Peter Wawerzinek: Rabenliebe (Roman) |
Peter Wawerzinek: Rabenliebe |
Inhaltsangabe:1958 wird der vierjährige Junge von einem Säuglings- in ein Kinderheim in Nienhagen an der Ostsee gebracht.
Ich weiß nicht einmal, dass ich eine Mutter haben muss.
Der Junge spricht nicht. Dennoch gefällt er der Köchin des Heims, und sie nimmt ihn mit nach Hause, aber ihr Mann, ein Busfahrer, lässt es nicht zu, dass sie das Kind aufnimmt. Stattdessen muss sie es am nächsten Tag wieder mit zurück ins Heim nehmen. Einige Monate später ist der ortsansässige Tischler bereit, den Jungen zu adoptieren. Aber als dieser zwei niedlichen Katzen auf den Späneboden nachsteigt, von dort herunterstürzt und beinahe einen Unfall verursacht, scheitert auch dieser Versuch. Und dann falle ich zum ersten Mal vom Klo. Von nichts anderem als Grübeln dazu verleitet, urplötzlich ausgehebelt [...] Ich gehe immer wieder k. o. von meinen Grübeleien. Im Alter von sieben Jahren wechselt der Junge in ein Schulkinderheim. Die Hausordnung ist wichtiger als eine Schulfibel.
Im neuen Heim freundet er sich mit zwei Mitschülern an, die ihn mit Süßigkeiten entlohnen, wenn er für sie Liebesbriefe schreibt.
In der Wohnung der Adoptionseltern stehen keine zwanzig Bücher, unter ihnen, auf dem großen Radio, Deine Gesundheit von A bis Z und Ballett A bis Z in trauter Gemeinsamkeit mit dem Operettenführer von A bis Z und einem schmalen Band Goethes Werke, alphabetisch geordnet. Nur mit der ebenfalls im Haushalt lebenden und unterdrückten Großmutter versteht er sich halbwegs. Die Adoptiveltern, die er mit "Vati" und "Mutti" ansprechen muss, kann er nicht ausstehen. Sie bleiben fremde Menschen für mich. Sie veranlassen, dass sein Familienname gegen den der "Adoptionsgewaltigen" ausgewechselt wird.
Ich werde mein eigen nicht. Ich bleibe ein Pseudonym. Ich bleibe für mich, lebe unter dem falschen Namen der Adoptionseltern, den ich ertragen will, bis ich groß genug bin und in einem Alter, den Adoptionsmantel abzulegen. Mit über fünfzig Jahren erst lege ich den Mantel der Adoptionszeit ab, trage meine künstliche Haut zu Grabe, nehme innerlich den Namen der Mutter, des Vaters an, den Namen, wie er in meiner Geburtsurkunde eingetragen worden ist, von Heim zu Heim getragen, durch die Adoption dann ad acta gelegt, um nicht mehr in der namentlichen Hülle der Adoptionseltern wie in einer Zwangsjacke zu stecken und unter falschem Namen beerdigt zu sein.
Als die Großmutter ins Haus gegenüber zieht, bekommt der Junge ein eigenes Zimmer.
Ich trage ein Jahr lang Telegramme aus. Ich arbeite über ein Jahr lang in einer Tischlerei, transportiere mit einem rumänischen Tischlereilaster Holzteile, Türen, Fenster, Balken, bin nach dem Job als Kellner in Zügen unterwegs und fasse im zehnten Arbeitsjahr den Entschluss, Schriftsteller zu werden, mit allen Folgen einer freien Existenz, um eines Tages über meine Mutter zu schreiben. Den Titel Rampenwart für meinen letzten Job im Leben haben sie eigens meinetwegen erfunden. Ich werde als halber Rausschmeißer entlöhnt.
Bei der Wiedervereinigung ist er 36 Jahre alt. Er fährt er nach Nienhagen und besichtigt das Kinderheim, in dem er einige Jahre verbrachte. Schließlich findet er die Adresse seiner Mutter heraus, aber es dauert Jahre, bis er sich dazu durchringt, Kontakt mit ihr aufzunehmen. 2004 ruft der inzwischen 50-Jährige seine Schwester an und teilt ihr mit, dass er zur Mutter nach Eberbach am Neckar fahren werde. Aber für die Schwester ist die Mutter überhaupt kein Thema. Im Grunde bin ich fahruntauglich. Man müsste mich stoppen und auffordern, das Fahrzeug zu verlassen. Es gibt kein Gerät, das anzeigt, wie hochprozentig mit Erinnerungen ich angereichert bin.
In Eberbach nimmt er sich ein Zimmer in einer Pension und schaut sich erst einmal einige Tage lang um. Schließlich geht er zu der Adresse und liest den Namen der Mutter auf dem Klingelbrett des Wohnblocks. Statt sie unangemeldet zu überfallen, ruft er sie mit dem Handy an, behauptet, er komme morgen in die Stadt und vereinbart mit ihr eine Zeit für seinen Besuch. Das Böse ist ihr ins Gesicht geschrieben. Das Grobe, Gefühllose. Eine Frau wie eine Bulldogge. Klein, stuckig, kräftig, abgestumpft. Sie setzen sich in die Küche. Alles was er in der Wohnung sieht, findet er hässlich.
