Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht (Sachbuch) |
Gerhard Roth, Nicole Strüber:
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Inhaltsangabe:Die Suche nach dem Sitz der SeeleIm ersten Kapitel des Buches "Wie das Gehirn die Seele macht" beschäftigen sich Gerhard Roth und Nicole Strüber mit der Geschichte des Nachdenkens über die Frage nach dem Zusammenhang von Leib und Seele. [...] war die Einengung des Seelenbegriffs von einem Lebensprinzip, Anima, Spiritus oder Odem genannt, auf empirisch erfassbare perzeptive, emotionale und kognitive Vorgänge ein Prozess der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte, der sich über zweieinhalb Jahrtausende hinzog, und ebenso lange dauerte die Suche nach dem "Sitz" dieser Vorgänge. Der Mensch gehört zur belebten Natur, denn wie eine Pflanze altert er und reagiert auf äußere Reize. Außerdem bewegt er sich zweckhaft wie ein Tier. Aber darüber hinaus verfügt er über Verstand und Vernunft, die Fähigkeit zu logischem Denken und sittlichem Handeln. Das mittelalterliche Christentum entwickelte die Idee von einer unsterblichen Seele, die sich bei der Zeugung oder Geburt eines Menschen mit dem Körper verbindet und ihn schließlich beim Tod entseelt zurücklässt. René Descartes (1596 – 1650) ging davon aus, dass eine ausgedehnte Substanz (res extensa, Materie) und eine unausgedehnte Substanz (res cogitans, Geist) zu unterscheiden seien. Geist und Gefühle kann man – so scheint es – grundsätzlich nicht messen und wiegen; sie haben offenbar gar keine Ausdehnung und kein Gewicht, keinen definitiven Ort, und ihre zeitlichen Eigenschaften sind verwirrend.
Bis ins 19. Jahrhundert herrschte die Auffassung vor, Lebewesen würden von anderen Kräften (vis vitalis) und Prinzipien bestimmt als die unbelebte Natur. Dementsprechend hielt man "anorganische" und "organische" Chemie für grundverschieden. Während die Materie den Naturgesetzen folge, sei der Geist diesen nicht unterworfen, hieß es. Offen blieb die Frage, wie immaterielle Prozesse auf den Körper einwirken, ihn beispielsweise bewegen, ohne die Naturgesetze zu verletzen. Heute noch gibt es Geisteswissenschaftler, die überzeugt sind, dass sich seelisch-geistige Vorgänge einer naturalistischen Erklärung entziehen. Grundlage unserer Überlegungen ist eine "naturalistische" Sicht des Seelischen, der zufolge sich Psyche und Geist in das Naturgeschehen einfügen und dieses nicht transzendieren.
Eine zentrale Frage in der Geschichte der Hirnforschung war die nach der Erregungsleitung. Experimente von Luigi Galvani (1737 – 1798) und Alessandro Volta (1745 – 1827) legten die These nahe, dass die Erregungsfortleitung in den Nerven nicht durch ein "Nervenfluidum", sondern elektrisch geschieht. Der Schweizer Neuroanatom Wilhelm His (1831 – 1904) entdeckte, dass Nervenzellen wie andere Körperzellen auch, als diskrete Einheiten entstehen und Fortsätze (Axon, Dendriten) entwickeln. Dem britischen Neurophysiologen Charles Scott Sherrington (1857 – 1952) verdanken wir den Begriff der Synapse. Gehirn und limbisches SystemIm zweiten Kapitel beschreiben Gerhard Roth und Nicole Strüber zunächst den Aufbau des menschlichen Gehirns aus Neuronen, die Verlängerungen ausbilden: Axone für Afferenzen bzw. den Input und Dendriten für Efferenzen bzw. den Output. Synapsen, Neuromodulatoren, Neuronen und dergleichen sind aber [...] nur Kommunikationsmittel, nicht die eigentlichen Ursachen. Die Tätigkeit einer einzelnen Gehirnzelle ist verhältnismäßig unbedeutend. Entscheidend ist das Zusammenwirken zahlreicher vernetzter Neuronen. Perzeptive, kognitive, affektiv-emotionale, exekutive, motorische – alle Leistungen des Gehirns sind Funktionen von neuronalen Netzwerken. Das psychische Geschehen ist unabdingbar an die Aktivitäten corticaler und subcorticaler limbischer Zentren und deren Wechselwirkungen gebunden.
