Leo Tolstoi / Lew N. Tolstoj: Krieg und Frieden (Roman) |
Kritik: Vor dem farbigen Panorama der russischen Geschichte von 1805 bis 1825 entwickelt Leo Tolstoi in "Krieg und Frieden" ein monumentales Familienepos, in dem zahlreiche Handlungsstränge meisterhaft verknüpft sind. ![]() |
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Inhalt: Als Pierre Besuchow, der uneheliche Sohn eines wohlhabenden russischen Grafen, dessen Titel und ein gewaltiges Vermögen erbt, bringt ihn Fürst Wasili Kuragin dazu, seine Tochter Helene zu heiraten. Die Ehe scheitert jedoch nach kurzer Zeit. Fürst Andrei Bolkonski, Pierres bester Freund, nutzt 1805 den Krieg, um seiner schwangeren Ehefrau zu entfliehen. Sie stirbt bei der Geburt eines Sohnes. 1810 verlobt Andrei sich mit Natascha, der Tochter eines verarmten Grafen ... ![]() |
Manuskript: 1863 – 1866 |
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Leo Tolstoi: Krieg und Frieden |
Inhaltsangabe:Pierre Besuchow, der uneheliche Sohn des wohlhabenden russischen Grafen Kirill Wladimirowitsch Besuchow, wird ab dem zehnten Lebensjahr von einem Abbé im Ausland erzogen, hat aber keine geschliffenen Umgangsformen, als er mit zwanzig nach Russland zurückkommt. Anna Pawlowna Scherer, die hochangesehene Hofdame und Vertraute der Kaiserinmutter Maria Feodorowna, führt den Napoleon-Anhänger auf einer Soiree im Juni 1805 in die Petersburger Gesellschaft ein. Pierre zeigte sich recht unbeholfen. Von ungewöhnlicher Körpergröße, dick und breit gebaut, mit mächtig großen, roten Händen, verstand er, wie man sich ausdrückt, nicht, in einen Salon einzutreten, und noch weniger verstand er, einen Salon zu verlassen, das heißt, vor dem Hinausgehen etwas besonders Liebenswürdiges zu sagen. Außerdem war er augenblicklich auch noch zerstreut [...] Aber seine Zerstreutheit und seine Unkenntnis der Art, wie man einen Salon zu betreten, darin zu reden und schließlich wegzugehen hat, dies alles wurde durch den gutmütigen, einfachen, bescheidenen Ausdruck seines Gesichts wieder wettgemacht, sodass man ihm nicht böse sein konnte. (Seite 39f)
Kirill Wladimirowitsch Besuchow stirbt und hinterlässt Pierre nicht nur den Grafentitel, sondern auch ein riesiges Vermögen, das es dem jungen Mann ermöglicht, die Entscheidung über seinen Berufsweg weiter vor sich herzuschieben. Allerdings intrigieren geldgierige Verwandte gegen ihn, und die Gutsverwalter, die seine Arglosigkeit rasch durchschauen, bereichern sich auf seine Kosten. Zwielichtige Freunde wie Anatol Kuragin nutzen ihn aus, und dessen Vater, Fürst Wasili Kuragin, bringt Pierre dazu, Anatols Schwester Helene zu heiraten. "Heirate nicht eher, als bis du alles geleistet hast, wozu deine Kräfte dich befähigen, und nicht eher, als bis du die Frau, die du dir ausgewählt hast, aufgehört hast zu lieben [...] Heirate, wenn du ein Greis bist, der zu nichts mehr taugt. Sonst wird alles, was in dir Gutes und Hohes wohnt, zugrunde gehen." (Seite 49)
Als Napoleon im Oktober 1805 Dörfer und Städte des Erzherzogtums Österreich besetzt und Kaiser Franz II. die Russen unter ihrem Oberbefehlshaber Fürst Michail Illarionowitsch Kutusow zu Hilfe ruft, nutzt Andrei die Gelegenheit, seiner schwangeren Frau zu entfliehen. Bevor er in den Krieg zieht, schickt er Lisa zu seinem strengen Vater Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski nach Lysyje-Gory. Dort lebt auch Andreis unverheiratete Schwester Marja Bolkonskaja mit ihrer Gesellschafterin Amelie Bourienne. Im Gegensatz zu ihrem agnostischen Vater ist Marja tief religiös. "Meine Herren, die Disposition für morgen, oder richtiger für heute, da es ja schon nach Mitternacht ist, kann nicht mehr geändert werden [...] Vor einer Schlacht ist aber nichts wichtiger …" (er schwieg einen Augenblick) "als sich ordentlich auszuschlafen." (Seite 457) Am Morgen des 2. Dezember 1805 ist der Nebel so dicht, dass man kaum zehn Schritt weit sieht. Kutusow verhält sich abwartend, aber der ehrgeizige Zar Alexander I. drängt zum Angriff.
