Ulrich und möchte ein Kind von ihm.
"Er ist ein Mann ohne Eigenschaften!"
Clarisse lernte Walter vor sieben Jahren kennen, als sie mit ihrer Freundin Marion in der Sommerfrische in der Schweiz war. Sie spielten vierhändig Klavier, aber Clarisse ließ sich nicht von ihm anfassen und hat sich ihm dann auch in der Ehe verweigert. In Lucy mischte sich selbstverständlich die Freundschaft für mich mit dem Gefühl, dass sie den Mann zum Geliebten hatte, zu dem ich noch gehorsam Papa sagen musste. Sie bildete sich nicht wenig darauf ein, aber schämte sich auch heftig vor mir. Nachdem Lucy mit ihrem Vater nach Spanien gereist war, schlich van Helmond sich nachts ins Zimmer seiner Tochter. Er legte sich zu ihr, streichelte sie mit einer Hand im Gesicht, während die andere über ihre Brüste und dann weiter nach unten wanderte. Er kam bis zu einem Muttermal in ihrer Leiste, das sie als "Auge des Teufels" bezeichnet, dann entwand sie sich ihm und drehte sich zur Seite. Er hat sich augenblicklich aufgerichtet. [...] er hat mir ganz zart die Hand gedrückt und mit der anderen zweimal über den Kopf gestreichelt, dann ist er fortgegangen, ohne etwas zu sagen.
Walter möchte Clarisse durch ein Kind an sich binden. Aber sie macht sich nichts mehr aus seiner Liebe und will nicht durch ein Kind von ihm beherrscht werden. Stattdessen möchte sie "den Erlöser der Welt" von Ulrich empfangen. Der denkt jedoch an sein Erlebnis mit Gerda und sagt: "Ich will nicht, Clarisse!"
"Ich habe nicht gewusst, dass wir Zwillinge sind!", sagte Agathe, und ihr Gesicht leuchtete erheitert auf. Agathe glaubt sich in Ulrich wie in den Scherben eines Spiegels zu sehen. Ulrich findet, dass seine hagere Schwester "etwas Hermaphroditisches" habe. Weder er noch sie ist über den Tod des Vaters erschüttert. Agathe vertraut ihrem Bruder an, dass sie nicht mehr zu ihrem Ehemann zurückkehren werde und sich scheiden lassen wolle.
Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis missachtete, das sich das Nest vom Mann liefern lässt.
Nach der Beerdigung des Vaters fährt Ulrich nach Wien zurück. Agathe folgt ihm, wie vereinbart, ein paar Tage später und zieht zu ihm, erst einmal nur für die Dauer des Scheidungsverfahrens. Obwohl sie bisher kaum Kontakt hatten, kommen sie sich jetzt beinahe inzestuös nah. Ulrich, der immer allein gelebt hat, begreift, dass er seinen "Urlaub vom Leben" beenden und sein Leben neu ordnen muss. Weil er ohnehin annimmt, dass die Parallelaktion scheitern werde und auch dieser Versuch, seinem Leben einen Sinn zu geben, fehlgeschlagen sei, beabsichtigt er, das Ehrenamt des Sekretärs der Parallelaktion niederzulegen. Er geht davon aus, dass es im Leben darauf ankomme, sich der allgemeinen Lösung wie in der Mathematik durch die Kombination von Einzellösungen zu nähern. Zustand der GesellschaftBetrachtungen der Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs widmet Robert Musil in dem Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" großen Raum. Die großbürgerliche wandelt sich zur Massengesellschaft. Der Geist hat sich der Bevormundung durch die Kirche entzogen. Die Aufklärung löste den Mythos bzw. den christlichen Glauben durch den Logos ab. Von Vernunft und Rationalität verspricht man sich nun Sinnstiftung. Aber ein einheitliches Weltbild ist in dieser vom Individualismus geprägten Zeit ohne Ideale und Leitfiguren nicht mehr möglich.
