Franz Werfel: Eine blassblaue Frauenschrift (Eine blaßblaue Frauenschrift) – Novelle |
Kritik: Die Novelle "Eine blassblaue Frauenschrift" ist in ihrer traditionellen Erzählweise insofern lesenswert, als es immer wieder Passagen mit einfallsreich geschilderten Beobachtungen gibt. Die Handlung spielt sich an einem Tag ab, und durch unvermutete Wendungen bleibt sie spannend. ![]() |
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Franz Werfel: Eine blassblaue Frauenschrift |
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Inhalt: Leonidas, der aus kleinen Verhältnissen stammt, ist stolz auf seinen steilen Aufstieg in die Oberschicht. Der Brief einer früheren Geliebten, den er an seinem fünfzigsten Geburtstag erhält, lässt ihn glauben, Vater ihres Kindes zu sein; das bringt den Parvenü und Opportunisten dann doch kurzfristig aus der Fassung. ![]() |
Originalausgabe: |
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Franz Werfel: Eine blassblaue Frauenschrift
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Inhaltsangabe:
Wir befinden uns im Wien des Jahres 1939. Leonidas Tachezy ist Sektionschef, ein hoher Beamter im Kultusministerium. Er hat es weit gebracht, wenn man berücksichtigt, dass er aus kleinen Verhältnissen stammt: Sein Vater war ein armer, unbedeutender Lehrer. Durch Fleiß, glückliche Umstände und "glänzende Empfehlungen" gelangte er an den gehobenen Posten im Staatsdienst. Mit seinem guten Aussehen, seiner charmanten Auftretensweise sowie seinem herausragenden Tänzertalent zieht er bei gesellschaftlichen Veranstaltungen die Aufmerksamkeit auf sich. So fiel er auch Amelie Paradini auf, der reichen Erbin eines weltweit tätigen Handelshauses. Sie setzte es sich in den Kopf, ihn zu heiraten und brachte die Ehe gegen erheblichen Widerstand der millionenschweren Verwandtschaft zustande – "die Extravaganz einer Sehrverwöhnten" (Seite 41). Seit zwanzig Jahren sind sie jetzt verheiratet; die Ehe blieb kinderlos. Amelie, "sein großer, sein größter Lebenserfolg", ist achtunddreißig und Leonidas, von seiner Frau León genannt, feiert heute seinen fünfzigsten Geburtstag. Ich war mit dreiundzwanzig Jahren in meinem Elend eine noch nicht voll entwickelte Lemure. Vera aber, ein Kind, schien weit über ihre Jahre hinaus reif und gefestigt zu sein. Immer, wenn mich bei Tisch ihre Augen streiften, erstarrte ich unter dem arktischen Kältegrad ihrer Gleichgültigkeit. (Seite 47) Durch einen Zufall begegneten sich Leonidas und Vera in Heidelberg in einer Pension nach sieben Jahren wieder. Vera war nach dem Tode ihres Vaters, eines Arztes, und ihres Bruders nach Deutschland gezogen. Die inzwischen Zweiundzwanzigjährige studierte Philosophie. Leonidas war sofort wieder von ihr hingerissen. Ihr Typ entsprach zudem seinem Geschmack. Im Gegensatz zu Amelie, die figürlich zur Fülle neigte, erfüllte Vera seine Vorstellungen; er hatte "eine unüberwindliche Zuneigung für kindhafte, ätherische, durchsichtige, rührend-zarte, gebrechliche Frauenbilder, insbesondere dann, wenn sie mit einem besonnenen und unerschrockenen Geiste gepaart sind". (Seite 44) Leonidas und Vera verabredeten sich, machten zusammen Ausflüge, und nach anfänglichem Zögern gab Vera seinem Drängen nach. Zu seiner Verwunderung "ergab" sich Vera bereits am vierten oder fünften Tag ihres Zusammenseins und "entgegen Veras freien Reden und oft burschikosem Gehaben" (Seite 56) durfte er feststellen, dass er "der Erste" gewesen war. Er war dreizehn Monate verheiratet als er den Ehebruch beging, dessen er sich zwar schuldig bekannte, den er aber nicht bedauerte. Ich bekenne mich schuldig. Nicht aber liegt meine Schuld in der einfachen Tatsache der Verführung. Ich habe ein Mädchen genommen, das bereit war, genommen zu werden. Meine Schuld war, dass ich sie mala fide so restlos zu meinem Weibe gemacht habe, wie keine andere Frau jemals, auch Amelie nicht. Die sechs unzugänglichen Wochen mit Vera bedeuten die wahre Ehe meines Lebens. (Seite 56)
Er verwöhnte Vera mit wertvollen Geschenken, entwarf Zukunftspläne für sie beide zusammen. So sollte sie beispielsweise ihr Studium in Wien an seiner Seite vollenden, und als sie sich von ihm bei seiner Abfahrt im Zugabteil verabschiedete, versprach er ihr: "Noch vierzehn Tage und ich hole dich ab." ... er belobte sich selbst mit einiger Melancholie, weil er, ein anerkannt schöner und verführerischer Mann, außer der leidenschaftlichen Episode mit Vera nur noch neun bis elf gegenstandslose Seitensprünge in seiner Ehe sich vorzuwerfen hatte. (Seite 30) Drei Jahre nach der Affäre mit Vera erhielt Leonidas während eines Urlaubs mit seiner Frau einen Brief von seiner früheren Geliebten, die sich am selben Ort zur Erholung aufhielt. Weil er sein schändliches Verhalten gegenüber Vera vor Augen hatte und befürchtete, der Brief könne eine unangenehme Nachricht enthalten und Amelie könne etwas erfahren, zerriss er ihn ungelesen. Ingrimmig denkt Leonidas: Vera ist eben doch nur eine "intellektuelle Israelitin". So hoch diese Menschen sich auch entwickeln können, an irgend etwas hapert's am Ende doch. Zumeist am Takt, an dieser feinen Kunst, dem Nebenmenschen keine seelischen Scherereien zu bereiten. (Seite 26ff) Und nun, nach weiteren fünfzehn Jahren, an seinem fünfzigsten Geburtstag, schickt ihm Fräulein Doktor Vera Wormser wieder einen Brief. Am liebsten hätte er ihn wie seinerzeit ebenfalls zerrissen, aber die "gesammelte Persönlichkeit der blassblauen Frauenschrift" veranlasst ihn diesmal, den Umschlag aufzuschlitzen.
