Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht (Roman) |
Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht |
Inhaltsangabe:
Es klappert um sie herum. Als ihre Schwester heiratete, hatte die Mutter das Silberbesteck in eine Blechschüssel gelegt, auf eine Alufolie. Heißes Salzwasser darüber. Das saubere Besteck wurde nach einiger Zeit aus der Schüssel genommen und abgetrocknet: Es hatte genauso geklappert. Wer heiratet denn? Sie versucht die Augen zu öffnen. Fehlanzeige. Mehr als Augenöffnen versucht sie nicht. Ist genügsam. Sie kann aber sehr deutlich die Stimme ihrer Mutter hören. Ah, also doch das Besteck! Was sagt ihre Mutter? Mit dieser Szene beginnt Kathrin Schmidt ihren Roman "Du stirbst nicht".
Seit einiger Zeit wirtschaftet eine laute junge Frau um sie herum. Sie redet ununterbrochen. Mit wem redet sie nur so viel? Ist hier noch jemand? Sie kann doch den Kopf nicht drehen, stimmt ja … Nun muss sie die Augen aber wirklich aufmachen, denn irgendetwas verändert sich, sie wird aufgerichtet, angehoben, hingesetzt. Ihr wird schlecht. Da muss sie wohl etwas ganz komisches gegessen haben.
Die vierundvierzigjährige Schriftstellerin Helene Wesendahl hatte vor zwei Wochen eine Hirnblutung infolge eines geplatzten Aneurysma und lag nach zwei Operationen bis jetzt im künstlichen Koma. Sie kann sich weder bewegen noch artikulieren, hört jedoch, was im Raum gesprochen wird, auch wenn sie nicht alles einzuordnen vermag. Hilflos muss sie es hinnehmen, dass ihr ein Pfleger nach dem Defäkieren den Anus säubert. Helene kann Tag- und Nacht- und Koma- und Narkoseträume nicht unterschieden. (Seite 43)
Ergo-, Physio-, Logo- und Psychotherapie wechseln sich ab. Allmählich erobert Helene die Sprache zurück und lernt, ihr rechtes Bein ein wenig zu bewegen. Stück für Stück begreift sie ihre Situation und rekonstruiert ihre Vergangenheit.
Ein kleines, Mama rufendes Mädchen kommt an der Hand eines Mannes den Betonweg entlanggerannt. Die beiden bleiben stehen, das Mädchen sieht ihr erwartungsvoll in die Augen. Neugierig schaut sie zurück. Langsam dämmert ihr, dass sie es kennt. Es heißt Lottchen. (Seite 50) Von Matthes erfährt Helene, dass sie vorgehabt hatte, mit Lottchen zu ihrer Freundin Carla zu fahren. Am Tag vor der geplanten Reise brach sie jedoch aufgrund der Hirnblutung zusammen.
Als sie sich einigermaßen aufgeräumt zurücklehnt, taucht plötzlich das Bild der Korkwand in der Karlshorster Küche auf. Ja, die Karten für die Fahrt zu Carla waren mit einer Reißzwecke festgepinnt, fällt ihr ein. Sie rekonstruiert: daneben eine lange Aufstellung wichtiger Telefonnummern, zwei Holzhampelmännchen, eine Visitenkarte von Mr Nagarajan aus Bangalore, der ihr seit über einem Jahr einen Artikel schicken will. Sie lacht. Darunter – die Liste mit Dingen, die sie mitzunehmen gedachte.
Helene erinnert sich: Matthes schlief schon seit längerer Zeit in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach, und sie hatte beschlossen, ihn zu verlassen. Dass Matthes vor sechzehn Jahren zu ihrer damaligen Freundin Heidrun gezogen und nach sieben Wochen reumütig zurückgekommen war, spielte dabei keine Rolle. Aber warum wollte sie fort von ihm?
