Tom Wolfe: Ich bin Charlotte Simmons (Roman) |
Tom Wolfe: Ich bin Charlotte Simmons |
Inhaltsangabe:
Charlotte Simmons wuchs mit ihren beiden jüngeren Brüdern Buddy und Sam in der Kleinstadt Sparta im Alleghany County, North Carolina, auf. Ihr jetzt zweiundvierzigjähriger Vater Billy ist praktisch arbeitslos, seit die örtliche Schuhfabrik zumachte; er verdient nur ein wenig Geld als Aushilfshausmeister. Ihre Mutter Lizbeth hat eine Halbtagsstelle im Büro des Sheriffs. Als Jahrgangsbeste darf Charlotte Simmons bei der Abschlussfeier in der Alleghany Highschool eine Rede halten. In der "Alleghany News" erscheint ein Bericht darüber, dass sie als erste Absolventin der Alleghany Highschool die Zulassungsprüfung für die Dupont University in Pennsylvania bestanden hat und ihr Studium an dieser Elite-Universität mit einem Stipendium des US-Präsidenten beginnen kann. Das hat Charlotte nicht nur ihren hervorragenden schulischen Leistungen, sondern auch ihrer Englischlehrerin und Mentorin Martha Pennington zu verdanken. "Hier wird es Leute geben, die dich zu Sachen überreden wollen, die du nicht willst. Deshalb denk immer dran, dass du aus den Bergen kommst [...] und wir Leute aus den Bergen haben vielleicht unsere Fehler, aber dass wir uns zu etwas zwingen lassen, was wir nicht tun wollen, gehört bestimmt nicht dazu [...] Und wenn das irgendwem nicht gefällt, brauchst du ihm gar nichts erklären. Du musst einfach nur sagen: 'Ich bin Charlotte Simmons, und so was mach ich nicht.' Dafür werden sie dich respektieren." (Seite 107) Zurück im Zimmer des Studentenwohnheims, behandelt Beverly ihre Mitbewohnerin wie Luft, und Charlotte fühlt sich unterlegen, weil sie billig angezogen ist und mit Beverly nicht mithalten kann. Sie ist entsetzt, als sie erfährt, dass der Wasch- und Toilettenraum von allen Studentinnen und Studenten auf der Etage benutzt wird, doch am Abend bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihn aufzusuchen.
Sie zog ihren Pyjama, die Pantoffeln und ihren Polyesterflanell-Bademantel mit dem Schottenkaro an, nahm ihren Waschbeutel und ein Handtuch, raffte ihren ganzen Mut zusammen und wagte sich auf den Korridor hinaus [...]
In einem Fortgeschrittenen-Seminar über französische Literatur stellt Charlotte Simmons überrascht fest, dass sie den Roman "Madame Bovary" von Gustave Flaubert als Einzige in der Originalsprache gelesen hat. Selbst der Dozent hat eine englische Übersetzung in der Hand.
Hoyt brüllte: "Scheiße, Vance, mach, dass du rauskommst! Das ist unser Zimmer!"
Als Charlotte begreift, was Hoyt vorhat, läuft sie aufgebracht davon. Die Wahrheit war ... sie hätte sich gern in Adam verliebt. Wenn sie es doch nur könnte! Ihr Leben verliefe um einiges geordneter! (Seite 508)
Obwohl es bei den Mitgliedern der Saint-Ray-Studentenverbindung üblich ist, Wetten darüber abzuschließen, in wieviel Minuten einer von ihnen eine Kommilitonin flachlegt, zeigt Hoyt bei Charlotte außergewöhnliche Geduld. Schließlich gelingt es ihm, ihre Brust durch den Stoff zu berühren, doch als er einen Finger unter das Gummibündchen ihres Slips schiebt, weist sie ihn zurück. Und da stand sie, allein im Foyer dieses ... dieses ... Palastes von einem Hotel, in Turnschuhen, Jeans, T-Shirt und einer preiswerten, wattierten, mit Polyurethan aufgeplusterten Daunenjacke, in der sie aussah wie eine Ananas auf Beinchen – die Unschuld vom Lande, verloren inmitten all dieses Luxus, ihre gesamte Habe in einem Beutel über ihrer Schulter, einem lumpigen kleinen Campingbeutel. (Seite 618)
Überrascht stellt Charlotte fest, dass Hoyt kein Einzelzimmer für sie gebucht hat, sondern mit ihr, Julian und Nicole in einem Zimmer schlafen will, in dem es neben den beiden Doppelbetten keinen Platz für Klappbetten gibt. Gleich nach der Ankunft lässt Charlotte sich überreden, etwas Orangensaft mit Wodka zu trinken. Für den festlichen Abend zieht sie ein Kleid an, das Mimi ihr zusammen mit passenden High Heels geliehen hat. Es ist so kurz, dass es kaum ihren Slip bedeckt. Als sie damit aus dem Bad kommt, wird sie von Crissy und Nicole erstmals richtig wahrgenommen. Männer verliebten sich nicht, denn das käme einem Kontrollverlust gleich. Sie machten Liebe – machten, ein aktives, transitives Verb, reimte sich auf schlachten. (Seite 679)