Oben auf dem Kopf des Briefes stand in raschen und genauen Zügen das Datum: "Am siebten Oktober 1936". Man merkt die Mathematikerin, urteilte Leonidas, Amelie hat in ihrem ganzen Leben noch nie einen Brief datiert. Und dann las er: "Sehr geehrter Herr Sektionschef!" Gut! Gegen diese dürre Anrede ist nichts einzuwenden. Sie ist vollendet, taktvoll, obgleich sich ein schwacher aber unüberwindlicher Hohn hinter ihr zu verbergen scheint. Jedenfalls lässt dieses "Sehr geehrter Herr Sektionschef" nichts allzu Nahes befürchten. Lesen wir weiter! Wozu die Aufregung? Diesen Brief hätte Amelie ruhig lesen können, scheint ihm. Doch dann wird ihm die Zweideutigkeit der Nachricht bewusst. Es war der harmloseste Brief der Welt, dieser hinterlistigste Brief der Welt. [...] In diesem harmlosen Bittbrief aber hatte Vera ihm kundgetan, dass sie einen erwachsenen Sohn besaß und dass dieser Sohn der seinige war. (Seite 34)
Leonidas beschließt, sich kraft seines Amtes für den jungen Mann einzusetzen. Plötzlich freut er sich nämlich, einen Sohn zu haben – wenn auch von einer jüdischen Mutter. Als ein Ministerposten zu besetzen ist, schlägt er entgegen seiner sonstigen Einstellung einen "israelitischen" Kandidaten vor, und stößt dabei auf Unverständnis bei seinen Vorgesetzten. Da sich seine Empfehlung für seine Karriere ungünstig auswirken würde, wie er noch rechtzeitig bemerkt, schließt er sich der allgemeinen Meinung der Behörde an, die den jüdischen Bewerber dann auf eine andere Stelle weglobt. War es denkbar, dass Amelie ihm ein treues Weib geblieben. diese ganzen zwanzig Jahre lang, ihm, einem eitlen Feigling, dem ausdauerndsten aller Lügner, der unter dem gesprungenen Lack einer unechten Weltläufigkeit ewig den Harm seiner elenden Jugend verbarg? Nie hatte er den gottgewollten Abstand zwischen sich und ihr überwinden könnne, den Abstand zwischen einer geborenen Paradini und einem geborenen Dreckfresser. Nur er allein wusste, dass seine Sicherheit, seine lockere Haltung, seine lässige Elegance anderen abgeguckt war, eine mühsame Verstellung, die ihn nicht einmal während des Schlafes freigab. (Seite 93) Da Amelie noch nicht vom Friseur zurück ist (sie gehen an diesem Abend in die Oper), lässt er sich dazu hinreißen, in ihren Schubläden zu kramen. Mit Herzklopfen suchte er die Briefe des Mannes, die ihn zum Hahnrei machten. Was er fand, waren die reinsten Orgien der Harmlosigkeit, die ihn gutmütig verspotteten. (Seite 93)
In ihren Kalendereintragungen liest er eine Bemerkung, die ihn stutzen lässt: Sie findet ihn in letzter Zeit unter anderm unaufmerksam ihr gegenüber, schiebt das aber auf "das gefährliche Alter der Männer". Sie müsse aufpassen, glaube aber "felsenfest" (dreimal unterstrichen) an ihn.