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht, Erneut kommt Helene im Krankenhausbett zu sich, kann kein Wort sprechen und sich überhaupt nicht bewegen. Eine Schwester versucht, sie zu füttern, und sie ist nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren, obwohl es sie würgt. Zum Glück ist Bill da, merkt es und schickt die eifrige Schwester weg. Kann mir mal jemand sagen, was ich hier will? Sie bringt die Frage einfach nicht heraus, das ist ja schlimmer als der Sprachverlust nach der Operation!, denkt sie. Damals waren im Moment des Sprechenwollens meist auch die Wörter weg, während sie jetzt doch da sind, aber keines kann ihren Mund verlassen! (Seite 227)
Sie hatte vor zwei Tagen einen epileptischen Anfall, unmittelbar nachdem ihr von Matthes die Nachricht vom Tod Violas überbracht worden war. In einem Berliner Krankenhaus behandelt man sie mit Ergenyl chrono, aber darauf reagiert sie allergisch, und ihre Beine schwellen an. Der von Matthes ohne Abstimmung mit den behandelnden Ärzten konsultierte Heilpraktiker verabreicht ihr ein homöopathisches Präparat und rät ihr, das Medikament gegen Epilepsie schleichend abzusetzen. Helene ist bemüht, den Mund geschlossen zu halten beim Essen. Kein Fädchen soll sich abseilen, kein Bröckchen herausfallen. In dieser Anstrengung krampft die rechte Hand, die sie nun unter dem Tisch zu halten versucht, die sich aber immer wieder langsam in die Höhe zieht. Es macht sie wütend, dass sie das Fleisch nicht selbst schneiden, die Kartoffeln nicht zerdrücken kann, oder? Ja, es ist Wut. Sie muss sich bezähmen [...] Allmählich merkt sie, wie Speichel einschießt, wie sie die Kaumuskeln nicht mehr bewegen kann, weil ihr Gesicht von einer Heulattacke verzogen wird und ihr Mund sich öffnet. Tränen rollen. Meine Güte, warum muss ihr das aber auch immer wieder passieren! Und sie kann ja nicht einmal rausrennen! (Seite 271)
Als ihr ein Arzt im Krankenhaus Blut abnimmt, erzählt sie ihm, sie habe die Einnahme von Ergenyl chrono schleichend abgesetzt und nehme jetzt kein Mittel mehr gegen Epilepsie. Kurz darauf wird sie zur Stationsleitung gerufen, wo drei Ärzte und zwei Schwestern ihr Vorhaltungen machen und Helene darauf hinweisen, dass sie die Verantwortung für ihre Behandlung tragen. Ist Helene denn nicht selbst für sich verantwortlich? Einer der Ärzte spricht mit Matthes und rät ihm, sich von einem Gericht vorübergehend als rechtlicher Betreuer für seine Ehefrau bestellen zu lassen, aber davon will er nichts hören.
Matthes sitzt im Wohnzimmer, liest. Sie setzt sich leise in den Sessel neben seinem, er sieht fragend zu ihr hin. |
Buchbesprechung:
Kathrin Schmidt war 2002 im Alter von vierundvierzig Jahren nach einer Hirnblutung vorübergehend gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Diese schreckliche Erfahrung verarbeitet sie in ihrem mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman "Du stirbst nicht", der von einer vierundvierzigjährigen Schriftstellerin handelt, die nach einer Hirnblutung im Krankenhaus aus dem Koma erwacht. Sowohl die Autorin als auch die Protagonistin Helene Wesendahl wuchsen in der DDR auf und studierten Psychologie. Bis auf diese Parallelen sei "Du stirbst nicht" kein autobiografischer Roman, betont Kathrin Schmidt. Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und lässt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt. (Begründung der Jury für den Deutschen Buchpreis 2009, zit. nach: www.deutscher-buchpreis.de) Der Aufbau des Romans und bis zu einem gewissen Grad auch die Sprache folgen dem Prozess der Wiedererlangung des Sprech- und Erinnerungsvermögens. Diese Entwicklung ist nachvollziehbar und wirkt authentisch. Gerade weil Kathrin Schmidt nüchtern und unpathetisch schreibt und sich stilistisch weit abseits der Betroffenheitsliteratur bewegt, ergreift dieser Teil der Geschichte den Leser. Je nach Bewusstseinszustand und Sprachfertigkeit Helenes variiert das Satztempo, woraus sich vom Verstummen über Stakkato bis zu rhythmischer Dynamik ein facettenreiches Klangbild des Romans ergibt. (Walter Fabian Schmid, www.poetenladen.de)
Die Beziehungsgeschichte bleibt dagegen schemenhaft; Bedeutung kommt ihr nur als Material für die Darstellung des sich allmählich aus Bruchstücken zusammensetzenden Erinnerns der Patientin zu.
Viola [...] blieb der verwandelte Vamp, dessen Lippenstift stündlich nachgezogen werden musste. (Seite 159; nicht der Lippenstift, sondern die Lippen mussten nachgezogen werden)
Der Jury, die den Deutschen Buchpreis 2009 vergab, gehörten an: Richard Kämmerlings (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Michael Lemling (Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (Literaturkritiker), Lothar Müller (Süddeutsche Zeitung), Iris Radisch (Die Zeit), Daniela Strigl (Literaturwissenschaftlerin, Universität Wien) und Hubert Winkels (Deutschlandfunk) als Sprecher. Aus zwischen 1. Oktober 2008 und 16. September 2009 veröffentlichten Romanen wählte die Jury zunächst 154 Titel aus und stellte dann in zwei weiteren Schritten eine "Longlist" (20 Titel) und eine "Shortlist" (6 Titel) zusammen. Auf der "Shortlist" standen außer "Du stirbst nicht" von Kathrin Schmidt: "Lichtjahre entfernt" von Rainer Merkel, "Atemschaukel" von Herta Müller, "Überm Rauschen" von Norbert Scheuer, "Die Frequenzen" von Clemens J. Setz und "Grenzgang" von Stephan Thome. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Kathrin Schmidt: Die Gunnar-Lennefsen-Expedition |