"Warum fangen Sie denn nicht an, Michail Illarionowitsch?", wandte sich Kaiser Alexander mit einer raschen Bewegung an Kutusow, blickte aber gleichzeitig höflich den Kaiser Franz an. In der Schlacht springt Andrei vom Pferd, packt die einem Fähnrich entglittene Fahne und stürmt vorwärts. Ein Franzose versetzt ihm mit dem Bajonett einen Hieb gegen den Kopf. "Was ist los? Fall ich? Die Knie knicken mir ja ein!", dachte er und fiel rücklings auf die Erde. (Seite 488)
Er blickt in den Himmel und rechnet ruhig und still mit seinem Tod. Erst am Abend, als Napoleon die Dreikaiser-Schlacht bereits gewonnen hat, plagt ihn der Schmerz. Da hört er Napoleon persönlich. In Begleitung von zwei Adjutanten reitet der französische Kaiser über das Schlachtfeld. Als Andrei stöhnend ein Bein bewegt, merkt Napoleon, dass er noch lebt und lässt ihn zum Verbandsplatz bringen. In demselben Augenblick, als Pierre dies tat und diese Worte sagte, fühlte er, dass die Frage, die ihn in diesen letzten vierundzwanzig Stunden gequält hatte, die Frage, ob seine Frau schuldig sei, endgültig und zweifellos im bejahenden Sinn entschieden war. Er hasste seine Frau und war für immer von ihr geschieden. (Seite 544) Nach einer durchwachten Nacht trifft Pierre im Sokolniki-Wald bei Moskau auf den Gegner. Sein Sekundant Neswitzki rät ihm, sich mit Dolochow zu verständigen und auf das Duell zu verzichten, aber Pierre hört nicht auf ihn, obwohl er noch nie eine Pistole in der Hand hatte und sich erst erklären lassen muss, wie man damit umgeht. Beim Avancieren hält er die Waffe so, als fürchte er, sich selbst damit zu verletzen. Als er abdrückt, erschrickt er über den Knall. Der Rauch, der infolge des Nebels besonders dicht war, hinderte ihn im ersten Augenblick, etwas zu sehen, aber der von ihm erwartete Schuss des Gegners erfolgte nicht. (Seite 549)
Dolochow sitzt verletzt am Boden und zielt mühsam auf Pierre, der breitbeinig stehen bleibt und dem Gegner seine Brust darbietet, statt sich seitlich zu drehen. Er hat Glück: Dolochows Schuss geht daneben. Während der Rückfahrt macht Dolochow sich Sorgen um seine alte Mutter Marja Iwanowna und seine verwachsene Schwester. Da zeigt sich, dass er nicht nur ein Draufgänger, sondern auch ein liebevoller Sohn und Bruder ist.
