Heinrich Päs: Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist |
Heinrich Päs: Die perfekte WelleMit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist |
Inhaltsangabe:
Edwin Powell Hubble (1889 – 1953) fand heraus, dass sich die beobachtbaren Galaxien voneinander entfernen. Was aber heute auseinanderfliegt, war vorher näher zusammen. Es muss es also einen Anfang gegeben haben. Die Entwicklung des Universums lässt sich in Gedanken zurückverfolgen bis zu einer Singularität, einem ausdehnungslosen, punktförmigen Gebilde von unendlicher Dichte und Temperatur, mit dessen Explosion Raum und Zeit überhaupt erst begannen. Der britische Astronom Fred Hoyle (1915 – 2001) prägte dafür 1950 in einer Radiosendung den Begriff "Big Bang" (Urknall). Dieses Ereignis könnte vor 14 Milliarden Jahren stattgefunden haben. Die beiden amerikanischen Radiotechniker Arno A. Penzias (* 1933) und Robert W. Wilson (* 1936) stießen im Frühjahr 1964 bei Arbeiten an einer Antenne zufällig auf das Echo des Urknalls: ununterbrochen und aus allen Richtungen mit gleicher Intensität aus dem Kosmos eintreffende Mikrowellen. In einer Entfernung von 14 Milliarden Lichtjahren blicken wir auf eine undurchdringliche Wand; dahinter ist das Universum undurchsichtig. Wir sind alle aus Sternenstaub. Wirklich. Tatsächlich wurden die schweren Atomkerne wie Kohlenstoff, Silizium, Sauer- und Stickstoff, die das molekulare Gerüst bilden für Fleisch, Blut und Knochen, für Blatt, Fels und Luft, in den Sternen aus leichteren Elementen zusammengekocht und dann in Supernova-Explosionen dieser frühen Sonnen in das All geblasen. Die leichten Elemente allerdings wie Wasserstoff oder Helium wurden – kaum weniger romantisch – im heißen Plasma der ersten drei Minuten unseres Universums erzeugt.
Die Auffassung, dass Materie aus kleinsten, unteilbaren Bausteinen aufgebaut sei, geht auf die griechischen Philosophen zurück. Demokrit war der Erste, der Atome postulierte. Inzwischen wissen wir allerdings, dass auch Atome teilbar sind. Ein Atom besteht aus einem Kern und einer Elektronenhülle. Der Atomkern lässt sich in Protonen und Neutronen zerlegen, und diese setzen sich aus Quarks zusammen. Damit gelangen wir in den Elementarteilchenzoo. Letztlich hat niemand auch nur einen blassen Schimmer, was Zeit eigentlich ist. Dass keine der vier Dimensionen absolut ist und Raum und Zeit zusammenhängen, erklärt Albert Einstein (1879 – 1955) in der Relativitätstheorie. Der Speziellen Relativitätstheorie zufolge nimmt die Dauer einer Zeiteinheit mit der Geschwindigkeit des (gleichmäßig und geradlinig) bewegten Systems zu, während sich zugleich die räumlichen Abmessungen in der Bewegungsrichtung verkürzen. Jagt etwas einem Lichtstrahl mit, sagen wir, halber Lichtgeschwindigkeit nach, entfernt sich der Lichtstrahl nicht mit halber, sondern mit unveränderter Lichtgeschwindigkeit. Doch damit nicht genug! Im Rahmen der Relativitätstheorie können sich relativ zueinander bewegte Beobachter nicht einmal über die zeitliche Reihenfolge von Ereignissen einigen. Ob eine Situation zeitlich vor oder nach einem Ereignis eintritt, hängt vom Beobachter ab! Neben der Relativitätstheorie revolutionierte die Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts unser Weltbild. Albert Einstein meinte allerdings in Bezug auf den radikalen Bruch der Quantenphysik mit dem traditionellen Konzept der Kausalität: "Gott würfelt nicht". Und der Physiknobelpreisträger Richard P. Feynman (1918 – 1988), der Begründer der Quantenelektrodynamik, hielt die Quantenphysik für so verrückt, dass niemand sie wirklich verstehe. Dabei tragen technologische Anwendungen der Quantenphysik heute ein Viertel zum Bruttosozialprodukt der USA bei.