Vielleicht ist es gerade der Spießbürger, der den Beginn eines ungeheuren neuen, kollektiven, ameisenhaften Heldentums vorausahnt? Man wird es rationalisiertes Heldentum nennen und sehr schön finden. Ulrich zweifelt an mechanischen Erklärungsversuchen, in denen Gemütsbewegungen auf innere Ausscheidungen zurückgeführt werden: Kann man sich zum Beispiel vorstellen, dass der Mensch noch eine Seele haben wird, sobald er sie biologisch und psychologisch völlig zu begreifen und behandeln gelernt hat? Trotzdem streben wir diesen Zustand an! Das ist es. Das Wissen ist ein Verhalten, eine Leidenschaft. Im Grunde ein unerlaubtes Verhalten; denn wie die Trunksucht, die Geschlechtssucht und die Gewaltsucht, so bildet auch der Zwang, wissen zu müssen, einen Charakter aus, der nicht im Gleichgewicht ist. Ulrich wird einmal von Hans Tuzzi gefragt, was damit gemeint sei, dass jemand Seele habe. "Wenn man sagt: 'eine Seele von einem Menschen', so meint man einen treuen, pflichtgeduldigen, aufrichtigen Kerl, – ich habe so einen Kanzleidirektor: aber da hat man es doch schließlich mit einer subalternen Eigenschaft zu tun! Oder es ist Seele eine Eigenschaft von Frauen: das ist dann ungefähr so viel wie dass sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden –" Als Seele, antwortet Ulrich, werde etwas bezeichnet, das in der Gesellschaft verloren gegangen sei. Und er räsoniert über den Mangel an Kultur. Aber wenn Geist allein dasteht, als nacktes Hauptwort, kahl wie ein Gespenst, dem man ein Leintuch borgen möchte, – wie ist es dann? Man kann die Dichter lesen, die Philosophen studieren, Bilder kaufen und nächteweise Gespräche führen: aber ist es Geist, was man dabei gewinnt? Angenommen, man gewönne ihn: aber besitzt man ihn dann? Dieser Geist ist so fest verbunden mit der zufälligen Gestalt seines Auftretens! Er geht durch den Menschen, der ihn aufnehmen möchte, hindurch und lässt nur ein wenig Erschütterung zurück. Was fangen wir mit all dem Geist an? Er wird auf Massen von Papier, Stein, Leinwand in geradezu astronomischen Ausmaßen immer von neuem erzeugt, wird ebenso unablässig unter riesenhaftem Verbrauch von nervöser Energie aufgenommen und genossen: Aber was geschieht dann mit ihm? Verschwindet er wie ein Trugbild? Löst er sich in Partikel auf? Entzieht er sich dem irdischen Gesetz der Erhaltung? Die Staubteilchen, die in uns hinab sinken und langsam zur Ruhe kommen, stehen in keinem Verhältnis zu dem Aufwand. Paul Arnheim fügt hinzu:
"Diese Größe des Ausdrucks, bei vollkommenster Einfachheit [...] führt deutlich vor Augen, was unserer Zeit verlorengegangen ist. Was bedeutet dagegen unsere Wissenschaft? Bruchwerk! Unsere Kunst? Extreme, ohne einen vermittelnden Körper! Das Geheimnis der Einheit fehlt unserem Geist, und sehen Sie, darum ergreift mich dieser österreichische Plan, der Welt ein vereinigendes Beispiel, einen gemeinsamen Gedanken zu schenken, wenn ich ihn auch nicht für ganz durchführbar halte. Ich bin Deutscher. In der ganzen Welt ist heute alles laut und plump; aber in Deutschland ist es noch lauter. In allen Ländern plagen sich die Menschen von früh bis spät, ob sie nun arbeiten oder sich vergnügen; aber bei uns stehen sie noch früher auf und gehen noch später zu Bett. In aller Welt hat der Geist des Rechnens und der Gewalt den Zusammenhang mit der Seele verloren; aber wir in Deutschland haben die meisten Kaufleute und das stärkste Militär." Er blickte entzückt rund um den Platz. "In Österreich ist alles das noch nicht so entwickelt. Hier gibt es noch Vergangenheit, und die Menschen haben sich etwas von der ursprünglichen Intuition bewahrt. Wenn sie überhaupt noch möglich ist, so könnte nur von hier die Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen. Aber ich fürchte", fügte er seufzend hinzu "es wird schwerlich gelingen. Eine große Idee findet heute zu viel Widerstände; große Ideen sind nur noch dazu gut, einander am Missbrauchtwerden zu hindern, wir leben sozusagen im Zustand eines mit Ideen bewaffneten Moralfriedens." Ulrich beklagt, dass es augenscheinlich nur noch auf Leistung und Erfolg ankomme.
Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. [...] Der Erfolg kann alles vergessen machen. Der Industrielle Paul Arnheim vergleicht seine Tätigkeit mit der eines Kirchenführers:
Die Rolle der Finanz in der Gegenwart schien ihm jener der katholischen Kirche ähnlich zu sein, als einer aus dem Hintergrund wirkenden, im Verkehr mit den herrschenden Gewalten unnachgiebig-nachgiebigen Macht, und er betrachtete sich zuweilen in seiner Tätigkeit wie einen Kardinal. Arnheim hält die Ichsucht für "die verlässlichste Eigenschaft des menschlichen Lebens". Dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und Festigkeit, das die Voraussetzung für den Erfolg des Denkens und Planens bildet, – so dachte Arnheim, auf die Straße hinunterblickend, weiter – wird nun auf seelischem Gebiet immer durch eine Form der Gewalt befriedigt. Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigenschaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß was aufs engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Bestand und kann überall in Rechnung gestellt werden; die höheren Absichten sind unverlässlich, widerspruchsvoll und flüchtig wie der Wind. Zivilisation und Fortschrittsglaube breiten sich von den USA ausgehend auch in Europa aus.