"Was ist nun das wieder? Was haben Sie da getan, frage ich Sie", begann sie dann in scharfem Ton. Daraufhin verlangt Pierre die Trennung. Helene meint dazu:
"Meinetwegen, nur müssen Sie mir dann die nötigen Existenzmittel geben [...] Eine Trennung! Bilden Sie sich nicht ein, dass mich das schreckt!" (Seite 557)
Er schließt sich den Freimaurern an und wird 1808 in den Vorstand der Petersburger Freimaurerloge gewählt. Im Jahre 1809 war die Annäherung der beiden Weltherrscher, wie man Napoleon und Alexander zu nennen pflegte, bereits so weit fortgeschritten, dass, als Napoleon in diesem Jahr Österreich den Krieg erklärte, ein russisches Korps an die Grenze rückte, um unseren früheren Feind Bonaparte gegen unsern früheren Verbündeten, den Kaiser von Österreich, zu unterstützen. (Seite 725) Andrei reist im August 1809 nach Petersburg. Auf dem Silvesterball trifft er Pierre wieder, der ihn mit Natalja ("Natascha") Iljinitschna bekannt macht, der sechzehnjährigen Tochter des verarmten Grafen Ilja Andrejewitsch Rostow, der unter Katharina der Großen einer der höchsten Würdenträger gewesen war. Andrei tanzt mit ihr. Kurz darauf wird Andrei von ihrem Vater zum Mittagessen eingeladen. Natascha wurde ganz blass vor banger Erwartung, wenn sie ein paar Minuten lang mit ihm unter vier Augen blieb. Sie war überrascht von der Schüchternheit des Fürsten Andrei. Sie fühlte, dass es ihn drängte, ihr etwas zu sagen, und dass er sich doch nicht dazu entschließen konnte. (Seite 821) Statt mit Natascha über seine Gefühle zu sprechen, gesteht Andrei seinem Freund Pierre, dass er sich in sie verliebt hat. Weil er für eine neue Eheschließung die Erlaubnis seines alten Vaters benötigt, reist er zu ihm nach Lysyje-Gory. Fürst Nikolai Andrejewitsch Bolkonski hält die Wahl seines Sohnes für verfehlt. Erstens sei die Partie, was Verwandtschaft, Reichtum und Vornehmheit anlange, keine glänzende. Zweitens stehe Fürst Andrei nicht mehr in der ersten Jugend und habe eine schwache Gesundheit (diesen Punkt betonte der Alte ganz besonders), und das Mädchen sei doch noch sehr jung. Drittens sei ein Sohn da, den einem so jungen Ding in die Hände zu geben bedenklich sei. "Und endlich viertens", sagte der Vater, indem er den Sohn spöttisch anblickte, "ich bitte dich: schiebe die Sache ein Jahr auf; reise ins Ausland, kurier dich aus, suche, wie du es ja beabsichtigst, einen deutschen Erzieher für den Fürsten Nikolai, und dann, wenn die Liebe oder deine Leidenschaft oder dein Eigensinn, wie du nun es nennen magst, wirklich so groß ist, dann heirate. Das ist mein letztes Wort, hörst du wohl, mein letztes …", schloss der Fürst in einem Ton, durch den er zeigen wollte, dass ihn nichts veranlassen könne, seinen Entschluss zu ändern. (Seite 826f)
