Tanguy Viel: Das Verschwinden des Jim Sullivan. Ein amerikanischer Roman |
Tanguy Viel:
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Inhaltsangabe:Der Ich-Erzähler, ein französischer Buchautor, schrieb einen amerikanischen Roman. Als Schauplatz wählte er Detroit. In amerikanischen Romanen ist der Protagonist in der Regel nicht mehr ganz jung und geschieden. So ist es auch in dem Roman des französischen Schriftstellers. Das ist die erste Szene meines Buchs, ein Mann sitzt in einem weißen Wagen da, bei abgestelltem Motor, in winterlicher Kälte, in der sich allmählich die Requisiten seines Lebens abzeichnen: eine Whiskyflasche auf dem Beifahrersitz, zerdrückte Zigaretten im vollen Aschenbecher, auf der Rückbank verschiedene Zeitschriften (selbstverständlich eine Anglerzeitschrift, selbstverständlich eine Baseballzeitschrift), im Kofferraum ein Exemplar von Walden und außerdem ein Hockeyschläger. Hinter dem Steuer seines Dodge sitzend, hält er den Blick unverwandt auf die erleuchteten Fenster eines Hauses gerichtet, auf dessen Briefkasten der Name Fraser zu lesen ist, noch weiß man nicht, dass das der Name seiner Exfrau ist, mithin weiß man auch noch nicht, was das für ihn bedeutet, für Dwayne Koster, hier im beginnenden Abend zu sitzen, wenn auch mit hinreichenden Indizien von Nervosität, um zu begreifen, dass er es nicht gleichgültig tat.
Zu erwähnen ist auch noch, dass Dwayne Koster sein Lieblingsalbum von Jim Sullivan laufen lässt, während er durch die Autoscheibe auf das Haus starrt. Es heißt "U. F. O." Vor Jahrzehnten verschwand Jim Sullivan unter mysteriösen Umständen in der Wüste von New Mexico. Er hatte sich im März 1975 in San Diego von seiner Frau und seinem Sohn verabschiedet, hatte ihnen versprochen, sie so bald wie möglich nach Nashville/Tennessee nachzuholen und war losgefahren. Nach einer Übernachtung in Santa Rosa fuhr er ein Stück weit in die Wüste. Dort fand man später seinen VW Käfer, aber von dem Gitarristen fehlte jede Spur, und es gibt auch keine Leiche. Einer Spekulation zufolge wurde Jim Sullivan von Außerirdischen entführt. Offen gestanden habe ich längere Zeit mit dem Gedanken gespielt, mein Buch würde so beginnen, mit diesem großen Abendessen, das alle Figuren zusammenführen und eine wahre Vorstellung von Amerika geben würde, denn mehrere Romane, die ich gelesen hatte, fingen genau so an, mit einer großen Szene, in der nichts geschieht, die es aber ermöglicht, alle einmal vorzustellen.
Von Rückblenden hält der Franzose nicht viel, aber er ist der Ansicht, dass es unmöglich sei, in einem amerikanischen Roman auf Flashbacks zu verzichten. Er berichtet deshalb, wie sich Johannes Hendrick Koster, der Spross einer reichen holländischen Tuchhändlerfamilie, 1637 durch Tulpenspekulationen ruinierte und 15 Jahre später mit seiner Frau nach Neu-Amsterdam auswanderte. Von diesem Paar stammen alle amerikanischen Kosters ab. Ich schrieb in meinem Roman nicht all das. Ich stellte einfach nur Porträts meiner Figuren zusammen, um sie besser zu verstehen, inklusive ganz und gar nebensächlicher Figuren. Ich legte Steckbriefe an. So erfuhr ich einiges über Johannes Koster. So erfuhr ich Details über [Dwaynes Großmutter] Abigail. So erfuhr ich beispielsweise, dass Dwaynes Vater Demokrat war. und so entdeckte ich außerdem beispielsweise, dass Moll Koster, Dwaynes Mutter, einen Liebhaber hatte [...]