Größeren Raum in "Wie das Gehirn die Seele macht" nehmen die Erläuterungen zum limbischen System ein, das Gerhard Roth und Nicole Strüber als "Sitz des Psychischen" verstehen. Hier geschieht auch die Auslösung und Kontrolle angeborener Verhaltensweisen wie Flucht, Erstarren, Verteidigung, Aggression, Stressregulation und elementarer affektiv-emotionaler Zustände wie Wut und Zorn, Freude oder Trauer. Diese Funktionen bedingen auch die grundlegenden Eigenschaften unserer Persönlichkeit, Temperament genannt.
Auf der mittleren Ebene verorten Gerhard Roth und Nicole Strüber unbewusste Vorgänge der Emotionsentstehung und -kontrolle, der Verhaltensbewertung und Konditionierung. Sie wird vor allem durch die frühkindliche Bindungserfahrung geprägt. Auf dieser Ebene findet das bewusste emotional-soziale Lernen statt. Hier werden die emotionalen Reaktionen der beiden unteren limbischen Ebenen verstärkt oder abgeschwächt, je nachdem wie es die Sozialisation vorgibt. Bewertungen auf dieser Ebene bilden die Grundlage für Gewinn- und Erfolgsstreben, für Freundschaft, Liebe, Hilfsbereitschaft, Moral und Ethik. Diese Ebene entwickelt sich in der späten Kindheit und Jugend aufgrund sozial-emotionaler Erfahrungen und ist entsprechend vornehmlich durch solche veränderbar. Für die kognitiv sprachliche Ebene sind im Gehirn Sprachzentren [...] wichtig. Die Sprache der SeeleGerhard Roth und Nicole Strüber beschäftigen sich in diesem Kapitel mit Neuromodulatoren, Neuropeptiden und Neurohormonen wie zum Beispiel Dopamin, Serotonin, Acetylcholin, Noradrenalin, Opioide.
Das interne Beruhigungssystem ist überwiegend durch den Neuromodulator Serotonin bestimmt. [...] Die Entwicklung des Gehirns und der kindlichen Psyche
Nach der Geburt wächst das Gehirnvolumen rasant weiter, weniger durch die Bildung weiterer Neuronen als durch die Entwicklung von Verzweigungen und Synapsen. Parallel dazu entstehen neue Blutgefäße und Gliazellen (Stützgewebe). Persönlichkeit und ihre neurobiologischen Grundlagen
Auf den griechischen, ab 161 in Rom tätigen Arzt Galen (um 129 – 216) geht die Lehre von vier Körpersäften zurück, die für die Ausprägung der Temperamente entscheidend sind: Blut (sanguis, Sanguiniker), Schleim (phlegma, Phlegmatiker), schwarze Galle (melas cholé, Melancholiker), gelbe Galle (cholé, Choleriker). Die Grundlage des Temperaments – eine wesentliche Eigenschaft der Persönlichkeit – ist demzufolge physiologischer Natur.
Der Faktor Neurotizismus bezieht sich in hoher Ausprägung auf die Eigenschaften gespannt, ängstlich nervös, launisch, besorgt, empfindlich, reizbar, furchtsam, selbstbemitleidend, instabil, mutlos und verzagt, und in niedriger Ausprägung auf die Eigenschaften stabil, ruhig und zufrieden. Manche Forscher unterscheiden bei jedem der Big Five zwei Facetten. Danach setzt sich Neurotizismus zusammen aus Rückzug (withdrawal) und Unbeständigkeit (volatility), Verträglichkeit aus Mitgefühl (compassion) und Höflichkeit (politeness), Gewissenhaftigkeit aus Fleiß (industriousness) und Ordnungsliebe (orderliness), Extraversion aus Begeisterungsfähigkeit (enthusiasm) und Durchsetzungsfähigkeit (assertiveness) und schließlich Offenheit/Intellekt aus eben Offenheit gegenüber Neuem (openness) und Intellekt (intellect) mit Nähe zu Kreativität und Intelligenz.
