Frank Schulz: Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien (Roman) |
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Inhaltsangabe:
Bodo ("Mufti") Morton wurde am 11. Februar 1957 in einem Dorf bei Stade geboren. Im neunzehnten Semester brach er sein geisteswissenschaftliches Studium ab. 1983 lernte er Anita ("Nita") Heidemarie Adamczik kennen, und die beiden wurden ein Paar.
Ferner Schnürbandproblem. Liegt in der Kindheit begründet. Vor über 30 Jahren haben wir das Schleifenbinden falsch gelernt, und so müssen wir uns seit über 30 Jahren damit herumplagen, dass die Schleife nicht einfach an einem Senkel aufgezogen werden kann, ohne dass ein Gordischer Knoten entsteht. Geschlagene fünf Minuten dran rumgefummelt! Rechnen wir nur mal drei pro Tag, dann sind das in 30 Jahren über 500 Stunden! Mehr als drei Wochen unseres Lebens bisher damit vertändelt, die Schnürbänder zu entwirren! Hin und wieder ist Mufti auch spaßig.
Als ich Anfang November die HaBa betrat und den mit meinem flotten Autogramm versehenen Auszahlungsschein unter dem Panzerglas hindurchschob, thronte dahinter ein teures Frl. Behrend – Gott! das nackte "Nüüülon" (Heino Jaeger)! Während Anita mit ihrer Freundin Conny 1987 einige Monate durch die USA reist, erhält Mufti den Auftrag, die Präsentationsveranstaltung des neuen Konkurrenzprodukts "Süderelbe plus" am 21. Oktober in der "Hexenkate" zu besuchen und darüber einen Artikel zu schreiben. Weil der Dreißigjährige sich in der Uhrzeit täuscht, trifft er eine Stunde zu früh ein – und lernt auf diese Weise die achtzehnjährige Bärbel ("Bülbül") Befeld kennen. Maße: 102-60-105.
Die Tür stand offen. Das Lokal war leer. Bärbel ist zwar ein bisschen dumm, dafür ungeniert und unersättlich geil. Mufti verfällt der Frau, die ihm in der ersten Nacht ihr "Becken brutal über die Nase stülpt" (Seite 211) und dabei "komm, leck mich; leck mich, geiler Bock" (Seite 211) keucht und ihn von da an nun nur noch "Böckchen" oder "Boboböckchen" ruft. So etwas erlebt er in seiner "dreißigjährigen Laufbahn als Testosteronproduzent" (Seite 211) zum ersten Mal, und er stöhnt:
Bärbeln. Bis ans Ende meiner Tage. Bärbeln, von vorn, von hinten, seitwärts, oben hinein, unten hinein. Immer hinein. In die Achselhöhlen. Zwischen die beiden Brüste, die in ihrer Seele wohnen. Zwischen die gebenedeiten Schenkel, die festen Füße, die kühlen Fäuste. Bärbeln, bärbeln, BÄRBELN. BÄRBELN. Bärbeln und bärbeln lassen. Bärbeln und gebärbelt werden. Einmal fahren sie nachts auf die wegen Bauarbeiten gesperrte Köhlbrandbrücke und kommen dort zu einem "54-Meter-Höhepunkt" (Seite 661). [...] hinterrücks aufgespießt klemmte Bärbel quer zwischen der Notreling und dem Brückengeländer und starrte schreiend in die klaffende Tiefe [...] (Seite 335) Vergeblich versucht Mufti, ihr den korrekten Gebrauch der Begriffe "leihen" und "borgen" beizubringen.
[Bärbel:] "Du hast dir doch gestern Nacht dreißig Mark von mir geliehen –"
Ihren Vater Franz kennt Bärbel nicht. Ihre Mutter Marion sah ihn auch nur einige Stunden lang: Bei einer Straßenschlacht zwischen Polizei und Demonstranten im Jahr 1968 schlug er einen Polizisten nieder, der sie an den Haaren hinter sich hergezogen hatte, flüchtete mit ihr in eine Kommune und zeugte dort mit ihr Bärbel. Marion putzte bei einem Soziologieprofessor, kellnerte, brachte Bärbel zur Welt, gründete einen Kinderladen, kellnerte wieder und studierte, bevor sie im Sommer 1970 den Politologie-Studenten Jobst Befeld heiratete, einen Irrwisch, "der halbtags qua Spaßguerilla die Berliner Expropriateure expropriierte" (Seite 555). Nach ein paar Monaten wurden ihm die Wochenenden mit der überarbeiteten Mutter zu anstrengend, und er setzte sich ab, angeblich zum Opalschürfen nach Australien. Marion Befeld, 'ne frustrierte Schmuddelsuffragette, von den klimakterischen Vorboten derart, ja?, gebeutelt, ja?, dass sie die Vertreter des mescalsaufenden Machismo vaginal inkorporiert, so oft's irgend geht. Ja? (Seite 155)
Ihre Schwester Irene und deren Ehemann Karl Knaack führen übrigens die Kneipe "Zum Runden Eck". Wie ist das bloß alles möglich. Weshalb hat man nicht einfach die Kündigung akzeptiert. Weshalb hat man sie nicht einfach als willkommenen Anlass genommen, der Süderelbe den schmerzenden Rücken zu kehren, sich irgendeinen verantwortungsarmen Bürojob zur Finanzierung des Studiums gesucht, endlich das Examen gemacht, Anita geheiratet, und dann hätte man weitersehen können. Man hätte promovieren können. Praxis Dr. Morton. Man hätte Tierpfleger werden können. Oder Tischler wie sein Vater. Und Vater hätte man werden können. Irgendwas hätte man werden können. Mit dreißig wär's noch nicht gar zu spät gewesen. (Seite 317)
Anfang Februar 1988, drei Tage vor Muftis 31. Geburtstag, kehren Anita und Conny aus den USA zurück. [...] von einem Sonntagsfahrer, einem dieser halbtoten Hutträger, die ihren Mittelklassewagen einmal pro Woche aus der Garage holen, damit die Bremse nicht einrostet. (Seite 390) Mufti erholt sich von dem Schädel-Hirn-Trauma und könnte nun "Bäume jäten" (Seite 392).