Als kleiner Junge sah und hörte Dwayne am 22. November 1963 im Fernsehen das Attentat auf John F. Kennedy in Dallas. Um seiner Mutter die Nachricht zu überbringen, rannte er nach oben und stürzte ohne anzuklopfen in ihr Schlafzimmer – wo er sie mit einem Mann im Bett ertappte, der nicht sein Vater war.
Doch nein, jetzt ist noch nicht der Moment gekommen, um über Lee Matthews zu sprechen, denn er trat erst viel später in die Handlung ein, wie es in solchen Büchern eben Brauch ist, manche Figuren treten erst sehr spät in die Handlung ein.
Ihren ersten Kuss wechselten Dwayne und Susan am 23. März 1977 bei Iggy Pops legendärem Konzert im Masonic Temple in Detroit. Die Flitterwoche verbrachten sie an den Niagarafällen. Da konnte Susan noch nicht ahnen, dass sie die Eheschließung 20 Jahre später bereuen würde. Erst einmal brachte sie zwei Kinder zur Welt: Tim und Dorothy. Dann zog Lee leider aus Vorsicht oder instinktiv die Tür zu, sodass der allein durch den Laden streifende Mann von seiner an sich kräftigen Stimme nur noch ein Brummen vernahm, aus dem einzelne Wörter herausragten wie "Irak", "Dollar" und dann auch "Ladung" und "Baltimore", dann sogar einzelne besser vernehmbare Sätze wie "Um Alex kümmere ich mich" oder "Dann ist das so abgemacht", bis auf einmal gar nichts mehr zu hören war, das Gespräch zwar weiterging, aber in gesenktem Ton, und der einzelne Mann den weiteren Wortwechsel nicht mehr belauschen konnte, und so auch nicht wir, die wir ja von ihm abhängen, um mitzukriegen, das da gesagt wurde. Als Leser erfahren wir bald mehr: Es geht um wertvolle archäologische Fundstücke, die im April 2003 aus dem Nationalmuseum in Bagdad geraubt wurden. In den Kriegswirren war möglicherweise internationalen Schwarzhändlern von bestochenen Museumsangestellten Zugang zu den Schätzen gewährt worden, und die amerikanischen Soldaten hatten weggesehen. Lee schickt seinen Neffen mit 300 000 Dollar Bargeld in einem Koffer los. Weisungsgemäß setzt Dwayne sich bei einem Kinderspielplatz in Baltimore auf eine Bank und wartet, bis zwei arabisch aussehende Männer neben ihm Platz nehmen. Nachdem einer von ihnen mit dem Fuß die Nummer eines Kais in den Sand geschrieben und sie gleich wieder verwischt hat, verschwinden sie mit dem Koffer. Dwayne vermutet, dass das Geld für Waffenkäufe bestimmt ist. Er fährt zu dem Kai und verlädt die drei mit einem Ruderboot angelandeten Holzkisten im Kofferraum seines Autos.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
In der Zwischenzeit kommt Dennis mit einer Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, aus einer Bar und geht zu seinem Wagen. Nachdem die Frau auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat, will er um das Heck des Autos herumgehen, wird jedoch von zwei Männern gepackt und in ein nahes Gebüsch gezerrt. Bevor die wartende Frau sich darüber wundert, warum Dennis nicht einsteigt, haben ihn die Verbrecher mit einem Messer entmannt. |
Buchbesprechung:
Nach eigener Aussage war der 1973 in Brest geborene französische Schriftsteller Tanguy Viel noch nie in Detroit. Aber dort lässt er seinen "amerikanischen Roman" spielen: "Das Verschwinden des Jim Sullivan". Protagonist ist nicht der im Titel genannte Gitarrist, sondern – wie könnte es anders sein in einem amerikanischen Roman – ein nicht mehr ganz junger, geschiedener amerikanischer Literaturprofessor: Dwayne Koster. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Tanguy Viel: Unverdächtig |