Sobald Andrei zurück nach Petersburg kommt, hält er bei Nataschas Mutter um die Hand ihrer Tochter an. Nachdem die Gräfin ihre Einwilligung gegeben hat, setzt Andrei sie von der Bedingung seines Vaters in Kenntnis: Die Hochzeit kann erst in einem Jahr stattfinden. Natascha ist entsetzt darüber, so lange warten zu müssen, aber sie fügt sich, und obwohl es keine Verlobungsfeier gibt, verkehrt Andrei von da an als Bräutigam im Haus der Familie Rostow. Anatol hatte [...], seit er nach Moskau gekommen war, allen Moskauer Damen die Köpfe verdreht, und zwar namentlich dadurch, dass er sie vernachlässigte und ihnen unverhohlen Zigeunerinnen und französische Schauspielerinnen vorzog [...] Er ließ kein Gelage bei Danilow und anderen lebenslustigen Patronen Moskaus unbesucht, trank ganze Nächte hindurch, trank alle unter den Tisch und war auf allen Soireen und Bällen der vornehmsten Gesellschaftskreise zu finden. Es wurden mehrere pikante Liebesaffären erzählt, die er mit Moskauer verheirateten Damen gehabt hatte, und er machte auch auf den Bällen einigen den Hof; aber mit den jungen Mädchen, und namentlich mit den reichen in heiratsfähigem Alter, die größtenteils hässlich waren, ließ er sich nicht näher ein. (Seite 993) Bei einer Abendgesellschaft bewundert Anatol unverhohlen Nataschas Schönheit: "Sie sind reizend … Von dem Augenblick an, wo ich Sie erblickte, habe ich unaufhörlich …" (Seite 1002) Damit bringt er sie in Verlegenheit:
"Sagen Sie so etwas nicht zu mir; ich bin verlobt und liebe einen andern", stieß sie schnell heraus. Dann sah sie ihn wieder an. Natascha ist von Anatols Werben so erregt, dass sie sich in dieser Nacht schlaflos im Bett herumwälzt. Sie trifft sich heimlich mit Anatol und lässt sich überreden, mit ihm zu fliehen. Er wolle sie heiraten, versichert er. Ohne Wissen ihrer Eltern schreibt Natascha Andrei einen Brief und löst ihre Verlobung. Sonja ahnt, was sie vorhat. Weinend begegnet sie Marja Dmitrijewna Achrosimowa, einer Dame, "die nicht infolge von Reichtum oder Vornehmheit, wohl aber wegen ihres gesunden Verstandes und der ungeschminkten Naivität ihres Benehmens" in der Moskauer Gesellschaft als "Dragoner" berühmt ist. Marja Dmitrijewna erkundigt sich nach dem Grund der Tränen, und Sonja vertraut ihr an, dass sie befürchtet, Natascha könne eine Dummheit machen. Ohne zu zögern, stellt Marja Dmitrijewna Sonjas Cousine zur Rede und unterrichtet dann Pierre. Der klärt Natascha darüber auf, dass Anatol verheiratet ist. Dann sucht er Anatol auf, bei dem er seine Ehefrau Helene vorfindet: "Haben Sie der Komtesse Rostowa die Ehe versprochen und sie entführen wollen?" (Seite 1038) Pierre fordert Anatol auf, Moskau zu verlassen und über die ganze Angelegenheit zu schweigen, damit Natascha nicht kompromittiert wird. "Sie sollten doch endlich einmal begreifen, dass außer Ihrem Vergnügen auch das Glück und die Ruhe anderer Menschen eine gewisse Daseinsberechtigung habe, und dass Sie ein ganzes Leben zerstören, nur um sich zu amüsieren. Vertreiben Sie sich die Zeit mit solchen Weibern wie meine Frau; denen gegenüber sind Sie dazu berechtigt; die wissen, was Sie von ihnen verlangen und besitzen auch dieselbe Erfahrung im Laster wie Sie und können diese Erfahrung als Waffe gegen Sie gebrauchen. Aber einem unschuldigen jungen Mädchen die Ehe zu versprechen, … sie zu betrügen, zu entführen … Sie müssten doch begreifen, dass das ebenso gemein ist, wie wenn jemand einen Greis oder ein kleines Kind misshandelt …!" (Seite 1040)
