Bernhard Schlink: Sommerlügen. Geschichten |
Kritik: In den von Bernhard Schlink unter dem Titel "Sommerlügen" vereinten Geschichten geht es um (Lebens-) Lügen, Eheprobleme, Generations-konflikte, Kommunikations-schwierigkeiten, Versagensängste, Alter, Krankheit und Freitod. ![]() |
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Inhalt: Nachsaison – Die Nacht in Baden-Baden – Das Haus im Wald – Der Fremde in der Nacht – Der letzte Sommer – Johann Sebastian Bach auf Rügen – Die Reise nach Süden ![]() |
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Bernhard Schlink: Sommerlügen |
InhaltsangabeNachsaison
Richard, ein aus Berlin stammender Flötist des New York Philharmonic Orchestra, der sich den kleinen Finger der linken Hand brach, erholt sich auf Cape Cod im Südosten von Massachusetts, und zwar in der Nachsaison, weil er es sich sonst nicht leisten könnte. Statt im Hotel wohnt er in einer Privatunterkunft ("Bed & Breakfast"). In einem Fischrestaurant spricht er eine Amerikanerin an, die ihm bereits bei Wanderungen begegnete. Susan Hartman trägt Turnschuhe, Jeans und Sweatshirt. Als es um die Wahl des Weins geht, schlägt sie eine billige Flasche Sauvignon Blanc vor. Für den nächsten Tag lädt sie ihn zum Frühstück in ihr kleines Haus ein. Er merkte, dass er, als er Susan die nächsten Tage und Wochen beschrieben hatte, den zweiten Oboisten ausgelassen hatte. Sie trafen sich einmal in der Woche zum Abendessen beim Italiener an der Ecke, redeten über das Leben als Europäer in Amerika, berufliche Hoffnungen und Enttäuschungen, Orchestertratsch, Frauen – der Oboist stammte aus Wien und fand die amerikanischen Frauen ebenso schwierig, wie Richard sie bislang gefunden hatte. Er hatte auch den alten Mann ausgelassen, der in seinem Haus unter dem Dach wohnte und abends manchmal auf eine Partie Schach zu ihm kam und so einfallsreich und tiefsinnig spielte, dass es Richard nichts ausmachte, immer zu verlieren. Er hatte nicht von Maria erzählt, einem der Kids von der Straße, die irgendwie an eine Flöte gekommen war, sich von ihm beim Ansatz und bei den Griffen und beim Notenlesen helfen ließ und ihn zum Abschied umarmte, ihre Lippen auf seine gedrückt, ihren Körper an seinen gepresst. Er hatte ihr auch nicht vom Spanischunterricht bei dem salvadorianischen Lehrer im Exil erzählt, der eine Straße weiter wohnte, und nicht von dem gammeligen Fitnesscenter, in dem er sich wohl fühlte [...] Er hatte ihr nichts verheimlichen wollen. Es hatte sich einfach so ergeben. Die Nacht in Baden-BadenEin Dramatiker nimmt statt seiner Lebensgefährtin Anne seine fröhliche platonische Freundin Therese mit zur Premiere seines neuen Stücks in Baden-Baden und übernachtet mit ihr einem Doppelzimmer in Brenner's Park Hotel. Obwohl es danach nichts zu beichten gibt, verschweigt er Anne am Telefon, dass Therese bei ihm war. Bei Anne handelt es sich um eine auf feministische Rechtstheorie spezialisierte Juristin, die gerade im Rahmen eines Lehrauftrags einen Kurs in Oxford hält. Seit sieben Jahren sind sie ein Paar, aber aus beruflichen Gründen wohnt Anne nicht bei ihm in Frankfurt am Main. Anne hatte in Amsterdam eine Wohnung und einen Lehrauftrag, von dem sie nicht leben, den sie aber jederzeit ruhen lassen konnte, um in England oder Amerika oder Kanada oder Australien oder Neuseeland zu unterrichten. Dann besuchte er sie dort und blieb mal länger und mal kürzer. Anne rief allerdings in Brenner's Park Hotel an, während er und Therese schliefen, und die Hotelangestellte fragte Anne, ob "die Herrschaften" geweckt werden sollten. Das sagt sie ihm erst, als er sie in Oxford besucht. Er redet ihr zwar ein, das Personal verwende den Plural auch für einzelne Gäste, aber Anne bleibt skeptisch. Nachdem sie sich geliebt haben, wacht er mitten in der Nacht von ihrem Weinen auf.