Andere Autoren differenzieren aufgrund von Überlappungen dieser Persönlichkeitsmerkmale nur zwei kontrastierende oder sich polar gegenüberstehende Grundfaktoren: Extraversion und Neurotizismus. Zweifellos bildet die Art, wie ein Mensch mit körperlichen Belastungen wie Krankheit und Schmerz sowie mit psychischen Belastungen wie Bedrohung, Herausforderungen, Enttäuschungen und Niederlagen, Beschämung und Ausgrenzung umgeht, den Kern seiner Persönlichkeit.
Gerhard Roth und Nicole Strüber beschreiben sechs psychoneuronale Grundsysteme: Stressverarbeitung, Selbstberuhigung, Bewertung, Belohnung bzw. Belohnungserwartung, Impulshemmung, Bindung und Realitätssinn. So sind zwar die Gene in der Regel über wenige Generationen unveränderlich, sie werden aber als väterliche und mütterliche Allele bei jedem Zeugungsakt neu gemischt, und zudem greifen teils vorgeburtlich und teils früh nachgeburtlich Umwelteinflüsse wie die Qualität der mütterlichen Fürsorge über epigenetische Prozesse verändernd in die Genexpression ein. Das Bewusstsein, das Vorbewusste und das UnterbewussteMit der Entdeckung des Unbewussten wird Sigmund Freud assoziiert. Weniger bekannt ist, dass er vergeblich versuchte, eine Theorie des "seelischen Apparates" auf der Grundlage der Neuronentheorie zu entwickeln. (Die Schrift "Entwurf einer Psychologie" aus dem Jahr 1896 wurde erst 1950 posthum veröffentlicht.) Von Freud stammt die Schichtung des Psychischen in ein Unbewusstes, ein Vorbewusstes und ein Bewusstes bzw. Es, Ich und Über-Ich.
Das bewusste Ich ist nach Freud also eingezwängt in ein Netzwerk von dreierlei Einflüssen, nämlich denen des Es bzw. Unbewussten, denen des Über-Ich und denen der Realität. Es gebe keine bewussten Prozesse ohne damit verbundene neuronale Vorgänge, postulieren Gerhard Roth und Nicole Strüber. Aber die meisten neuronalen Prozesse laufen ab, ohne bewusst zu werden.
Geist und Bewusstsein beruhen auf Prozessen im Gehirn, die größtenteils unbewusst oder vorbewusst ablaufen. Jeder bewussten Wahrnehmung geht eine 200 bis 300 Millisekunden lange unbewusste Verarbeitung von Erregungen voraus. Das prozedurale Gedächtnis (Fertigkeitsgedächtnis) arbeitet ebenfalls weitgehend unbewusst: Beim Autofahren schalten wir, ohne darüber nachzudenken, und beim Tippen bewegen sich die Finger ohne bewusste Steuerung. Bewusstheit ist allerdings eine Voraussetzung bei der Verankerung von Informationen im Langzeitgedächtnis. Als Träger oder Produzent des Bewusstseins gilt das selbstorganisierende System der Großhirnrinde.
Als Neurobiologen gehen wir davon aus, dass unsere Erlebniswelt – also unsere Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Erinnerungen – ein "Konstrukt" unseres Gehirns sind. Neben der allgemeinen Wachheit und der gezielten Aufmerksamkeit gibt es auch eingeschränkte Bewussteinszustände: Dösen, Benommenheit, Stupor, Koma.