Wie sich eine Störung auf ein Teilchen auswirkt, darüber lassen sich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Aber damit nicht genug: Solange die Auswirkung auf das Teilchen nicht beobachtet wird, scheinen alle nur möglichen Auswirkungen verwirklicht zu sein. Teilchen können sich zum Beispiel an zwei Orten gleichzeitig befinden! Und Teilchen haben Eigenschaften von Wellen, während Wellen Eigenschaften von Teilchen zeigen. So verhalten sich bei einer Messung des Ortes Teilchen als unteilbare Portionen, sogenannte Quanten, einer Welle. Gleichzeitig beschreibt eine Welle die Aufenthaltswahrscheinlichkeit der Teilchen am jeweiligen Ort.
Seit Jahrzehnten suchen Physiker nach einer "Weltformel", in der die Relativitätstheorie und die Quantentheorie miteinander verschmolzen und alle Naturerscheinungen in einer geschlossenen Theorie erklärt werden. Ansätze für eine Grand Unified Theory (GUT) gibt es seit den Achtzigerjahren. Allerdings kann das sogenannte Standardmodell der Elementarteilchenphysik außer den bisher bekannten Elementarteilchen nur drei der vier Grundkräfte erklären, die auf sie wirken (starke Wechselwirkung, schwache Wechselwirkung, Elektromagnetismus). Die Gravitation passt nicht hinein. Woher kommt die Vielfalt in der Welt, die unendliche Komplexität unserer Umwelt, wenn doch alles aus einem Urteilchen zusammengesetzt und von einer Urkraft zusammengehalten sein soll? Das Eine hinter dem Vielen könnten Symmetrien sein, deren Bedeutung die jüdisch-deutsche Mathematikerin Emmy Noether (1882 – 1935) erkannte.
Die Antwort auf diese Fragen liefert das Konzept der Symmetriebrechung, und ironischerweise kann gerade dieses Konzept, wenn es zu Ende gedacht wird, zu einem noch höheren Grad an Symmetrie führen als in den GUT-Theorien, nämlich zur Supersymmetrie. Und wie wir sehen werden, erlaubt die Supersymmetrie nicht nur, einige der konzeptionellen Probleme des Standardmodells und der GUT-Theorien zu lösen, sie sagt auch neue Teilchen inmitten der Teilchenwüste vorher. Sie bringt, wie der SUSY-Theoretiker Howie Baer in seinem Abschlussvortrag auf der ersten "Beyond the Desert"-Konferenz erklärte, die Wüste zum Blühen. Weitere Fortschritte in der Entwicklung von Theorien jenseits des Standardmodells verspricht Heinrich Päs sich von der Erforschung der Neutrinos. Um den radioaktiven Betazerfall zu erklären, hatte der Physiknobelpreisträger Wolfgang Pauli (1900 – 1958) 1930 das Neutrino postuliert, ohne eine Möglichkeit zu erkennen, wie man es nachweisen könnte. (Die Bezeichnung stammt nicht von ihm, sondern von Enrico Fermi.) Den Nachweis nahmen sich 1951 die beiden amerikanischen Physiker Frederick Reines (1918 – 1998) und Clyde L. Cowan (1919 – 1974) im Los Alamos National Laboratory vor, und es gelang ihnen fünf Jahre später in der Nuklearanlage Savannah River Site in Augusta, Georgia.
Unter allen bekannten Elementarteilchen ist das Neutrino mit Sicherheit das exotischte. Obwohl in jeder Sekunde 60 Milliarden Neutrinos durch jeden Quadratzentimeter der Erdoberfläche – und jedes menschlichen oder sonstigen Körpers – strömen, durchdringen sie uns, ja sogar das ganze Erdinnere, ohne eine Spur zu hinterlassen, als wären wir und die Erde Luft. Und obwohl Neutrinos höchstens ein Millionstel der winzigen Elektronenmasse wiegen (das sind 10-30 Gramm!), ist ihre Anzahl so hoch, dass sie ungefähr genauso viel zur Masse des Universums beitragen wie alle Sterne zusammengenommen. Neutrinos könnten zur Kontaktaufnahme mit Intelligenzen in anderen Sternsystemen benutzt werden oder zur Kommunikation mit bzw. zwischen Atom-U-Booten, die dann nicht mehr aufzutauchen bräuchten, um Funksprüche absetzen zu können. Vorrangig strebt die Neutrinophysik jedoch nicht nach nutzbringenden Anwendungen. Vielmehr sucht sie nach einem besseren Grundverständnis unseres Universums und damit nach einer soliden Basis für ein unbestechliches, wissenschaftlich-rationales Weltbild. Auch für Zeitreisen wären Neutrinos Kandidaten. Neutrinos sind [...] die perfekte Welle für eine solche Reise.