"Gnädigste haben gewünscht ..." begann er mit einem Ton, vor dem ihm selbst ekelte, "ich bekam erst heute früh den Brief und bin sofort ... und habe sofort ... Selbstverständlich steh ich voll und ganz zur Verfügung ..." In der weiteren Konversation, die Leonidas alles andere als gewandt und überlegen erscheinen lässt, erfährt er, dass Vera in den nächsten Tagen Deutschland verlassen wird. Es fällt ihm ein Stein vom Herzen! Er vermutet, dass es "jetzt nicht besonders angenehm sein muss, in Deutschland zu leben". Worauf Vera kühl bemerkt, dass es für die meisten Deutschen sehr angenehm sei, "nur für unsereins nicht" (Seite 127). Sie sagt ihm dann, dass sie nach Montevideo auswanderen werde, wo ihr eine Lehrstelle an einem College angeboten wurde. Da sie nicht verheiratet sei, falle ihr dieser Schritt nicht schwer. Leonidas bietet ihr dann an, dass sie den jungen Mann, Emanuel heißt er, am nächsten Tag ins Ministerium schicken soll. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten verbürgt er sich mit seinem Wort, dass "die Sache geregelt" wird. Sicher sei Emanuel hochbegabt, wahrscheinlich sehe er Vera ähnlich, vermutet Leonidas. Warum sollte er, verblüfft sie ihn: "Emanuel ist der Sohn meiner besten Freundin." Und diese Freundin starb vor einem Monat; ihren Mann überlebte sie nur um neun Wochen. Ihr einziges Kind wurde Vera anvertraut. Leonidas jubelt insgeheim; alle seine Bedenken waren also unbegründet!
"Ich gebe Ihnen mein heiliges Versprechen, Vera, der Sohn Ihrer armen Freundin wird von mir gehalten werden wie Ihr eigener Sohn, wie mein eigener Sohn. Danken Sie mir nicht. Ich habe Ihnen zu danken. Sie machen mir das großmütigste Geschenk ..." Vera schickt sich an, zu gehen. Er hält sie aber zurück, bittet sie um Verzeihung und überschwänglich gibt er ihr zu bedenken, dass seit achtzehn Jahren kein Tag vergangen sei, an dem "er nicht stumm wie ein Hund gelitten" hätte. Bis vor wenigen Minuten sei er noch überzeugt gewesen, dass Emanuel ihrer beider Sohn sei und er "nahe daran war", seine Pension zu beantragen, die Scheidung von seiner Frau zu verlangen und ein neues Leben zu beginnen.
In der Antwort der Frau [Vera] klang zum ersten Mal der alte echte Spott auf, jedoch wie vom Rand einer tiefen Erschöpfung: Weiter bricht es aus Leonidas hervor: Er beteuert ihr seine immerwährende seelische Verbundenheit, und beim Abschied damals hätte er geahnt dass sie miteinander ein Kind haben würden. Er wirft sich selbst seine "treulose Feigheit" vor, die ihn daran gehindert habe, nach ihr zu suchen.
"Wissen Sie, dass ich heute früh aus Feigheit beinahe Ihren Brief ungelesen zerrissen hätte, so wie ich damals [...] Ihren Brief ungelesen zerrissen hab ..."
Der Junge war zwei und ein halbes Jahr alt. Es tut ihr Leid, jetzt von ihm gesprochen zu haben; sie hatte sich vorgenommen, nicht mit Leonidas darüber zu reden. |
Buchbesprechung:
Der Sohn eines mittellosen Lehrers mit dem hochtrabenden Namen Leonidas kann auf seine steile Karriere stolz sein. Ein makabrer Umstand brachte ihn in den Besitz eines Fracks: Ein Kommilitone hatte sich erschossen und ihm das Kleidungsstück vermacht.
Am Beispiel des Sektionschefs im Ministerium für Unterricht und Kultus, Leonidas Tachezy, erzählt Werfel eine Geschichte von Anstand und Moral, von Anfechtung und Verführung, von Schwächen und von Chancen. Es ist ebenso die Geschichte über den Verrat einer Liebe wie ein Sittengemälde der ersten österreichischen Republik mit ihrem latent allgegenwärtigen Antisemitismus.
Die Novelle, 1941 veröffentlicht, ist in traditioneller Erzählweise geschrieben und insofern lesenswert, weil immer wieder einfallsreiche Beobachtungen eingestreut sind. Unvermutete Wendungen geben der Geschichte Schwung und halten den Leser bei Laune. Bei den Personenbeschreibungen hätte vielleicht die psychologische Befindlichkeit der Protagonisten eingehender dargestellt werden können; insbesondere bei Leonidas hätte man sich ein paar mehr Facetten seines Charakters gewünscht. Originaltitel: Eine blaßblaue Frauenschrift – Regie: Axel Corti – Drehbuch: Kurt Rittig, nach der Novelle "Eine blaßblaue Frauenschrift" von Franz Werfel – Kamera: Edward Klosinski – Musik: Hans Georg Koch – Darsteller: Friedrich von Thun, Gabriel Barylli, Krystyna Janda, Friederike Kammer, Otto Schenk u.a. – 1984; 240 Minuten |
Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2006 / 2008
Franz Werfel (Kurzbiografie) |