Arthur Schnitzler: Traumnovelle (Erzählung) |
Kritik: Obwohl Arthur Schnitzler eher sachlich und distanziert schreibt, veranschaulicht er sehr genau sowohl die Motive als auch die psychologische Entwicklung des Protagonisten, und es gelingt ihm zugleich, der "Traumnovelle" eine geheimnisvolle, teilweise surreale Atmosphäre zu geben. ![]() |
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Arthur Schnitzler: |
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Inhalt: Verstört durch die Entdeckung, dass auch seine Ehefrau nicht frei von unterdrückten Sehnsüchten ist und ihre Beziehung durchaus von Dritten gefährdet werden könnte, verlässt ein Wiener Arzt sein Haus und eilt zu einem Patienten. Unversehens gerät er in eine aggressive Stimmung gegen seine Frau, die auch eine erotische Komponente hat ... ![]() |
Erstveröffentlichung: Die Dame, 1925/26 Traumnovelle Erstausgabe: S. Fischer Verlag, Berlin 1926 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 12, München 2004 |
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Arthur Schnitzler: Traumnovelle |
Inhaltsangabe: Harmlose und doch lauernde Fragen, verschmitzte, doppeldeutige Antworten wechselten hin und her; keinem von beiden entging, dass der andere es an der letzten Aufrichtigkeit fehlen ließ, und so fühlten sich beide zu gelinder Rache aufgelegt. Sie übertrieben das Maß der Anziehung, das von ihren unbekannten Redoutenpartnern auf sie ausgestrahlt hätte, spotteten der eifersüchtigen Regungen, die der andere merken ließ, und leugneten ihre eigenen weg. Doch aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen [...] sie wussten, dass gestern nicht zum erstenmal ein Hauch von Abenteuer, Freiheit und Gefahr sie angerührt [...]
Albertine erinnert Fridolin an die letzten Sommerferien an einem Strand in Dänemark. Im Hotel sei ihr ein junger Marineoffizier aufgefallen. Ein Wort von ihm hätte genügt, und sie wäre ihrem Mann untreu geworden. Beim Abendessen erhielt er ein Telegramm, erbleichte, stand auf – und am anderen Tag sah sie ihn nicht mehr: Er war offenbar abgereist. Fridolin gesteht ihr, er habe während der Ferien auch ein erotisches Erlebnis gehabt. Am frühen Morgen, bevor Albertine erwachte, pflegte er am Strand spazieren zu gehen. Einmal begegnete er vor einer Badehütte einem unbekleideten, vielleicht fünfzehn Jahre alten Mädchen. Sie blickten sich an, dann ging er rasch weiter. Sie hörte kaum, was er sagte. Ihre Augen wurden feucht, große Tränen liefen ihr über die Wangen herab und wieder verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Unwillkürlich legte er seine Hand auf ihren Scheitel und strich ihr über die Stirn. Er fühlte, wie ihr Körper zu zittern begann, sie schluchzte in sich hinein, kaum hörbar zuerst, allmählich lauter, endlich ganz ungehemmt. Mit einem Mal war sie vom Sessel herabgeglitten, lag Fridolin zu Füßen, umschlang seine Knie mit den Armen und presste ihr Antlitz daran. Dann sah sie zu ihm auf mit weit offenen, schmerzlich-wilden Augen und flüsterte heiß: "ich will nicht fort von hier. Auch wenn Sie niemals wiederkommen, wenn ich Sie niemals mehr sehen soll; ich will in Ihrer Nähe leben." Fridolin versucht, sie zu beruhigen und diagnostiziert Mariannes Verhalten nüchtern als Arzt ("natürlich ist auch Hysterie dabei"). Er zog Marianne fester an sich, doch verspürte er nicht die geringste Erregung; eher flößte ihm der Anblick des glanzlos trockenen Haares, der süßlich-fade Geruch ihres ungelüfteten Kleides einen leichten Widerwillen ein.
