Herbert George Wells: Die Zeitmaschine (Roman) |
H. G. Wells: Die Zeitmaschine |
Inhaltsangabe:Jeden Donnerstag trifft sich eine Gruppe von Herren – ein Psychologe, ein Mediziner, ein Provinzbürgermeister, ein Redakteur, ein Reporter, der Ich-Erzähler und andere – bei einem Forscher im Londoner Vorort Richmond zum Abendessen mit anschließender Diskussionsrunde am Kaminfeuer. Der Ich-Erzähler bleibt anonym und verschweigt auch den Namen des Gastgebers, den er nur "der Zeitreisende" nennt. Der Zeitreisende (so nennt man ihn wohl am einfachsten) erklärte uns eine komplexe Materie. Der Wissenschaftler postuliert vor seinen Gästen, dass real existierende Körper nicht drei, sondern vier Dimensionen aufweisen: "Er muss Länge, Breite und Höhe haben, aber er muss auch von Dauer sein." Die vierte Dimension des Raumes – die Zeit – übersehe man zumeist, fährt der Zeitreisende fort. "Nehmen wir zum Beispiel das Porträt eines Menschen im Alter von acht Jahren, ein anderes mit fünfzehn, eins mit siebzehn, mit dreiundzwanzig und so fort. Alle sind offenbar dreidimensionale Ausschnitte aus seinem vierdimensionalen Sein." Der Mediziner weist darauf hin, dass wir uns in den ersten drei Dimensionen des Raumes bewegen können und fragt, warum das auf der Zeitachse nicht möglich sei. Der Gastgeber korrigiert ihn: "Sie irren, wenn Sie sagen, wir könnten uns in der Zeit nicht hin und her bewegen." Er holt ein Gerät aus seiner Werkstatt. Das Gerät, das der Zeitreisende in der Hand hielt, war ein glitzerndes Metallgestell, kaum größer als eine kleine Uhr, und sehr fein gearbeitet. Es war zum Teil aus Elfenbein und einer durchsichtigen, kristallinen Substanz. Zwei Jahre lang habe er an diesem Modell gearbeitet, erklärt der Zeitreisende und veranlasst den Psychologen, einen Finger auf einen Hebel zu legen. Im nächsten Augenblick verschwindet die kleine Maschine. Wir alle sahen, wie der Hebel umgelegt wurde. Ich bin absolut sicher, dass keine Täuschung vorlag. Man spürte einen Luftzug, und in der Lampe zuckte die Flamme. Eine der Kerzen auf dem Kaminsims wurde ganz ausgeblasen.
Das Modell sei in die Zukunft gereist, behauptet der Zeitreisende und führt seine Gäste zur Werkstatt, wo er eine baugleiche größere Maschine fast fertiggestellt hat.
Ich stieß einen überraschten Schrei aus. "Gütiger Himmel, Mann! Was ist denn los?", rief der Doktor, der ihn als Nächster sah. Dann drehte sich der ganze Tisch zur Tür um. Er war in einem üblen Zustand. Seine Jacke war staubig und schmutzig, die Ärmel waren grün verschmiert; seine Haare waren in Unordnung und schienen grauer als sonst – entweder vor Staub und Schmutz, oder weil sie tatsächlich die Farbe verloren hatten. Sein Gesicht war schrecklich blass; sein Kinn wies eine halb verheilte, bräunliche Wunde auf, seine Züge waren verzerrt und schienen von schwerem Leiden geprägt. Er zögerte einen Augenblick auf der Schwelle, als sei er vom Licht geblendet. Dann trat er ins Zimmer. Er humpelte, wie ich es von fußkranken Landstreichern kannte. Wir starrten ihn schweigend an und warteten darauf, dass er redete.
Er habe die Maschine in der Werkstatt an diesem Nachmittag fertiggestellt, berichtet der Zeitreisende. Gegen 16 Uhr habe er sich in den Sattel gesetzt und den Starthebel gedrückt. Daraufhin sei er in die Zukunft gerast, bis ins Jahr 802 701. In den letzten vier Erdstunden habe er volle acht Tage erlebt. Ich sah eine Menschheit in glanzvollen Unterkünften, herrlich gekleidet, aber bis jetzt hatte ich noch niemanden gesehen, der arbeiten musste. Es gab keinerlei Zeichen von Anstrengung, weder soziale noch ökonomische Kämpfe. Geschäfte, Reklame und Warenhandel – all der Kommerz, der unsere Welt ausmacht, war verschwunden. Es lag wohl nahe, dass ich an diesem goldenen Abend glaubte, ein soziales Paradies gefunden zu haben. Die Eloi – diesen Namen gab ihnen der Zeitreisende – verhielten sich naiv und freundlich, aber er fand sie auch träge und wunderte sich darüber, wie schnell sie ermüdeten.
