Leonie Ossowski: Das Dienerzimmer (Roman) |
Leonie Ossowski: Das Dienerzimmer |
Inhaltsangabe: Halina die fleißige, Halina die gütige, Halina die verantwortungsvolle, zuverlässige und anständige, ältere Schwester. Teresa, die feschere, mit ihren grünen Augen und dem roten Haar, versteht es, die häuslichen Pflichten ihrer Schwester zu überlassen. Nach Beendigung ihrer Ausbildung verlässt sie das Elternhaus und nimmt eine Stelle in einer Bibliothek in Posen an. Der Schritt ist von ihrem Naturell her zwar konsequent, bereitet ihr aber auch Schwierigkeiten. Sie leidet unter Angstattacken, und nur Halina gelingt es, sie aus ihrer Verkrampfung zu lösen. ... die Angst aus den Kindertagen, die in ihr wie ein nacktes Tier schlummerte. Es war mit den Jahren in ihr gewachsen, sprang sie an, raubte ihr den Verstand ... Schon als Kind hatte sie gelernt, sich gegen diese Angst zu wehren, denn war das Angsttier schneller, sprang sie an und packte zu, dann war Teresa verloren. Es fraß sie auf, nahm ihr nicht nur die Sprache, sondern ließ auch keine Bewegung mehr zu. ... Es blieb eine Starrheit, die die Eltern früher verstockt nannten, und nur Halina war es gelungen, die kleine Schwester aus diesem unerträglichen Zustand zu erlösen. Da sich Halina um ihre immer kränker werdende Mutter kümmert und ein schlechtes Gewissen hat, wenn sie nur etwas später vom Einkaufen kommt, geht sie nie aus. Manchmal ermutigt die Mutter sie, mit einer zur Floskel verkommenen Aufforderung, sie solle sich doch mal amüsieren. Halina, sagte sie in immer der gleichen Tonlage, ich stehl' dir mit meiner Krankheit dein Leben. Du bist mit deinen vierundzwanzig Jahren viel zu jung, um ständig meinetwegen zu Hause zu bleiben. Geh wenigstens mal ins Kino.
Normalerweise lehnt sie das mit dem immer gleichen Satz ab: "Lass nur, Mama, es macht mir nichts aus. ... Mir ist viel wichtiger, dass es dir gutgeht." Aber an einem Frühlingsnachmittag geht sie tatsächlich ins Kino – und lernt einen jungen Mann kennen: Radek, der sich vertrauenserweckend und einfühlsam mit ihr abgibt. Sie treffen sich häufiger; sie wird seine Geliebte und es dauert nicht lange, bis sie heiraten. Mit jedem Tag zeigten sich wieder die alten Abhängigkeiten. Auf der einen Seite Teresas unbewusster Wunsch, Halina werde sie aus der Bedrängnis ihres augenblicklichen Lebens herausholen, auf der anderen Seite Halinas ungebrochenes Bedürfnis, Teresa zu beschützen. Radek spielte in dieser Zweisamkeit keine Rolle. Beide hatten jede auf ihre Weise von ihm Besitz ergriffen, und wenn sie von ihm sprachen, dann nur in der Erwartung, dass er am Leben sei und bald nach Hause käme.
Mager und verstört kommt Radek aus dem Krieg zurück. Er macht sich Vorwürfe, dass er beim Rücktransport im Zug mit verwundeten Kameraden als Einziger unversehrt davonkam. "Statt ihnen zu helfen, bin ich abgehauen." Immer war es Halina, die versuchte, gute Stimmung zu machen und die Familie aufzuheitern. Wir können froh sein, dass es uns geht,wie es uns geht, war ihr Lieblingsspruch. Dabei streichelte sie Radek über den Kopf oder küsste sein Ohr, egal, ob er darauf einging oder nicht. Es war, als spürte sie die Enge der Wohnung nicht, nicht den Geruch, der von der immer kränker werdenen Mutter ausging, der sichmit dem Dampf der Kohlsuppe mischte und für immer in die Tapeten zog.