"Ich muss die Wahrheit wissen, immer. Ich kann nicht mit Lügen leben. Mein Vater hat meine Mutter belogen, und er hat sie betrogen, und er hat meinem Bruder und mir Versprechungen über Versprechungen gemacht, die er nicht gehalten hat [...] Meine ganze Kindheit hatte ich keinen sicheren Boden unter den Füßen. Du musst mir die Wahrheit sagen, damit ich sicheren Boden unter den Füßen habe. Verstehst du das? Versprichst du es mir?" Während eines Kurzurlaubs in der Provence liest sie in einem Internet-Café heimlich seine E-Mails und findet heraus, dass er mit Therese in Baden-Baden war. Selbstverständlich nimmt sie an, dass er mit der Frau in seinem Zimmer Sex hatte, und sie lässt ihn nicht zu Wort kommen, sondern ohrfeigt ihn und spuckt ihm ins Gesicht. Sie versöhnen sich, aber Anne warnt ihn: Ich weiß nicht, ob ich, was geschehen ist, wegstecken kann. Aber ich weiß, dass ich es nicht wegstecken kann, wenn du mir weiter vormachen willst, da sei nichts gewesen. Es sieht aus wie eine Ente, es quakt wie eine Ente, und du willst mir weismachen, es sei ein Schwan? Ich hab deine Lügen satt, ich hab sie satt, ich hab sie satt. Sie will ihn erst am Abend wiedersehen. Er fährt ein Stück, wandert und isst dann in einem Dorfgasthof. Die Bedienung heißt Renée. Die Studentin ist nur im Sommer hier, um ihren Großeltern zu helfen. Er ist der einzige Gast, unterhält sich mit ihr, und als sie die Gaststätte nachmittags schließt, folgt er ihr ins Zimmer. Auch im Bett lachte Renée viel. Lachend nahm sie den blutigen Tampon heraus und legte ihn neben das Bett auf den Boden. Sie machte Liebe mit der Sachlichkeit und Gewandtheit, mit der man Sport treibt. Erst als sie beide erschöpft waren, wurde sie zärtlich und mochte ihn küssen und von ihm geküsst werden. Beim zweiten Mal hielt sie ihn fester als beim ersten, aber als es vorbei war, sah sie bald auf die Uhr und schickte ihn weg. Es war halb fünf. Ihre Großeltern würden bald zurück sein. Und er müsse nicht wiederkommen; in drei Tagen sei ihre Zeit in dem, wie habe er gesagt, gottverlassenen Dorf in den Bergen vorbei. Das Haus im WaldFür ihn waren Liebe und Familie die Erfüllung eines Traums, den er zu träumen begann, als die Ehe seiner Eltern, der Vater ein Verwaltungsangestellter und die Mutter eine Busfahrerin, immer tiefer in einen Strudel von Gehässigkeit, Geschrei und Gewalt gezogen wurde. Er wurde Schriftsteller. Bei einem Dinner auf der Buchmesse in Monterey saß der deutsche Nachwuchsautor, dessen Debütroman ins Amerikanische übersetzt worden war, neben einer ebenso jungen amerikanischen Schriftstellerin, deren Erstling man gerade ins Deutsche übersetzte. Er zog zu ihr nach New York, und ein halbes Jahr später heirateten sie. Dann kam Kates zweites Buch und wurde ein Bestseller. Jetzt trat nur noch sie auf. Nach ihrem dritten Buch ging sie weltweit auf Reisen. Er begleitete sie oft, mochte an den offiziellen Ereignissen aber nicht mehr teilnehmen. Zwar stellte Kate ihn immer als den bekannten deutschen Schriftsteller vor. Aber niemand kannte seinen Namen oder sein Buch, und er hasste die Höflichkeit, mit der man ihm begegnete, nur weil er Kates Mann war.