Erleichtert verabschiedet er sich, sobald Dr. Roediger und Verwandte eintreffen. Er verspürt eine seltsame Unlust, nach Hause zu gehen. In einer dunklen Gasse wird er von einer siebzehnjährigen Prostituierten angesprochen, und eh er sich versieht, folgt er ihr ins Haus. Seit seiner Gymnasiastenzeit war er nicht mehr bei einer Hure. Er findet Mizzi reizend, möchte aber nur eine Weile ihre Stimme hören. Die Geldscheine, die er ihr anbietet, nimmt sie nicht. Wieder auf der Straße, merkt er sich das Haus und nimmt sich vor, am nächsten Tag Wein und Süßigkeiten vorbeizuschicken. "Wenden Sie sich nicht nach mir um. Noch ist es Zeit, dass Sie sich entfernen. Sie gehören nicht hierher. Wenn man es entdeckte, erginge es Ihnen schlimm."
Fridolin erschrickt zwar, aber die Neugier und der Stolz auf seinen Wagemut sind stärker: Er bleibt. Der Raum füllt sich mit Nonnen und Mönchen. Nachtigall beginnt zu spielen. Die Nonnen verschwinden. Dann tauchen sie an einer hell erleuchteten Stelle wieder auf, mit schwarzen Spitzenlarven vor dem Gesicht und dunklen, bis zum Nacken reichenden Schleiern über dem Haar. Ihre nackten Körper sind ausnahmslos wohlproportioniert. Tanzpaare finden sich. Dann löst eine der Schönen sich von ihrem Partner und nähert sich Fridolin. An der Stimme erkennt er, dass es sich um die Frau von vorhin handelt. Sie warnt ihn erneut, es sei fast schon zu spät für seine Flucht. Fridolin will jedoch die Frau, von der er bisher nur den wunderbaren Körper gesehen hat, nicht aufgeben und weigert sich, den Saal zu verlassen. Einer der Kavaliere, der vornehmste von allen, fordert die Unbekannte zum Tanz auf. Ein anderer verlangt flüsternd die Parole. "Dänemark", erwidert Fridolin. "Ganz recht, mein Herr, dies ist die Parole des Eingangs. Die Parole des Hauses, wenn ich bitten darf." Die kennt der Eindringling nicht. Das Klavierspiel bricht ab. Die Kavaliere umringen ihn drohend. Als die Türen geschlossen sind, wird Fridolin aufgefordert, seine Maske abzunehmen. Er weigert sich. Da ruft die Unbekannte, die Fridolin gewarnt hatte: "Lasst ihn, ich bin bereit, ihn auszulösen." Und auf die Frage, ob sie wisse, was sie damit auf sich nehme, antwortet sie mit einem klaren "Ja". Fridolin möchte nicht, dass eine Frau für ihn bestraft wird, aber sie drängt ihn, das Haus zu verlassen, denn ihr könne er ohnehin nicht mehr helfen. Ich aber fand dein Gebaren über alle Maßen töricht und sinnlos, und es lockte mich, dich zu verhöhnen, dir ins Gesicht zu lachen, – und gerade darum, weil du aus Treue zu mir die Hand einer Fürstin ausgeschlagen, Foltern erduldet und nun hier heraufgewankt kamst, um einen furchtbaren Tod zu erleiden.
