Annette Pehnt: Chronik der Nähe (Roman) |
Annette Pehnt: Chronik der Nähe |
Inhaltsangabe:
Mutter bedroht Annie mit dem Tod, das kann sie gut. Erst als das kleine Mädchen immer wieder beteuert, wie sehr es die Mutter liebe, ein nasses Geschirrtuch aus der Küche holt und ihr damit die trockenen Lippen betupft, ist die Frau zufrieden, bei der es sich um die Großmutter der Erzählerin handelt. (Ihren Namen erfahren wir nicht.) Sie zeigt selten Gefühle und scheut vor Zärtlichkeiten zurück. Um ihre Tochter Annie an sich zu binden, greift sie zu Manipulationen. So auch, als sie bei einem Fliegeralarm im Zweiten Weltkrieg mit dem Kind zum Bunker hastet und Annies Beine plötzlich nachgeben. Mutter bleibt stehen und reißt ihr die Tasche aus der Hand. "Was ist los mit dir", schreit sie Annie an, "kannst du noch nicht einmal laufen." Annie lehnt sich gegen die Mutter und drückt den Kopf in ihren Mantel. Mutter wehrt sie mit dem Ellbogen ab, reißt Annies Kinn hoch und sagt ihr ins Gesicht, so leise, dass Annie es nicht überhören kann: "Du quälst mich. Du bringst uns beide um. Willst du das." In den letzten Kriegstagen wird das Haus der Familie bei einem Bombenangriff zerstört. Kurz darauf fällt Annies Vater, der sehr viel älter als seine Frau ist, tot um. Er war Landschaftsmaler, aber seit Kriegsbeginn verkaufte er kaum noch Bilder. Erst als die ersten Amerikaner auftauchten und er anfing, Porträts für sie zu malen, belebte sich das Geschäft wieder.
Es gab immer Streit, um die Farben, um die Amerikaner, um das Haus, diesen Schutthaufen im blühenden Obstgarten, "und deswegen", erklärt Mutter Annie, "ist es vielleicht nicht so schlimm, dass der Vater jetzt nicht mehr da ist, denn wo er jetzt ist, hat er Frieden und Farben, und alles ist heil." Annie starrt Mutter an, ob sie es ernst meint [...]. Die Witwe entlässt das Kindermädchen und zieht mit ihrer Tochter und dem ebenfalls ausgebombten Onkel Hermann in eine Baracke außerhalb des Ortes, die nur aus einem einzigen Zimmer besteht. Sie ist oft tagelang unterwegs, um etwas zu "organisieren". Offenbar prostituiert sie sich mitunter für Nahrung oder Kleidung. Von einer ihrer Touren kommt sie mit ein paar lebenden Hühnern zurück, und sie fordert Annie auf, sich um die Tiere zu kümmern und die Eier einzusammeln.
"Das sind jetzt deine", sagt sie zu Annie, "und wenn du wüsstest, was ich getan habe, um sie zu kriegen." [...]
Schließlich findet sie eine kleine Wohnung, und sie ziehen um. Annie erteilt nun Nachhilfestunden und erhält dafür Naturalien als Lohn. Ihre Mutter bietet einen Mittagstisch für Berufstätige an. Von dem, was die zahlenden Gäste übriglassen, ernähren sich sie, Annie und Onkel Hermann. "Du weißt aber", sagt Mutter, "dass du auch schwanger werden kannst, ganz schnell geht das, die Jungs haben sich nicht in der Hand, die schießen los, und wer hat die Scherereien. Krieg bloß kein Kind, das versaut dir das ganze Leben."
Eine Nachbarin beschimpft Annie und beschuldigt sie, im Park gegen Geld die Beine breit zu machen.
"Du kommst sicher jedes Wochenende nach Hause", sagt Mutter, "dann kannst du die Wäsche ja mitbringen."
Nach dem Abschluss der Ausbildung arbeitet Annie als Schreibkraft und Übersetzerin. Sie heiratet ihren Chef. Dann bringt sie eine Tochter zur Welt: die Erzählerin.
Immer geschrien soll ich haben, als Kind, als Baby: geschrien, geschrien, nach Luft geschnappt, noch mehr geschrien, bis der Kopf lila war. Weil das Kind ständig Angst hatte, riet eine Lehrerin Annie, die Tochter zu einem Psychotherapeuten zu schicken. Was? Das musstest du erst mal verdauen, hast du mir erzählt, das war ja allerhand, so ein kleines Kind und schon zum Therapeuten, zu den dich ja keine zehn Pferde jemals hin bekämen, nicht gegen Geld, aber ganz ehrlich, schon als Baby hatte ich ja nur geschrien, nicht normal war das, und dazu passt doch die Angst wie die Faust aufs Auge. Während der Promotion wird die Tochter schwanger. Annie zeigt wenig Interesse und befürchtet, dass das Kind sie später "Oma" nennen könnte. Zu zögerst kurz, ein Blick auf meinen Bauch, dann rauchst du wie immer, und schon ein flüchtiger Blick auf deine Zigarette ist verboten. Ich schau ja auch gar nicht, würde mich nie trauen. nur wenn ich plötzlich Stärke und Kampfeslust verspüre, dann kenne ich meine Waffen, und der Blick auf deine Zigarette ist eine davon.
Als Annie ihre Tochter während einer Dienstreise ihres Schwiegersohns besucht und ihre Enkelin erstmals auf den Arm nimmt, bewegt sie sich so ungelenk, dass die Mutter des Säuglings befürchtet, sie werde ihn fallenlassen. Die Erzählerin nutzt die Anwesenheit ihrer Mutter, um ein paar Besorgungen zu machen. Bei ihrer Rückkehr findet sie das Baby schreiend auf dem Wickeltisch vor, und ihre Mutter raucht nebenan mit versteinerter Miene eine Zigarette.
– Aber die Fenster meine ich ja nicht, ich meine die Fensterbänke.
Die Erzählerin bekommt eine zweite Tochter. Und ich sitze neben dir mit den Rügenfotos in der Hand, die ich dir zeigen wollte, mit einer Zeitung, aus der ich dir etwas vorlesen wollte, und mit einem Foto von den Kindern. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Chronik der Nähe" von Annette Pehnt handelt von zwei schwierigen Mutter-Tochter-Beziehungen über drei Generationen hinweg. Wir erfahren weder, wie die Großmutter, noch wie die Enkelin heißt; nur die Mutter, die beide Geschichten verbindet, hat einen Namen: Annie. In der Rahmenhandlung sitzt die Enkelin an sieben aufeinander folgenden Tagen am Bett ihrer sterbenden Mutter im Krankenhaus und erinnert sich an Erlebnisse aus ihrer Kindheit und an
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Annette Pehnt: Mobbing |