1812 fällt Napoleon in Russland ein [Russlandfeldzug]. Die russischen Streitkräfte werden wieder von Fürst Michail Illarionowitsch Kutusow geführt. Andrei zieht im Juni erneut in den Krieg. Pierre beobachtet am 26. August 1812 die Schlacht bei Borodino im nördlichen Vorland des Sajangebirges von einem Hügel aus. Andrei glaubt, seinen Männern Mut machen zu müssen und bleibt deshalb stehen, als sich alle wegen des Beschusses zu Boden werfen. Das wird ihm zum Verhängnis: Ein Geschoss trifft ihn an der rechten Seite des Unterleibes. In einem Zelt hinter der Front operiert ihm ein Arzt die zerschmetterten Knochen aus der Hüfte, schneidet die Fleischfetzen ab und verbindet die Wunde. "Sieh mal an, wie schlau sie uns zu überreden sucht, dass wir als ihre Sklaven mitziehen sollen! Unsere Häuser sollen wir zerstören und in die Knechtschaft wandern. Na so was! 'Ich will euch Getreide geben!', sagt sie." (Seite 1272f) Am nächsten Morgen hindern die Bauern Marja daran, das Dorf zu verlassen. Andreis Bruder Graf Nikolai Iljewitsch Rostow, der zufällig als Anführer einer Eskadron vorbeikommt und erfährt, was vorgefallen ist, bietet Marja auf der Stelle seine Hilfe an. "Ich kann gar nicht sagen, Prinzessin, wie glücklich es mich macht, dass ich zufällig hierhergekommen bin und imstande sein werde, Ihnen meine Dienstwilligkeit zu beweisen", sagte Rostow, sich erhebend. "Bitte, fahren Sie ab, und ich stehe Ihnen mit meiner Ehre dafür, dass niemand wagen wird, Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, wenn Sie mir nur erlauben wollen, Sie zu geleiten." (Seite 1281) Die beiden verlieben sich, ohne es sich gegenseitig einzugestehen.
Als sie von ihm Abschied genommen hatte und allein geblieben war, fühlte sie auf einmal Tränen in ihren Augen, und es drängte sich ihr, nicht mehr zum ersten Mal, die Frage auf, ob sie nicht ewta diesen Mann liebe. [...]
Allerdings hat Nikolai die Ehe bereits seiner mittellosen Cousine Sonja versprochen, die mit ihm und seinen Geschwistern zusammen aufwuchs.
Die Leute versammelten sich um Natascha und vermochten an den seltsamen Befehl, den sie ihnen überbrachte, nicht eher zu glauben, als bis der Graf selbst, zugleich im Namen seiner Frau, den Befehl bestätigte, dass alle Fuhrwerke den Verwundeten eingeräumt, die Kisten aber in die Vorratsräume gebracht werden sollten. Als sie den Befehl richtig erfasst hatten, machten sich die Leute mit sichtlicher Freude und emsiger Geschäftigkeit an die neue Arbeit. (Seite 1501)
Natascha weiß zunächst nicht, dass in einer der Kaleschen der schwer verwundete Andrei liegt. Pierres physischer Zustand entsprach, wie das ja immer der Fall zu sein pflegt, seinem seelischen. Die ungewohnte, grobe Nahrung, der Branntwein, den er in diesen Tagen getrunken hatte, das Entbehren des Weines und der Zigarren, die schmutzige, nicht gewechselte Wäsche, die fast schlaflosen beiden Nächte, die er auf dem kurzen Sofa ohne Federbetten verbracht hatte, alles dies erhielt ihn in einem Zustand reizbarer Erregung, der dem Wahnsinn nahekam. (Seite 1565f) Als ein betrunkener Russe