Der Mathematiker Kurt Gödel (1906 – 1978), der ab 1942 auf ausgedehnten Spaziergängen mit Albert Einstein über die Relativitätstheorie diskutierte, entwickelte das Modell eines rotierenden Universums, in dem die Zeitdimension zu einer geschlossenen Kurve gekrümmt ist. Im Gedankenexperiment ist es also möglich, sich immer weiter vorwärts zu bewegen, bis man den zeitlichen Ausgangspunkt wieder erreicht. Das wäre eine Zeitreise. Allerdings gilt dieses Konstrukt als unvereinbar mit der Wirklichkeit. Er würde einen ankommen sehen, bevor man aufgebrochen ist. Und dieser bewegte Beobachter könnte einen dann – wieder überlichtschnell – zurück zum Ursprungsort schicken, wo man in der Vergangenheit des eigenen Aufbruchs ankäme und sich selbst antreffen könnte, wie man sich auf den Aufbruch vorbereitet. Kurz: Man könnte in die Vergangenheit reisen! Als Postdoc an der University of Hawaii in Honolulu dachte Heinrich Päs darüber nach, ob Zeitreisen durch Extra-Dimensionen der Raumzeit denkbar wären. In seinem Buch "Die perfekte Welle" schreibt er dazu: An einem dieser Nachmittage sprang mir dabei folgendes Bild ins Bewusstsein: Angenommen, unser Universum mit seinen drei Raum- und einer Zeitdimension ist in einen Raum mit vielen zusätzlichen Dimensionen eingebettet und liegt darin wie ein Teppich in einem x-beliebigen Wohnzimmer: Kann dieser Teppich dann Falten werfen? Und angenommen, es gibt Elementarteilchen, die sich nicht nur in den geläufigen 3+1-Dimensionen bewegen können, sondern im gesamten mehrdimensionalen Raum: Können diese Teilchen, anstatt den Falten des Teppichs zu folgen, die Abkürzung längst des Fußbodens nehmen? Können sie, wie ein Surfer unter einer entgegenkommenden Welle hindurchtaucht, einen duck dive machen und dabei schneller sein als alles, was sich längs der aufgewühlten Oberfläche bewegt?
Wie auch immer wir uns Zeitreisen denken mögen, entstehen dadurch Paradoxien wie diese: Ein Zeitreisender tötet in der Vergangenheit seinen Großvater, bevor dieser einen Sohn zeugt. Damit würde er seine eigene Geburt verhindern, könnte also auch nicht in der Zeit reisen und seinen Großvater treffen. |
Buchbesprechung:Der Physiker Heinrich Päs (* 1971) promovierte 1999 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, und sechs Jahre später habilitierte er sich an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Als Postdoc arbeitete er an der Universitat de Valencia, der Vanderbilt University in Nashville und der University of Hawaii in Honolulu. Inzwischen ist Heinrich Päs Professor für theoretische Hochenergie- und Astroteilchen-Physik an der Technischen Universität Dortmund. Zu meinem großen Glück wurde die Neutrinophysik in den Mittneunzigern zu einem der aufregendsten Gebiete der Grundlagenforschung, und für mich zum perfekten Ausgangspunkt, die Ideen über die neue Physik auszukundschaften, von denen man sich erhofft, dass sie einen alten Traum der Physiker verwirklichen: alle fundamentalen Bausteine der Materie in einer geschlossenen Theorie zu beschreiben. (Heinrich Päs, www.physik.uni-dortmund.de) Sein Forschungsschwerpunkt ist die Untersuchung von Neutrinos im Allgemeinen und von Neutrinomassen, -mischungen und -oszillationen im Besonderen. Davon verspricht er sich ein besseres Grundverständnis des Universums und Fortschritte in der Entwicklung von Theorien jenseits des Standardmodells. Daneben habe ich mich von Zeit zu Zeit – und mit sehr wechselhaftem Erfolg – auch als