Am Morgen versorgt Fridolin einen Kranken. Dann geht er zu dem Kellerlokal, in dem Nachtigall am Abend zuvor Klavier gespielt hatte. Die Kassiererin nennt ihm den Gasthof, in dem sein früherer Kommilitone abgestiegen war. Dort berichtet der Portier, der Gast sei um 5 Uhr früh in Begleitung von zwei Herren erschienen, die seine Rechnung für die letzten vier Wochen bezahlten, während er seinen Koffer packen sollte. Als er nach einer halben Stunde noch immer nicht zurückkam, holten sie ihn aus seinem Zimmer – er machte einen recht aufgeregten Eindruck – und fuhren mit ihm fort. Das junge Mädchen mit dem verdächtigen Spitzenkatarrh dort im letzten Bett lächelte ihm zu. Es war dieselbe, die neulich bei Gelegenheit einer Untersuchung ihre Brüste so zutraulich an seine Wange gepresst hatte. Fridolin erwiderte ihren Blick ungnädig und wandte sich stirnrunzelnd ab. Eine wie die andere, dachte er mit Bitterkeit, und Albertine ist wie sie alle – sie ist die Schlimmste von allen. Ich werde mich von ihr trennen. Es kann nie wieder gut werden. Sobald wie möglich bittet er einen Kollegen, für ihn einzuspringen und fährt zu der Villa, in der die Orgie stattfand. Unschlüssig schaut er durchs Tor. Ein alter Diener kommt bedächtig auf ihn zu und überreicht ihm einen Brief. "Geben Sie Ihre Nachforschungen auf, die völlig nutzlos sind, und betrachten Sie diese Worte als zweite Warnung. Wir hoffen in Ihrem Interesse, dass keine weitere nötig sein wird."
Fridolin will Marianne aufsuchen. Im Hausflur kommt ihm Dr. Roediger entgegen. Seine Verlobte werde sich über den Besuch des Hausarztes freuen, meint er, und entschuldigt sich, weil er Besorgungen zu erledigen habe. Marianne öffnet ihm, aber Fridolin fallen nur höfliche Floskeln ein. Als er sich nach einer Weile von ihr verabschiedet, nimmt sie es kaum zur Kenntnis und bleibt wie versteinert sitzen. [...] ob die Frau, die nun da drin in der Totenkammer lag, dieselbe war, die er vor vierundzwanzig Stunden zu den wilden Klängen von Nachtigalls Klavierspiel nackt in den Armen gehalten oder ob diese Tote irgendeine andere, eine Unbekannte, eine ganz Fremde war, der er niemals vorher begegnet; er wusste: auch wenn das Weib noch am Leben war, das er gesucht, das er verlangt, das er eine Stunde lang vielleicht geliebt hatte, und, wie immer sie dieses Leben weiter lebte; – was da hinter ihm lag in der gewölbten Halle, im Scheine von flackernden Gasflammen, ein Schatten unter anderen Schatten, dunkel, sinn- und geheimnislos wie sie –, ihm bedeutete es, ihm konnte es nichts anderes mehr bedeuten als, zu unwiderruflicher Verwesung bestimmt, den bleichen Leichnam der vergangenen Nacht. Als er zu Hause im Schlafzimmer den gleichmäßig-ruhigen Atem seiner Frau hört, nimmt er sich vor, ihr alles zu erzählen und sie von der Nichtigkeit seiner Abenteuer zu überzeugen. Sein Blick fällt auf die Larve, die auf seinem Kopfkissen liegt. Sie muss aus der zusammengerollten Mönchskutte herausgefallen sein. Schluchzend geht Fridolin vor dem Bett auf die Knie. Dann fühlt er, wie ihm Albertine zärtlich übers Haar streicht. Vorbehaltslos beginnt er zu erzählen. Es dämmert bereits, als er zum Ende kommt und sie verstört fragt, was sie jetzt tun sollen. Albertine antwortet: "Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, dass wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und aus den geträumten." Dann fügt sie hinzu: "Nun sind wir wohl erwacht, für lange."
Still liegen sie nebeneinander, bis die Hausangestellte um 7 Uhr an die Tür klopft und ein neuer Tag beginnt. |
Buchbesprechung: "In jedem Wesen – glaub' es mir, wenn es auch wohlfeil klingen mag, – in jedem Wesen, das ich zu lieben meinte, habe ich immer nur dich gesucht. Das weiß ich besser, als du es verstehen kannst, Albertine."
Statt mit dem Bruch der ehelichen Beziehung zu enden, bewirkt die Gefährdung eine Katharsis. Aus der Ehekrise gehen Fridolin und Albertine beide mit einem größeren Verständnis füreinander hervor.
Unter dem Titel "Eyes Wide Shut" hat Stanley Kubrick die "Traumnovelle" verfilmt. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Stanley Kubrick: Eyes Wide Shut |