einen französischen Offizier, der höflich nach einem Quartier fragt, erschießen will, entreißt Pierre ihm die Waffe. Kurz darauf rettet er ein dreijähriges Mädchen namens Katja aus einem brennenden Haus. Aber als das skrofulöse, der Mutter ähnliche, unangenehm aussehende Kind den fremden Mann erblickte, schrie es auf und versuchte wegzulaufen. Pierre jedoch ergriff es und hob es auf den Arm; die Kleine kreischte wütend und verzweifelt auf und suchte mit ihren kleinen Händchen Pierres Arme von ihrem Körper loszureißen und mit ihrem rotzigen Mund hineinzubeißen. Pierre wurde von einem Gefühl des Schreckens und des Ekels ergriffen, ähnlich dem Gefühl, das er bei der Berührung mancher kleiner Tiere zu empfinden pflegte. Aber er überwand sich [...] (Seite 1610)
Unmittelbar danach beobachtet er, wie sich zwei französische Soldaten an eine schöne Armenierin heranmachen. Einer von ihnen reißt ihr den Halsschmuck ab. Pierre stürzt sich auf die beiden Männer. Da erscheint eine Patrouille französischer Ulanen. Sie nehmen Pierre fest. Man bezichtigt ihn der Spionage und bringt ihn zusammen mit anderen Gefangenen in einen Gemüsegarten. Dort fängt ein Peloton an, sie paarweise zu füsilieren. Bevor Pierre an der Reihe ist, wird er überraschend weggeführt und in einer verwüsteten Kirche eingesperrt. "Sehen Sie", fuhr er fort und strengte sich offenbar gewaltsam an, zusammenhängend zu reden. "Ich weiß nicht, seit wann ich sie liebe. Aber ich habe nur sie, sie allein geliebt mein ganzes Leben lang und liebe sie so, dass ich mir ein Leben ohne sie nicht vorzustellen vermag. Sie jetzt um ihre Hand zu bitten, wage ich nicht, aber der Gedanke, dass sie vielleicht die meine werden könnte, und dass ich diese Möglichkeit … Möglichkeit … unbenutzt lasse, dieser Gedanke ist schrecklich. Sagen Sie, kann ich hoffen? Sagen Sie, was soll ich tun? Liebe Prinzessin!", sagte er nach einer kurzen Pause, indem er ihre Hand berührte, da sie nicht antwortete. (Seite 1938)
Marja denkt nach und meint dann, Pierre solle die Sache in ihre Hände legen. Die Verwandten und Freunde rieten Nikolai, auf die Erbschaft zu verzichten. Aber Nikolai sah in dem Verzicht auf die Erbschaft eine Art von Vorwurf gegen den Vater, dessen Andenken ihm heilig war, und wollte darum von einem Verzicht nichts hören, sondern übernahm die Erbschaft mit der Verpflichtung, die Schulden zu bezahlen. (Seite 1967) Sonja hat zwar Nikolai inzwischen freigegeben, aber unter diesen Umständen wagt er es nicht, Marja seine Gefühle zu offenbaren. Sie ahnt jedoch, dass ihn der Unterschied zwischen Arm und Reich daran hindert.
"Sie wollen mich aus irgendeinem Grund Ihrer früheren Freundschaft berauben. Und das ist mir schmerzlich." (Die Tränen standen ihr in den Augen, und auch ihrer Stimme war es anzuhören, wie nahe ihr das Weinen war.) "Ich habe wenig Glück in meinem Leben gehabt, dass jeder Verlust ein schwerer Schlag für mich ist … Verzeihen Sie mir, leben Sie wohl." Sie brach plötzlich in Tränen aus und eilte zur Tür.
Die beiden heiraten im Herbst 1814 und ziehen zusammen mit Nikolais verwitweter Mutter nach Lysyje-Gory.