Während Kate berühmt wurde, machte er sich für seinen zweiten Roman gerade mal ein paar Notizen. Weiter kam er nicht. Stattdessen kümmerte er sich um die Tochter Rita und den Haushalt, während Kate schrieb. Vor einem halben Jahr zogen sie aufs Land, in ein abgelegenes Haus fünf Stunden von New York City entfernt, an der Grenze zu Vermont. Der Fremde in der Nacht
Für den Flug von New York nach Frankfurt am Main erhält der auf Verkehrsströmungslehre spezialisierte Physiker Jakob Saltin von der Universität Darmstadt einen Upgrade in die First Cass, weil die Business Class überbucht ist. Neben ihm sitzt ein etwa fünfzigjähriger Passagier, der sich als Werner Menzel vorstellt und ihm seine Geschichte erzählt.
"Sie haben Ihre Freundin verdächtigt, obwohl sie …" Sie hatten sich auf dem Balkon gestritten. Er habe sie gestoßen, gesteht Menzel, und da sei sie nicht zuletzt aufgrund ihrer Körpergröße übers Geländer gekippt.
"Da war noch die Sache mit dem Geld." Die Polizei fand die 3 Millionen, die ihm der Attaché überwiesen hatte, auf seinem Konto. Inzwischen waren es sogar 5 Millionen, weil er erfolgreich mit dem Geld spekuliert hatte ("Wem hätte es genützt, wenn das Geld nicht gearbeitet hätte?"). Saltin glaubt sich verhört zu haben, aber Menzel fährt fort: "Als wir uns kennenlernten, hat der Attaché manchmal Witze gemacht und den Beduinen gespielt, der noch nach seinen Gepflogenheiten lebt. Ah, schöne blonde Frau! Tauschen Frau? Wollen Kamele? Ich habe das Spiel mitgespielt, und wir haben gehandelt und gefeilscht. Den Preis eines Kamels haben wir mit dreitausend angesetzt, und den Preis meiner Freundin habe ich auf tausend Kamele hochgetrieben. Es war ein Spiel." Das Gericht habe kein Verständnis für ihn gehabt, klagt er. "Die Richter redeten mit mir, als hätte ich meine Freundin tatsächlich verkauft [...] Als hätte ich sie umgebracht [...] Der Staatsanwalt konnte es nur nicht beweisen. Bis die Nachbarin auftauchte."
Eine alte Dame, eine im Kopf noch ganz wache pensionierte Lehrerin, hatte gesehen, wie Ava vom Balkon gestoßen worden war. Weil er nur wegen fahrlässiger Tötung angeklagt war, hatte man weder sein Vermögen beschlagnahmt noch ihn festgenommen. Er transferierte das Geld auf die Virgin Islands, setzte sich am Abend vor der Zeugenaussage der Nachbarin aus Deutschland ab und ließ sich nach einer Odyssee in Kapstadt nieder. Der letzte Sommer
Seit fünfundzwanzig Jahren ist Thomas Wellmer als Medizinprofessor in New York tätig. Er weiß, dass er unheilbar krebskrank ist, verschweigt es jedoch den Angehörigen. Stattdessen lässt er sich von einem Kollegen einen Giftcocktail beschaffen, und den nimmt er mit in sein Haus am See, in dem er diesen letzten Sommer mit seiner Frau Barbara, dem Sohn Helmut, der Tochter Dagmar und den fünf Enkeln verbringen möchte, den Menschen, die er liebt, die er jedoch in seiner Arbeitswut vernachlässigte. Die Flasche mit dem Gift versteckt er hinter dem Champagner im Kühlschrank. Er beabsichtigt, sein Leben selbst zu beenden, wenn die Schmerzen unerträglich werde oder spätestens gegen Ende der Ferien [Suizid]. "Ich fahre in die Stadt. Euer Vater will sich an einem der nächsten Abende im Kreis seiner Lieben umbringen. Ich habe es nur durch Zufall herausgefunden, er wollte mir und euch nichts davon sagen, sondern einfach das Mittel trinken und einschlafen und sterben. Ich will damit nichts zu tun haben. Was er sich alleine ausgedacht hat, soll er auch alleine zu Ende bringen."
