José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen (Essay) |
José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen |
Inhaltsangabe:José Ortega y Gasset beginnt seinen Essay "Der Aufstand der Massen" mit dem Hinweis auf die Zusammenballung der Bevölkerung in den Städten und deren in Straßen und Mietshäusern, Reisezügen und Gastronomie-Betrieben, Kinos und Wartezimmern zu beobachtende Überfüllung.
Wir sehen die Menge als solche im Besitz der von der Zivilisation geschaffenen Einrichtungen und Geräte. José Ortega y Gasset versteht die in seinem Buch zentralen Begriffe Elite und Masse weniger soziologisch als psychologisch:
Der Massenmensch ist der Mensch, der ohne Ziel lebt und im Winde treibt. Darum baut er nichts auf, obgleich seine Möglichkeiten und Kräfte ungeheuer sind. Im Gegensatz zum Massenmensch fühlt sich der Angehörige einer Elite für die Gesellschaft verantwortlich und strebt nach Idealen. Sein Leben ist ihm schal, wenn er es nicht im Dienst für etwas Höheres verbraucht. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sich die Masse von der Elite führen. Sie war unmündig.
In einer guten Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten ist die Masse der Teil des Gemeinwesens, der nicht aus sich handelt. [...] Der Massenmensch verfügte auch gar nicht über die Qualifikation für bestimmte Ämter, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeiten.
Früher wurden solche Spezialberufe von berufenen – wenigstens dem Anspruch nach dazu berufenen – Minderheiten ausgeübt. Die Masse verlangte keinen Anteil daran [...]. In früheren Zeiten kämpften die meisten Menschen ums Überleben; zumindest mussten sie sich plagen. Für das "Volk" aller Zeiten bedeutete "Leben" vor allem Begrenzung, Verpflichtung, Abhängigkeit, mit einem Wort, Druck. Wenn man will, sage man Bedrückung, unter der Bedingung, dass darunter Bedrückung nicht nur durch Recht und Gesellschaft, sondern auch durch die Natur verstanden sei. Denn an dieser gebrach es niemals, bis vor hundert Jahren der Aufschwung der wissenschaftlichen Technik, der physikalischen und der organisatorischen, begann, die praktisch unbegrenzt ist. Vorher war auch für den Reichen und Mächtigen die Welt ein Name für Armut, Kampf, Gefahr. Das hat sich grundlegend verändert. Darüber hinaus stehen heute jedem beispielsweise Medikamente und Verkehrsmittel zur Verfügung.
Während in der Vergangenheit das Leben für den Durchschnittsmenschen gleichbedeutend war mit Schwierigkeiten, Gefahren, Nöten, Schicksalsenge und Abhängigkeit auf allen Seiten, erscheint die neue Welt gesichert, als ein Bereich praktisch unbegrenzter Möglichkeiten [...]. Der Massenmensch hält die Errungenschaften der Zivilisation für naturgegeben. Immer neue Luxusgewohnheiten nahm er in seinen Lebensstandard auf; immer sicherer und von fremder Willkür unabhängiger wurde seine Stellung. Was man vorher als eine Gnade des Schicksals angesehen hätte, die in demütiger Dankbarkeit hingenommen wurde, betrachtete man jetzt als ein Recht, für das man nicht dankt, das man fordert. José Ortega y Gasset übersieht nicht, dass der Aufstand der Massen mit einer Hebung des allgemeinen Lebensstandards bzw. "des gesamten historischen Niveaus" einhergeht. Für fast alle in der Gesellschaft haben sich die Möglichkeiten und Potenziale vervielfacht. Und durch die Medien ist der Einzelne nicht mehr auf seine unmittelbare Umgebung beschränkt, sondern erfährt auch, was auf anderen Kontinenten geschieht. Das heißt, der Lebensinhalt eines Menschen von mittlerer Art ist heute der ganze Planet; jeder einzelne erlebt gewohnheitsmäßig die ganze Erde. Die Masse lässt sich nicht mehr führen und verweigert der Elite den Respekt. Rechtlich Privilegierte gibt es seit der Abschaffung der aristokratischen Vorrechte nicht mehr; vor dem Gesetz sind alle gleich. Anders als noch im 19. Jahrhundert maßt sich die breite Masse eine Meinung an und versucht "ihre Stammtischweisheiten durchzudrücken".
Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist es jedoch, dass die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen. Wie es in Nordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht "wie alle" ist, wer nicht "wie alle" denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden. Dabei sind die Massen nicht für rationale Argumentationen empfänglich, sondern unbelehrbar.
Denn die Grundverfassung ihrer Seele ist Unzugänglichkeit und Unbelehrbarkeit; es ist ihr angeborener Fehler, nichts zu berücksichtigen, was außerhalb ihres Horizontes ist, seien es Tatsachen, seien es Personen.
Der Aufstand der Massen geht mit einem Werteverfall einher, aber José Ortega y Gasset bezweifelt die Zwangsläufigkeit eines kulturellen Niedergangs; er glaubt nicht an den "Untergang des Abendlandes" (Oswald Spengler).
Zivilisation ist in erster Linie Wille zur Gemeinschaft. Man ist so unzivilisiert und barbarisch, wie man rücksichtslos gegen seinen Nächsten ist. Die Barbarei ist die Neigung zur Auflösung der Gesellschaft. Die Fortentwicklung der Zivilisation geht mit einer Zunahme der Komplexität einher, und es gibt nur noch wenige, die den Überblick über die Zusammenhänge behalten, zumal es im Vergleich zum 18. Jahrhundert zwar mehr Spezialisten, aber weniger Menschen mit umfassender Bildung gibt. Darum ist der Fortschritt je größer, umso gefährdeter. Das Leben wird immer angenehmer, aber immer verwickelter. Zusammenfassend schreibt José Ortega y Gasset: Die europäische Zivilisation – ich wiederhole es immer wieder – hat zwangsläufig zum Aufstand der Massen geführt. Der Aufstand der Massen hat eine außerordentlich erfreuliche Seite; er ist identisch mit der beispiellosen Steigerung, die das Leben in unseren Tagen erfahren hat. Aber seine Kehrseite ist beängstigend; sie zeigt, dass dieselbe Erscheinung identisch ist mit der sittlichen Entartung der Menschheit. |
Buchbesprechung:
"Der Aufstand der Massen" ist Zeitdiagnose, Kultur- und Gesellschaftskritik. Der Spanier José Ortega y Gasset (1883 – 1955) schrieb die Essays 1926 bis 1929, also in einer Zeit des Umbruchs nach dem Ersten Weltkrieg und während einer Weltwirtschaftskrise. Sein Buch sei eine Untersuchung, versichert Ortega von Anfang bis Ende. Was man von einer Untersuchung gemeinhin erwartet, nämlich dass sie ihren Gegenstand benennt, das Feld der Untersuchung absteckt, die Methoden, nach denen sie vorgeht, angibt und etwas über das Ziel des Ganzen verrät, das sucht man in "Der Aufstand der Massen" vergeblich. Ortegas Vorgehen gleicht vielmehr der Chuzpe eines Mannes, der seine Nase in ein Restaurant steckt, zurückzuckt, weil es schlecht riecht, auf dem Heimweg Erwägungen über den schlechten Geruch in Restaurants anstellt und hinterher seinen Freunden erzählt, bei seiner Untersuchung des Zustands der Gastronomie sei er zu einem ganz niederschmetternden Resultat gekommen. (Lothar Baier: Der Aufstand der Massen, "Die Zeit", 6. Januar 1984)
Lothar Baier hat seine Kritik an "Der Aufstand der Massen" überspitzt. Sachlich weist er darauf hin, dass José Ortega y Gasset sich wie ein Pionier geriere und andere Autoren ignoriere, die ähnliche Themen vor ihm behandelten, zum Beispiel Gustave le Bon ("Psychologie der Massen", 1895) und Sigmund Freud ("Massenpsychologie und Ich-Analyse", 1921). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017 |