Wir haben uns nichts zu erzählen. Es kommt kein Gespräch auf. Wir sitzen wie Leute in einem Wartesaal, die eine Nummer gezogen haben und nun darauf warten, aufgerufen zu werden. Dann kommt ein 13- oder 14-jähriger Enkel seiner Mutter aus der Schule. Als der Besucher sich als Onkel vorstellt, ruft der Junge seine Mutter an und teilt ihr mit, dass ein bislang unbekannter Verwandter aufgetaucht sei. Seine Mutter verständigt Geschwister, und schließlich kommen vier von ihnen, um ihren Halbbruder zu begrüßen. Mutter, Sohn, Schwester Nummer zwei, Schwester Nummer drei, Bruder Nummer eins, Bruder Nummer zwei und ein Neffe, sieben auf einen Streich, notiere ich, sieben Verwandte in der kleinen Küche, um den kleinen Tisch herum.
Die Mutter war 19, als sie ihn gebar. Zwei Jahre später ließ sie ihn und seine jüngere Schwester in der Wohnung in Rostock zurück und setzte sich in die Bundesrepublik ab. Mit ihrem bundesdeutschen Ehemann bekam sie weitere acht Kinder, vier Söhne und ebenso viele Töchter. Der Mann war alkoholkrank und kam vor 30 Jahren in ein Heim. Seither blieb die Mutter ohne Lebensgefährten. GUTEN MORGEN. WIR WOLLEN ALLE NICHT, DASS DU UEBER UNSER ELEND FRUEHER SCHREIBST. DU KANNST UEBER DICH UND MAMA SCHREIBEN, DEINE GESCHWISTER NICHT. WIR FREUEN UNS AUF DICH ALS BRUDER, NICHT ALS AUTOR. KANNST DU DAS VERSTEHEN? LASSE UNSERE VERGANGENHEIT AUCH UNSERE SEIN. |
Buchbesprechung:
"Rabenliebe" ist ein autobiografischer Roman. Peter Wawerzinek rechnet mit der Mutter ab, die als 21-Jährige ihren zwei Jahre alten Sohn und dessen jüngere Schwester allein in der Wohnung in Rostock zurückließ und sich in den Westen absetzte. Im Alter von 50 Jahren nimmt er Kontakt mit ihr auf, aber der einmalige Besuch bei ihr zementiert nur seine Vorurteile. Frustration, Zorn und Hass führen Peter Wawerzinek die Feder: Er lässt kein gutes Haar an seiner Mutter und schildert auch seine Adoptiveltern mit Abscheu. Die fehlende Distanz und die Einseitigkeit der Darstellung schaden dem erschütternden Roman.
Die Erinnerung ist ein Bürgersteig. Erinnern ist wie über Gehwegplatten kommen, die groß sind, manche zerbrochen. Die Abstände wachsen. Zwischenräume werden Mühe. Du kannst nicht mehr von der einen zur nächsten Erinnerung treten. Der erste Teil des Romans endet mit dem Wehrdienst bei der Nationalen Volksarmee der DDR. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht der Besuch des 50-Jährigen bei der Mutter. Über die Jahrzehnte dazwischen erfahren wir so gut wie nichts. Die Episoden in "Rabenliebe" sind kurz und sprunghaft; nur selten setzt Peter Wawerzinek etwas in Szene, meistens schildert er nur, was geschah. Dabei sind ihm einige brillante Passagen gelungen, aber das Bemühen um Niveau stört eher, und es gibt auch sprachliche Entgleisungen: Wie beim Hasen, der bei seinem Lauf über den Acker den Igeln nicht davonlaufen kann, ruft der Schnee mir zu: Bin schon da.
Vor allem im ersten Teil schiebt Peter Wawerzinek alle paar Seiten Pressemeldungen, juristische Texte ("Annahme an Kindes Statt"), Zitate anderer Autoren wie Friedrich Hölderlin und Jack Kerouac, Volkslieder und Kinderreime ein.
Mutter, die; – Mütter / Verkl.: Mütterchen, Mütterlein; / vgl. Mütterchen / Frau, die ein oder mehrere Kinder geboren hat, die Frau im Verhältnis zu ihrem Kind gesehen und bes. im Verhältnis des Kindes zu ihr: M. sein, werden; sie fühlt sich M. (fühlt, dass sie schwanger ist); ist M. geworden; die leibliche M. (Ggs. Stiefmutter; [...] bemuttern, Mutter, die; –, -n Teil der Schraube, der das Gewinde drehbar umschließt: die M. (an einer Schraube) lösen, (fester) anziehen, anschrauben; die M. lockert sich, ist locker, lose, dazu Flügel-, Rad-, Schraubenmutter. Der Titel bezieht sich auf das erzählende Gedicht "Der Rabe" (1845) von Edgar Allen Poe. Seitenlang geht Peter Wawerzinek auf das Rabenmotiv ein. Erinnerte Stationen des Glücks, abgelöst von Klagen, gegen seelische Grausamkeit, Schicksal, alles personifiziert in der Gestalt des Raben.
Den Roman "Rabenliebe" von Peter Wawerzinek gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Michael Rotschopf (Regie: Vera Teichmann, Berlin 2011, 620 Min, ISBN 978-3-8398-5077-0). |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013 |