Auch die Kinder verlassen ihn mit den Enkeln. Wellmer bleibt allein zurück. Johann Sebastian Bach auf RügenAnlässlich eines Bach-Fests auf Rügen lädt er seinen Vater zu seiner kurzen Reise ein. Er will endlich mit ihm ins Gespräch kommen und mehr über ihn erfahren, ehe es zu spät ist. Warum musste er im Krieg nicht zum Militär? Warum gab er sein Richteramt auf und machte als Rechtsanwalt weiter? Aber der Sohn kommt dem Vater nicht näher. Die Reise nach SüdenDer Tag, an dem sie aufhörte, ihre Kinder zu lieben, war nicht anders als andere Tage.
Nina feiert in Hamburg ihren 80. Geburtstag. Sie wird von ihren vier Kindern, den Schwiegerkindern und Enkeln umsorgt, aber sie sind ihr fremd geworden. Der älteste Sohn ist Bundesrichter, der andere Museumsdirektor, die Töchter sind mit einem Professor bzw. einem Dirigenten verheiratet. Ihr Ehemann Helmut verließ sie wegen einer anderen Frau und ist wieder verheiratet. Nina ist überzeugt, dass sie Helmut nur geheiratet hatte, weil sie von der großen Liebe ihres Lebens verlassen worden war. "Ich habe nicht ausgehalten, dass ich mich falsch entschieden habe." |
Buchbesprechung:
Unter dem Buchtitel "Sommerlügen" hat Bernhard Schlink sieben Geschichten zusammengefasst. Eigentlich erwartet man unter diesem Begriff Lügen, deren Bedeutung nicht über einen Sommer hinausgeht, aber hier geht es um Lügen mit schwerwiegenden Folgen. Die Geschichten drehen sich um Lebenslügen, Eheprobleme, Generationskonflikte, die Unfähigkeit zur Kommunikation, Versagensängste, Alter, Krankheit und Freitod. In sechs der Geschichten sind die Protagonisten männlich, nur die letzte Geschichte wird aus Sicht einer (alten) Frau erzählt. Der Schluss bleibt jeweils offen. Wenn die Frauen mitspielen, geht es ihnen gut. Wenn sie nicht mitspielen, wechseln sie ein paarmal die Hände und enden in einem Bordell in Mombasa. (Es werden jedoch nicht die Hände der Frauen ausgewechselt, sondern sie gehen durch mehrere Hände.) Gelungen ist die Geschichte "Der Fremde in der Nacht": Hier überzeugt Bernhard Schlink mit einer skurrilen Handlung, amüsanten Auslassungen und Nachträgen, geschickten Steigerungen und überraschenden Wendungen. Je mehr es menschelt, desto weniger braucht mitgedacht zu werden. Und die Frage, inwieweit der Routinier Schlink mit Klischees und Stereotypen arbeitet, beantwortet sich von selbst, wenn man etwa liest, was ihm zu Johann Sebastian Bach einfällt. Aber warum soll man ihm das alles vorhalten? Wer handwerklich solide, humorfreie Unterhaltung für Mußestunden am Meer oder im Gebirge sucht, ist gut bedient. Wer Literatur als Kunstform schätzt, muss Schlink schließlich nicht lesen. (Kristina Maidt-Zinke, "Die Zeit", 23. September 2010) Die Geschichten, die Bernhard Schlink unter dem Titel "Sommerlügen" zusammengefasst hat, gibt es auch als Diogenes-Hörbuch, gelesen von Hans Korte (Regie: Detlef Fischer, Zürich 2010, ISBN 978-3-257-80297-9). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Bernhard Schlink: Der Vorleser |