Psychische Erkrankungen und PersönlichkeitsstörungenDie Psychoanalyse Freuds geht davon aus, dass neurotische Störungen durch Verdrängungen – also unbewusste Prozesse – verursacht werden. Zentraler Ausgangspunkt der psychoanalytischen Therapie, wie Freud sie verstand, ist die Annahme, dass gegenwärtige psychische Störungen vornehmlich durch unbewusste oder unbewusst gewordene psychische Vorgänge in Kindheit und Jugend verursacht werden, die von der Psyche als unangemessen angesehen und deshalb ins Unbewusste "verdrängt" wurden. Neurowissenschaftler interessieren sich vor allem dafür, ob sich bei psychischen Erkrankungen Auffälligkeiten im Gehirn erkennen lassen. Sie fanden Zusammenhänge zwischen Depressionen und neurochemischen Auffälligkeiten sowie Änderungen in der Struktur bzw. Funktion verschiedener Hirnbereiche. Ähnliches gilt für andere psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen oder das Borderline-Syndrom. Gerhard Roth und Nicole Strüber sind der Auffassung, dass psychische Erkrankungen "von jeweils spezifischen neuromodulatorischen Fehlregulationen sowie von strukturellen und funktionellen Veränderungen limbischer Hirnregionen begleitet werden". In der Tat kann man mithilfe bildgebender Verfahren, vornehmlich der funktionellen Magnetresonanztomographie und zum Teil des Elektro- bzw. Magnetenzephalogramms, nachweisen, dass diese Zentren bei psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen, posttraumatischer Belastungsstörung, Zwangsstörungen, der Borderline-Persönlichkeitstörungen und der antisozialen Persönlichkeitsstörungen deutlich von der Norm abweichende Aktivitätsmuster aufweisen. Psychotherapien
Auf breitem Raum erläutern Gerhard Roth und Nicole Strüber in ihrem Buch "Wie das Gehirn die Seele macht" Psychoanalyse und Verhaltenstherapie. Dieses häufig als "Placeboeffekt" bezeichnete Phänomen ist hochwirksam und besteht aus neurobiologischer Sicht in einer deutlich erhöhten Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, was stärkend auf das Selbstberuhigungssystem und das Belohnungssystem wirkt und die Stressreaktion abschwächt. Dementsprechend propagieren Gerhard Roth und Nicole Strüber in "Wie das Gehirn die Seele macht" ein Zwei-Phasen-Modell der Psychotherapie: In der ersten Phase ist der Hauptwirkfaktor die therapeutische Allianz, verbunden mit einer massiven Ausschüttung von Oxytocin und endogenen Opioiden, die dann eine spürbare Besserung der Symptomatik bewirkt. In leichteren Fällen psychischer Störung kann dies tatsächlich einen guten Behandlungserfolg erbringen. Bei schwereren psychischen Störungen, die auf einer Interaktion zwischen genetisch-epigenetischen Vorbelastungen und frühkindlichen negativen Erfahrungen beruhen, ist eine zweite und eher "implizite" Phase der Therapie notwendig, in der sich wie erwähnt strukturelle Änderungen im Bereich der Basalganglien ergeben müssen. Die Wirkungsweise von Psychotherapien aus Sicht der NeurowissenschaftenEinen Schwerpunkt der Darstellung bilden Ausführungen über die Wirksamkeit von Psychotherapien aus Sicht der Hirnforschung. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie Korrelate einer erfolgreichen Psychotherapie im Gehirn aussehen und mit welchen Mitteln die Hirnforschung sie erfassen könnte. |
Buchbesprechung:
Mit der Gründung des Hanse-Wissenschaftskollegs in Delmenhorst begannen 1997 Versuche, ein neurobiologisches Verständnis des Seelisch-Psychischen, der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit als Träger dieses Seelischen, der Entstehung psychischer Erkrankungen und der Wirksamkeit von Psychotherapie zu erreichen. Dabei sollten Neurobiologen, Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten und Philosophen zusammenarbeiten. Einen Erfolg in diesen Bemühungen sah der Biologe und Hirnforscher Prof. Dr. Dr. Gerhard Roth (* 1942), der Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs von 1997 bis 2008, als er eingeladen wurde, bei der Lindauer Psychotherapiewoche vom 22. April bis 27. April 2001 eine Vorlesung mit dem Titel "Wie das Gehirn die Seele macht" zu halten. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014 |