Zum ersten Mal wurde mir eine unerwartete Folge der sozialen Veränderungen bewusst, um die wir uns derzeit bemühen. Aber wenn man darüber nachdenkt, ist die Entwicklung vollkommen logisch. Stärke erwächst aus der Not, Sicherheit fördert Schwäche. Die Verbesserung der Lebensumstände – jener Prozess der Zivilisierung, der das Leben immer sicherer machte – war unaufhaltsam vorangeschritten, von einem Höhepunkt zum nächsten. Ein Triumph der vereinten Menschheit über die Natur war dem anderen gefolgt.
Als der Zeitreisende von einer Exkursion auf einen Hügel zurückkam, erschrack er: Seine Maschine war weg! Schleifspuren wiesen darauf hin, dass sie ins Innere des Bronzesockels der Sphinx gebracht worden war.
Lebt der Arbeiter im East End nicht heute schon unter künstlichen Bedingungen, die ihn von der natürlichen Erdoberfläche nahezu abschneiden?
Der Zeitreisende ging davon aus, dass die Eloi die Morlocks für sich arbeiten ließen und sie ausbeuteten. Um seine Annahmen zu überprüfen, kletterte er in einen Brunnenschacht. Entsetzt sah ihm Weena dabei zu. Er geriet in eine riesige Höhle, in der bei völliger Dunkelheit affenähnliche Wesen herumhuschten und eine gewaltigte Maschine stampfte. Sobald er ein Streichholz aufflammen ließ, um etwas zu sehen, stoben die lichtscheuen Morlocks mit ihren riesigen Augen davon, aber sie griffen ihn immer dreister an und es gelang ihm nur mit Mühe, aus dem Schacht zu klettern.
Die Eloi waren lediglich Mastvieh, das die ameisengleichen Morlocks sich hielten und das sie schlachteten, ja vielleicht sogar züchteten.
Auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort gelangten der Zeitreisende und Weena in die Ruinen eines grünen Porzellanpalasts. Das war früher das Naturkundemuseum in South Kensington gewesen. Von einem der ehemaligen Exponate brach er einen Metallhebel ab, der sich als Schlagwaffe benutzen ließ. Nachdem er seine eigenen Streichhölzer bei der Flucht vor den Morlocks verbraucht hatte, war er froh, eine Schachtel mit Streichhölzern zu finden. Außerdem nahm er etwas Kampfer aus einem verschlossenen Glasgefäß mit. Noch mehr freute er sich über zwei Dynamitstangen – bis er feststellte, dass es sich um Attrappen handelte. Auf dem linken Arm trug ich meine Kleine, in der Rechten hielt ich die Eisenstange. In einiger Entfernung von dem Feuer, das auf umliegende Sträucher übergriff, kamen die Morlocks erneut heran. Um ein Streichholz entzünden zu können, musste der Zeitreisende Weena absetzen. Sofort wurde sie von Morlocks attackiert, bis er diese mit einem hell leuchtenden Kampferbrocken zurück in den Schatten trieb. Er hob Weena auf und versuchte, sie wiederzubeleben. Inzwischen hatte er die Orientierung verloren. Schließlich wollte er ein weiteres Streichholz anzünden – aber die Morlocks hatten ihm die Schachtel gestohlen. Er fand nur noch ein paar vereinzelte Streichhölzer. Die Morlocks packten jetzt fester zu. Ich begriff, was geschehen war: Ich hatte geschlafen und das Feuer war ausgegangen.
Aber dann traute er seinen Augen nicht: Die Morlocks flüchteten! Er drehte sich um und sah, dass das erste Feuer einen Waldbrand ausgelöst hatte. Weena war nicht mehr da. Dem Zeitreisenden blieb nichts anderes übrig, als den Morlocks zu folgen. Weena wäre ohnehin nicht mehr zu retten gewesen. Schon hörte ich das glucksende Kichern, mit dem die Morlocks sich näherten. Ganz ruhig steckte ich ein Streichholz an – oder versuchte es jedenfalls. Ich brauchte ja nur die Steuerungshebel anzuschrauben, um wie ein Geist zu verschwinden. Aber ich hatte etwas übersehen: Die Streichhölzer waren von der infernalischen Sorte, die man nur an der Schachtel entzünden kann.