Eine solche soziale Zwangsvorstellung ist nun schon seit Langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andre; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man isst während der Bewegung, die Vergnügungen sind in andern Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen. Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeit, so lässt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andre Sache oder gelegentlich einen besseren Weg, oder ein andrer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird wie durch die Anmaßung, dass man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen. In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück, denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, dass man es erreicht. Außerdem lehrt die Zoologie, dass aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann. Der Mann ohne EigenschaftenUlrich ist selbstverständlich nicht eigenschaftslos. Mit dem von Walter geprägten Begriff "Mann ohne Eigenschaften" ist gemeint, dass sich Attribute gegenseitig aufheben und Ulrich in seiner Ambivalenz nicht festzulegen ist.
Und da der Besitz von Eigenschaften eine gewisse Freude an ihrer Wirklichkeit voraussetzt, erlaubt das im Ausblick darauf, wie es jemand, der auch sich selbst gegenüber keinen Wirklichkeitssinn aufbringt, unversehens widerfahren kann, dass er sich eines Tages als ein Mann ohne Eigenschaften vorkommt. Christian Mossbrugger
Den Gegenpol zum "Mann ohne Eigenschaften" bildet Christian Moosbrugger. Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person [...], die nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass Moosbrugger in irgendeiner Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren. Wenn ein Mensch auch nur teilweise zurechnungsfähig ist, muss er als ganze Person bestraft werden, weil der Teil nicht zu fassen ist. Es gibt für Juristen keine halbverrückten Menschen.
Weil nach dem Urteilsspruch Zweifel an Moosbruggers Zurechnungsfähigkeit aufkommen, wird die Hinrichtung verschoben, und sein Geisteszustand soll noch einmal untersucht werden. Ich will darauf Rücksicht nehmen, dass Du juridisch nicht gebildet bist, aber so viel wird Dir bekannt sein, dass die beliebteste Einbruchspforte dieser sich fälschlich Humanität nennenden Rechtsunsicherheit die Bestrebung bildet, den die Strafe ausschließenden Begriff der Unzurechnungsfähigkeit in der unklaren Form einer verminderten Zurechnungsfähigkeit auch auf jene zahlreichen Individuen auszudehnen, die weder geisteskrank, noch moralisch normal sind und das Heer jener Minderwertigen, moralisch Schwachsinnigen bilden, von dem unsere Kultur leider immer mehr verseucht wird.
Ulrichs Vater gerät in dieser Frage mit dem befreundeten Kollegen Schwung aneinander, der seiner kompromisslosen Haltung widerspricht und den Determinismus vertritt, demzufolge das menschliche Handeln fremdbestimmt ist.
"Ich glaube, die Physiologen sagen", fuhr Ulrich fort "dass das, was wir bewusstes Handeln nennen, daraus entsteht, dass der Reiz sozusagen nicht einfach durch einen Reflexbogen ein- und ausfließt, sondern zu einem Umweg gezwungen wird; dann gleichen also die Welt, die wir erleben, und die Welt, in der wir handeln, obwohl sie uns als ein- und dieselbe vorkommen, eigentlich dem Ober- und Unterwasser in einem Mühlgang und sind durch eine Art Bewusstseinsstausee verbunden, von dessen Höhe, Kraft und ähnlichem die Regelung des Zu- und Abflusses abhängt. Oder mit anderen Worten: wenn auf einer der beiden Seiten eine Störung eintritt – eine Entfremdung der Welt, oder eine Unlust zu handeln –, so könnte man doch ganz gut annehmen, dass sich auf diese Weise auch ein zweites, höheres Bewusstsein zu bilden vermöchte? Oder meinen Sie, nicht?" |
Buchbesprechung:
Die Handlung von "Der Mann ohne Eigenschaften" spielt 1913/14. Eine Gruppe von Österreichern strebt für 1918 eine vaterländische Aktion an, die eine entsprechende Veranstaltung anlässlich des 30-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. in den Schatten stellen soll. Niemand ahnt, dass sowohl das Deutsche Reich als auch die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie 1918 zusammenbrechen und Kaiser Karl I. ebenso wie Kaiser Wilhelm II. entthronisiert werden. Und weil sich das Komitee auch gar nicht auf eine gemeinsame Idee einigen kann, wird am Ende statt der "Parallelaktion" ein Weltfriedenskongress geplant – der dann wegen des Kriegsausbruchs auch nicht stattfindet. Was für eine Ironie! Ausgewählte Ausgaben:
Literatur über "Der Mann ohne Eigenschaften":
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Robert Musil (Kurzbiografie) |