Da war's, das neue Leben. Ich war ein Muster an fitness und wellness. Ich schlief wie ein Baby, federte noch vorm Weckerfiepen aus dem Bett, und kaum aufgestanden, trabte ich schon im Trainingsanzug den Isekai entlang … – ah, wie willfährig der Tee über die Geschmacksknospen rieselte, wie hingebungsvoll sich Müsli von wurzelstarken Zähnen zermalmen ließ und wie gefügig Obst und Gemüse … – und wie geschmeidig kerngesunder Stuhl durch die blühende Darmflora glitt, ja abging wie 'ne Rohrpost! Was für einen fantastischen Organismus durfte man sein eigen nennen! Die Äuglein glänzten! Schuppenlos rein die Haut, Haare splissfrei, 'ne Wucht Herz und Nieren! Und das bei einem weiland strammen Spitzen-Alkoholathleten wie unsereins!
In der Nacht auf den 10. Dezember 1988 ertappen Mufti und seine Chefin Irmgard Schröder deren Ehemann Sven mit der Volontärin Simone ("Zitrone") Zimmermann in flagranti auf Bertram Heinsohns Leuchttisch. Zum Trost treibt die Herausgeberin es von da an hin und wieder mit Mufti. Den ganzen Winter über hockte ich in jeder langweiligen Minute in Bärbels Luxuswohnung, trank nachmittags Brandy zum Tee und abends Bier zum Brandy und ließ mich aushalten und blätterte in ihren modernen Frauenzeitschriften. Alles war Erotik, aber das war auch alles. Alles wurde immer bunter, immer geiler und peinlicher, und Bärbel wurde immer dicker – wie ich [...] (Seite 678)
Innerhalb kurzer Zeit ruiniert Bärbel das Blumengeschäft, aber ihren "spätvenezianischen Lebensstil" (Seiten 296 / 678) behält sie bei. Das hat man davon, wenn man als Dorftrottel 'ne kluge Frau heiratet. Man muss sich "Kleinkariertheit" vorwerfen lassen, "rentnerhafte Nörgelsucht", "Jähzorn", "Egomanie", "Katatonie", "Melancholie" etc. Ausgepumpt von der Zankerei hat man Sonntagnacht im Sofa gesessen und sich zuüblerletzt auch noch Folgendes anhören müssen: "Was ist aus dir geworden. Abends 'ne Fresse, morgens 'ne Fresse. Deine Fresse morgens, die müsstest du mal sehen. Früher bist zu aufgewacht und hast gelacht." (Seite 362) Entnervt mietet Mufti sich im Juli 1993 heimlich eine "Schreibklause", in der er sich auch mit Bärbel trifft, ohne dass Anita davon erfährt. [...] ich mein klandestines Parallelleben mit Bärbel und ihrem Klan weiterführte, während ich noch hin und wieder mit [Bärbels Mutter] Marion schlief, ohne Wissen Bärbels, und mit Hasy, ohne Wissen Marions und Doc Brokstedts, und mit Bärbel, ohne Wissen Anitas (und ein einziges Mal noch, in einer schwachen, ja schwachsinnigen Stunde mit Irmi [...]) (Seite 681)
Im Winter 1994/95 stöbert ihn dann auch noch seine frühere Geliebte Lala durch einen Detektiv auf und läutet mit ihren "Lotterglocken" die "Schwarze Phase" ein (Seite 375). Pass auf, Mordtn, aldta Schmierfiengk. Follgndess. Ich bin dehmnehchßd freia Midd'ahbeidta bei eim gewissn ßohschl Ikßperrimendt eh Fau, und da wird ich mid Geld nuhr so zugeschissn. Unßwah bei eussaßd angenehma Tehdtichkeidt. (Seite 605) Anfang der Neunzigerjahre, berichtet Rudi über die Entstehung seiner Geldquelle, saß der bettelarme Soziologiestudent Hansjürgen Störtzer auf einer Anlagenbank an der Alster. Da legte genau vor ihm eine Ruderin an, kettete sich mit Handschellen neben ihn und forderte ihn auf, ihr das Höschen auszuziehen. Zögernd ging Störtzer darauf ein. Dann stellte sich heraus, dass alles nur eine Show war, um ein paar Perverse aufzugeilen, die aus ihrem Versteck hinter einem Rhododendron und mit einem Feldstecher von einer Villa aus zusahen. Als Schweigegeld drückten ihm die Männer tausend Mark in die Hand. Das brachte Störtzer auf die Idee, sein letztes Geld für Anzeigen in Manager-Magazinen auszugeben: "Alles erreicht: Aber auch alles erlebt? Dann Social EXperiment e. V." (Seite 618)