Von den Morlocks bedrängt, tastete der Zeitreisende im Dunkeln nach den Stutzen und schraubte die Hebel an. Im letzten Augenblick startete er – aber in der Aufregung weiter in die Zukunft, weil er vergessen hatte, den Rückwärtsgang einzulegen. Schließlich, bevor ich endlich zum Stehen kam, stand die Sonne riesig und rot mit dumpfer Hitze über dem Horizont, eine gewaltige Kuppel ohne jede Bewegung, die nur hin und wieder für Augenblicke erlosch. Eine Weile glühte sie noch etwas heller, dann fiel sie wieder in brütende rote Hitze zurück. Aus der Verlangsamung von Sonnenaufgang und -untergang schloss ich, dass auch die Gezeiten zum Stillstand gekommen sein mussten. Die Erde hatte aufgehört sich zu drehen und zeigte nur noch mit einer Seite zur Sonne, so wie uns in unserer heutigen Zeit auch der Mond. Der zurückgekehrte Zeitreisende beendet seinen Bericht: Ich schaute auf die Uhr und sah, dass es beinahe acht war. Ich hörte eure Stimmen und das Klappern der Teller. Ich zögerte – ich fühlte mich so schwach und elend. Dann roch ich den guten, gesunden Braten und machte die Tür auf. Den Rest wissen Sie. Ich habe mich gewaschen, ich habe gegessen und jetzt erzählte ich euch die Geschichte. Am nächsten Tag sucht der Ich-Erzähler den Zeitreisenden noch einmal auf, aber der ist beschäftigt und bittet ihn, zu warten, während er mit einer Kamera zur Werkstatt geht. "Ich brauche nur eine halbe Stunde", sagte er. "Ich weiß, warum Sie gekommen sind, und es ist wirklich sehr nett von Ihnen. Da drüben sind ein paar Zeitschriften. Wenn Sie zum Essen bleiben, räume ich alle Zweifel an meiner Zeitreise aus." Plötzlich fällt dem Ich-Erzähler ein, dass er eine andere Verabredung hat, die er gerade noch einhalten könnte, wenn er sofort aufbräche. Um sich kurz vom Hausherrn zu verabschieden, betritt er die Werkstatt. Der Zeitreisende ist nicht da. Auch die Zeitmaschine fehlt. Der Besucher begreift, was geschehen ist und beschließt, nun doch auf die Rückkehr des Zeitreisenden zu warten, statt sich mit Mr Richardson zu treffen. Aber inzwischen fürchte ich, dass ich ein Leben lang warten muss. Der Zeitreisende ist vor drei Jahren verschwunden. Und wie jeder weiß, ist er nie zurückgekehrt. |
Buchbesprechung:
Man kann den Roman "Die Zeitmaschine" von Herbert George Wells als Gesellschaftskritik verstehen, als Kritik an den Verhältnissen Ende des 19. Jahrhunderts in Großbritannien oder auch allgemein an der kapitalistischen Klassengesellschaft. Der Zeitreisende – das weiß ich, weil wir darüber schon lange vor dem Bau der Zeitmaschine gesprochen hatten – glaubte nicht an den Fortschritt der Menschheit.
Vor H. G. Wells hatte bereits der amerikanische Schriftsteller Edward Page Mitchell (1852 – 1927) über eine Zeitmaschine und eine Zeitreise geschrieben: In seiner am 18. September 1881 veröffentlichten Kurzgeschichte "The Clock That Went Backward" reist der Erzähler ins Jahr 1574 zurück.
Die Zeitmaschine – Originaltitel: The Time Machine – Regie: George Pal – Drehbuch: David Duncan nach dem Roman "Die Zeitmaschine" von H. G. Wells – Kamera: Paul Vogel – Schnitt: George Tomasini – Musik: Russell Garcia – Darsteller: Rod Taylor, Alan Young, Yvette Mimieux, Sebastian Cabot, Tom Helmore. Whit Bissell, Doris Lloyd u.a. – 1960; 100 Minuten In dem Film "Flucht in die Zukunft" von Nicholas Meyer flieht Jack the Ripper mit einer Zeitmaschine und wird von H. G. Wells, dem Erfinder des Geräts, verfolgt. Flucht in die Zukunft – Originaltitel: Time after Time – Regie: Nicholas Meyer – Drehbuch: Nicholas Meyer – Kamera: Paul Lohmann – Schnitt: Donn Cambern – Musik: Miklós Rózsa – Darsteller: Malcolm McDowell, David Warner, Mary Steenburgen, Charles Cioffi, Patti D'Arbanville, Corey Feldman u.a. – 1979; 105 Minuten Carl Grunert schrieb 1908 eine Fortsetzung zu "Die Zeitmaschine": "Pierre Maurignacs Abenteuer" (auch: "Das Zeitfahrrad"). Ein anderes Sequel trägt den Titel "Die wiedergefundene Zeitmaschine" und wurde 1914 von Wilhelm Bastiné veröffentlicht. Egon Friedell verfasste die Persiflage "Die Reise mit der Zeitmaschine. Phantastische Novelle" (auch: "Die Rückkehr der Zeitmaschine"), die 1946 posthum gedruckt wurde. Christopher Priest verknüpft in seinem 1976 veröffentlichten Roman "Sir Williams Maschine" die Handlungen der Romane "Die Zeitmaschine" und "Krieg der Welten" von H. G. Wells. 1979 erschien der Thriller "Time After Time" / "Flucht ins Heute" von Karl Alexander mit dem Protagonisten H. G. Wells. Eine weitere Fortsetzung, in der Stephen Baxter aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse einbringt, trägt den Titel "Time Ships" / "Zeitschiffe" (1995). In dem Roman "Morlock Night" / "Die Nacht der Morlocks" (1979) von Kevin Wayne Jeter fällt die Zeitmaschine den Morlocks in die Hände, und sie führen damit eine Invasion ins viktorianische London durch. |
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Herbert George Wells (Kurzbiografie / Bibliografie) |