Nachdem er notgedrungen angefangen hatte sich mit der Landwirtschaft abzugeben, war er bald in eine solche Leidenschaft für diese Tätigkeit hineingeraten, dass sie seine liebste und beinahe einzige Beschäftigung wurde. (Seite 1976) Auch Pierre und Natascha führen mit ihren Kindern ein glückliches Familienleben. Natascha ist von Anfang an voll in ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter aufgegangen. Die Bewegung der Völker beginnt in ihre Ufer zurückzutreten. Die Wogen der großen Bewegung haben sich gelegt, und auf dem still gewordenen Meer bilden sich Strudel, in denen die Diplomaten herumgetrieben werden; dabei bilden sie sich ein, dass gerade sie es sind, die die Bewegung zur Ruhe gebracht haben. (Seite 1962) Während Nikolai sich nur um seine Angelegenheiten kümmert und sich nicht für Politik interessiert, hält Pierre gesellschaftliche Veränderungen in Russland für dringend erforderlich, und Nikolenka Andrejewitsch Bolkonski, Andreis Sohn, der von Marja und Nikolai erzogen wird, hört ihm aufmerksam zu. "Die Sache ist die. In Petersburg steht es so: der Kaiser kümmert sich um nichts. Er hat sich ganz dem Mystizismus in die Arme geworfen." (Mystizismus verzieh Pierre niemandem.) "Er verlangt nur nach Ruhe, und diese Ruhe können ihm nur diese Männer ohne Treue und Gewissen verschaffen, die skrupellos alles niedergeschlagen und ersticken [...] So geht nun alles zugrunde. In den Gerichten blüht das Bestechungsunwesen; beim Heer regiert nur der Stock; immer nur Exerzieren, dazu die Militärkolonien; das Volk wird gequält, die Bildung unterdrückt. Alles, was jung und ehrenhaft ist, richten sie zugrunde. Jedermann sieht, dass es so nicht weitergehen kann. Alles ist zu straff gespannt und muss mit Notwendigkeit reißen", sagte Pierre. (Seite 2018) |
Buchbesprechung:
Ursprünglich wollte Leo Tolstoi einen Roman über den Dekabristenaufstand am 14. Dezember (Julianischer Kalender) bzw. 26. Dezember 1825 (Gregorianischer Kalender) in Sankt Petersburg schreiben. Aber er vertiefte sich immer mehr in die Vorgeschichte und die gesellschaftlichen Ursachen der Ereignisse – und
Die Darbietungsform ist gekennzeichnet durch die für den realistischen Roman typische metonymische Charakterisierung der privaten wie der historischen Figuren durch Darstellung ihrer Umwelt und der Entwicklung ihrer Charaktere, die Schilderungen der Schlachten aus der Sicht beteiligter Augenzeugen sowie die verfremdende Darstellung menschlicher Eigenheiten. Der seinem Titel gemäß antithetisch angelegte Roman mit seinen kontrastierenden Kriegs- und Friedensszenen entfaltet über den aufgezeigten historischen Hintergrund hinaus eine umfassende Enzyklopädie des russischen Lebens aus einem Blickwinkel, bei dem der Autor die eigene Gegenwart in die Vergangenheit transponiert und seine Zeitgenossen in historischer Verkleidung psychologisch durchleuchtet. (Harenbergs Lexikon der Weltliteratur, Band 3, Dortmund 1989, Seite 1685)
Das Manuskript entstand 1863 bis 1865. Die ersten Vorabdrucke erschienen 1865. Als Buch wurde "Krieg und Frieden" erstmals 1868/69 in Moskau veröffentlicht. Krieg und Frieden – Originaltitel: Voyna i mir – Regie: Sergei Bondarchuk – Drehbuch: Sergei Bondarchuk, Vasili Solovyov, , nach dem Roman "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi – Kamera: Yu-Lan Chen, Anatoli Petritsky, Aleksandr Shelenkov – Schnitt: Tatyana Likhachyova – Musik: Vyacheslav Ovchinnikov – Darsteller: Sergei Bondarchuk, Lyudmila Savelyeva, Vyacheslav Tikhonov, Boris Zakhava, Anatoli Ktorov, Anastasiya Vertinskaya, Antonina Shuranova, Oleg Tabakov, Viktor Stanitsyn, Irina Skobtseva, Boris Smirnov, Vasili Lanovoy, Kira Golovko, Irina Gubanova, Aleksandr Borisov, Oleg Efremov, Giuli Chokhonelidze, Vladislav Strzhelchik, Angelina Stepanova u.a. – 1967, 400 Minuten
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Leo Tolstoi / Lew N Tolstoj (Kurzbiografie) |