An Halinas Geburtstag wollen sie abends zum Feiern ausgehen. Alle drei haben sich so schöngemacht, wie das möglich war. Auf der Straße bemerken sie eine Menschenansammlung und wollen einen anderen Weg nehmen. Aber da ist es schon zu spät. Es fallen Schüsse; die Straße ist durch Lkws blockiert. Radek wird abgedrängt. Halina und Teresa halten sich an den Händen. Teresa wird von einem Hieb auf den Kopf getroffen, aber Halina kann sie mit sich ziehen. Beide werden in einen Lkw gestoßen. Auf dem Bürgersteig sehen sie nur noch ein paar Erschossene. Ist Radek auch dabei? Nicht dass sie dick geworden war, aber aufgeschwemmt, von Tag zu Tag weißhäutiger, nahm sie etwas Drohnenartiges an. Sie bewegte sich kaum, gab wenig Antworten, stellte keine Fragen, aß und schlief und schlief und aß.
Die Ungewissheit, ob Radek noch lebt und dass sie mit Halina nicht über ihn sprechen kann, bringt sie zur Verzweiflung. Sie hat es sich angewöhnt, nachts aus dem Zimmer zu schleichen und im Park herumzulaufen. Sie sucht Radek, sie halluziniert ihn herbei, sieht ihn in den Bäumen sitzen und hört ihn im Pferdestall zu ihr sprechen. Wenn sie sich dann morgens wieder in ihr Bett legt, steht Halina gerade auf. Sie fragten sich ... nicht, warum Teresa nicht arbeiten wollte, keinen Gruß erwiderte und keine Frage beantwortete, ob sie nur halsstarrig war oder tatsächlich krank. Es genügte ihnen, dass die beiden ein Dach über dem Kopf hatten, zu essen bekamen und Halina im Haus arbeiten durfte. Alle ... sahen damit das Menschenmögliche erfüllt.
Als Teresa wieder einmal nachts im Park nach Radek sucht, entdeckt sie, dass die Tochter der Gutsbesitzer und der polnische Zwangsarbeiter Ludwik Janik sich heimlich treffen und sich in einer der Kutschen lieben. Wie gebannt beobachtet sie den Geschlechtsverkehr und projiziert sich an die Stelle von Anna, und in Ludwik sieht sie Radek. Jedesmal wenn sie den beiden beim Liebesspiel zusehen kann, ist die Voyeurin fasziniert. Ihr Verlangen nach Radek nimmt immer deutlicher neurotische Züge an.
Schließlich ist es ja auch mein Leben, das du ständig mit aufs Spiel setzt. Wenn wir deinetwegen noch vor Kriegsende hier weggebracht werden und in ein Arbeitslager müssen oder in ein KZ ,möchte ich wenigstens wissen warum.
Als Teresa sagt, sie gehe nachts ganz einfach spazieren, verliert Halina die Beherrschung und ohrfeigt ihre Schwester.
Ich weiß, wie unendlich ich dich damit verletzt habe, wie enttäuscht du sein musst und dass du mich jetzt für immer hasst. ... Ich hätte mit dieser Lüge weiterleben müssen, so schwer mir das auch gefallen wäre. Aber plötzlich hatte ich das sinnlose Bedürfnis, mich davon zu befreien und dir die Wahrheit zu sagen.
Seit diesem Geständnis spricht Halina nicht mehr mit Teresa. In dem kleinen Dienerzimmer können sie einander nicht ausweichen. Die nervliche Anspannung wird unerträglich, aber Halina gibt nicht nach, antwortet auf keine Frage. Zum erstenmal nimmt sie sich als Person wichtig. Radek sprach es nicht aus, aber er begriff, dass Halina ihrer Schwester das Leben gerettet und wie zum Dank dafür seinen Betrug mit Teresa erfahren hatte. Von nun an stand ihr Verrat wie eine Hürde zwischen ihnen, die von Tag zu Tag wuchs und die weder Radek noch Teresa je bewältigten. Halina ist wohl nicht in Warschau angekommen. Sie meldete sich jedenfalls nicht bei Teresa oder Radek. Es gab Hinweise, dass sie zwischen die Fronten geraten war und dabei umkam.
... Halinas Schicksal [blieb] ebenso umstritten wie ungewiss, wodurch die Erinnerung an sie stetig zunahm und nie ein Ende fand. |
Buchbesprechung: |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2003 Textauszüge: © Hoffmann und Campe Seitenanfang |