Als Mufti das hört, entwickelt er spontan ein paar Ideen, zum Beispiel eine Pseudovergewaltigung von VIPs durch authentische Strafgefangene, aber Rudi nennt ihn vorwurfsvoll einen "Zühniggka" (Seite 619). Sribo, ergo, summa summarum, sum [...] (Seite 544) In seinem "Herbstjournal 1994" schreibt er:
Dennoch schwierigste Einschlafprobleme gehabt: Vollmond. Tidenhub im schwammigen Körper gespürt. Ordentlich was weggegrübelt. Morgens kaum noch nachvollziehbar, was nächtliche Hirngespenster so alles anstellen können[...] Erschrocken stellt er plötzlich fest, dass er verkehrt herum atmet: Statt einzuatmen, atmet er aus und umgekehrt (Seite 534). Er gerät in Panik.
Es brauste in meinen Eustachischen Röhren, kalter Schweiß stand mir auf der Oberlippe, und meine Nerven machten Radau. (Seite 232) Um sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, fasst Mufti gute Vorsätze.
Man muss sich erstmal fangen, aber es wird schon. Wird schon alles gut. Ach, man wird ein ganz normales Leben führen, abends schlafen gehen, morgens aufstehn, wie jeder andere Blendamed-Verwender auch. (Seite 347) Als er Sex nur noch als Belastung empfindet, wundert er sich der Achtunddreißigjährige in seinem Tagebuch: Wo zum Teufel bleibt denn die vielzitierte Altersgeilheit ... (Seite 686)
Mufti wird endgültig entlassen, weil er hin und wieder auch für andere Zeitungen schreibt, obwohl Irmgard Schröder darauf pocht, dass die festen Angestellten des "Elbe Echo" ihre gesamte Arbeitskraft dem Anzeigenblatt zur Verfügung stellen. (Dummerweise vergaß er, ein Pseudonym zu verwenden.) "Hier ist Bäärbül, bist du daaa? Ich hab mir 'n neuen Slip gekauft. Bist du daaa? Ich muss ma wieder ordnlich durchgefickhick!, fickt werden. Bist du daaa? Mp." (Seite 45)
Über eine Nichte ihrer Freundin Heidrun, die bei der HaBa arbeitet, erfährt Anita, dass auf dem Konto ihres arbeitslosen Ehemanns ein Guthaben von 368 320 DM liegt. Vorgestern wurden 10 000 DM abgehoben. Dann finden Anita und Conny auch noch Muftis geheime Schreibklause und dort seine Tagebücher von Herbst 1994 bis Frühjahr 1995.
"Fontanellen", sagte ich, "lateinisch fonticuli. Ich benutze das Signifikat metaphorisch, was wiederum wesentlicher Bestandteil meiner Theorie ist. Aber zunächst mal: Per definitionem handelt es sich um die anatomische Bezeichnung für Knochenlücken des Schädels von Neugeborenen [...]"
Im Klinikum für Psychosomatik und Psychiatrie zu Bad Suden wird Mufti von Nikotin, Alkohol und seiner Verrücktheit entwöhnt. Bei ihrem ersten Besuch in Bad Suden eröffnet Anita ihm, dass sie die Scheidung eingereicht habe. Nach vierzehn Monaten wird Mufti entlassen. Einige Wochen später zieht er in das leer stehende Haus eines Freundes in Griechenland – und beginnt dort im Oktober 1996 mit der Arbeit an dem vorliegenden Schmöker. |
Buchbesprechung:
Der Roman "Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien" von Frank Schulz setzt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste und der letzte Teil bilden eine Rahmenhandlung.
Frank Schulz wurde 1957 in Hagen bei Stade geboren. Sein Debütroman "Kolks blonde Bräute" erschien 1991 im Haffmans Verlag, Zürich. "Kolks blonde Bräute", "Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien" und "Das Ouzo-Orakel" (Eichborn-Verlag, Mai 2006) bilden zusammen die Hagener Trilogie. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004 |
Frank Schulz: Kolks blonde Bräute Frank Schulz: Das Ouzo-Orakel |