Philosoph, Regattasegler, Marathon-Läufer, Wellenreiter, Snowboarder, Zeitmaschinen-Erfinder, sowie als Anstreicher von Orang-Utan-Käfigen versucht – und mir irgendwie eine Reputation für wildes Feiern erworben ... (Heinrich Päs, a. a. O.) In seinem Buch "Die perfekte Welle. Mit Neutrinos an die Grenzen von Raum und Zeit oder Warum Teilchenphysik wie Surfen ist" fasst Heinrich Päs den aktuellen Wissensstand auf den Gebieten Relativitätstheorie, Quanten- und Teilchenphysik und Neutrinos zusammen. Außerdem erläutert er Spekulationen wie die kosmische Inflation, die Erweiterung des Symmetriebegriffs zur Grand Unified Theory und Supersymmetrie, die Stringtheorie, Extra-Dimensionen und Zeitreisen. Abkürzungen in Extra-Dimensionen sind Spekulationen zum Quadrat, und Zeitreisen in Extra-Dimensionen sind Spekulationen … nun ja, mindestens hoch drei, aber manch seriöser Wissenschaftler wird sie wohl eher als hoch 1000 ansehen. In jedem Kapitel lockert Heinrich Päs die Darstellung durch Anekdoten und pointierte biografische Skizzen auf. Da er sich mit seinem Buch "Die perfekte Welle" weniger an Fachkollegen als an vorgebildete Laien wendet, sind seine Erläuterungen zum großen Teil allgemeinverständlich. Auf einem Gebiet, das die Grenzen der anschaulichen Vorstellung sprengt, ist das nicht einfach, und es haben sich denn auch schwer verständliche Passagen wie die folgende eingeschlichen: Wenn Supersymmetrie an der TeV-Skala existiert, dann würden sich einige Eigenschaften wie Lepton-Flavor-Verletzung und Leptonzahl-Verletzung durch Quantenfluktuationen auf die SUSY-Teilchen übertragen. Die konkrete Art der Übertragung, z. B. durch Quantenfluktuationen der SUSY-Teilchen über Lepton-Flavorverletzende Kopplungen wie im Seesaw-Mechanismus, hängt wieder vom konkreten Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung ab. SUSY-Teilchen würden dann Lepton-Flavor-Verletzungen und/oder die Leptonzahl verletzende Prozesse zeigen, die im minimalen Modell nicht vorkommen und die Aufschluss geben könnten über den Mechanismus der Neutrinomassen-Erzeugung. Auch wenn man als Laie nicht alles versteht, steckt die Begeisterung an, mit der sich Heinrich Päs in seinem Wissens- und Forschungsgebiet bewegt.
Ich hoffe vor allem, dass ich ein Buch geschrieben habe, das Spaß macht und Lust auf mehr. Amüsant ist auch, wie Heinrich Päs seine Fachwelt beschreibt:
Und wo sonst findet man auch ein solches Spektrum an Typen: polternde Alphatiere wie Carlo Rubbia oder Hans-Volker Klapdor-Kleingrothaus, blendende Selbstdarsteller wie Stephen Hawking oder Nino Zichichi, charismatische Lehrer wie Enrico Fermi und verschlossene Autisten – so schüchtern, dass sie kaum ein Wort herausbringen – wie Ettore Majorana. Verträumte Freaks wie Lincoln Wolfenstein, Kämpfer wie Ray Davis. Sozial auffällig oder graue Mäuse, in Schlips und Kragen, in Shorts und Sandalen oder in zu kurzen Pullis mit Kaffeeflecken und hängenden Hosen wie aus dem Altkleidercontainer. Saufende Nachteulen wie Wolfgang Pauli und früh aufstehende Antialkoholiker, Temperamentsbolzen und unterkühlte Schweiger. Naturburschen wie Werner Heisenberg, Frohnaturen wie Einstein, Asketen. Findige Tüftler wie Cowan und Reines, unermüdliche Rechner wie John Bahcall, ideensprühende Kreative wie Nima Arkani-Hamed, bodenständige Skeptiker wie – noch einmal – Pauli oder logische Terroristen wie Kurt Gödel.
Nachtrag: Überlichtschnelle Neutrinos? |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011 / 2012 |