Dass Charlotte sich von Hoyt deflorieren ließ, spricht sich auf dem Campus rasch herum. Sie schämt sich und fällt in eine Depression, die auch noch anhält, als sie Weihnachten bei ihren Eltern und Geschwistern in Sparta verbringt. Billy und Lizbeth Simmons geben ihr zu Ehren ein festliches Truthahn-Essen, zu dem sie außer Charlottes Freundin Laurie McDowell und ihrer früheren Englischlehrerin Martha Pennington das Ehepaar Thoms einladen. Alle erwarten von ihr, dass sie von der Dupont University erzählt, aber Charlotte fühlt sich elend und mag nicht darüber reden. Sarah Thoms sagt, die Tochter ihrer Schwägerin sei mit einer Studentin an der Dupont University befreundet, die bereits von Charlotte gesprochen habe. Sie heißt Lucy Page Tucker. Charlotte erschrickt, denn bei Lucy handelt es sich um die beste Freundin von Gloria Barrone. Sie weiß also mit Sicherheit, was beim Jahresball der Saint-Rays in Washington passierte. Hat Sarah Thoms davon gehört? Wird sie gleich Andeutungen machen?
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
Adam gehört zu den Mitarbeitern der Studentenzeitung "Daily Wave". Seit Monaten versucht er, mehr über einen Vorfall herauszufinden, der sich vor Semesterbeginn ereignete: Vance Phipps und Hoyt Thorpe sollen damals den Gouverneur von Kalifornien, der für die Republikaner in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen möchte, bei einem Blowjob mit der Studentin Syrie Stieffbein ertappt haben. Einen sie angreifenden Bodyguard schlugen Vance und Hoyt angeblich nieder und rannten dann fort. Als Adam die beiden danach fragte, taten sie so, als ob sie nicht wüssten, wovon er sprach, aber er merkte, dass sie logen. Um sich dafür zu rächen, was Hoyt Charlotte angetan hatte, fädelte Adam eine Intrige ein. Und so kam es, dass der Gouverneur von Kalifornien ein Empfehlungsschreiben für Hoyt Thorpe an die renommierte Investment Bank Pierce & Pierce schickte. Daraufhin überraschte Rachel E. Freeman vom Human Relations Department bei Pierce & Pierce den Studenten mit einem Job-Angebot und einem Anfangsgehalt, das 50 Prozent über dem Üblichen liegen soll. Nun kann Adam einen Artikel darüber schreiben, wie ein hochrangiger Politiker, der beim Sex mit einer Studentin ertappt wurde, einen Zeugen bestechen will. Und er überzeugt den Chefredakteur Greg Fiore davon, dass der Beitrag in der nächsten Ausgabe erscheinen soll. "Wissen Sie, Char, Sie sind das Beste, was Jojo je passiert ist." (Seite 941) Innerhalb eines halben Jahres war das naive Mädchen aus der Kleinstadt Sparta zu einer richtigen Campus-Berühmtheit geworden. |
Buchbesprechung:
In seinem Roman "Ich bin Charlotte Simmons" beschreibt Tom Wolfe das Leben auf dem Campus einer (fiktiven) Elite-Universität an der Ostküste der USA. Er stellt es als niveaulos dar. Seinem Sittengemälde zufolge besteht es weniger aus Kultur und Wissenschaft, denn aus Sport, Sex und Saufen. Wer in der Hackordnung der Kommilitonen nach oben kommen will, braucht keine guten Noten zu haben, sondern muss sich in diesen Disziplinen bewähren. Damit erfolgreiche Sportler genügend Zeit für ihr Training haben, werden sie von Tutoren unterstützt, die auch weniger intelligente Studenten, die in einer Wettkampf-Mannschaft gebraucht werden, durchzuziehen versuchen. Sie versuchten ekstatisch zu kopulieren, eine besprang die andere und wurde ihrerseits besprungen, wodurch sich Ketten (ugs. "Gänseblümchenketten") von bis zu drei Metern Länge bildeten." (Seite 5) Als Kontrollgruppe brachte er dreißig nicht operierte Katzen im selben Raum unter, jedes Tier in einem eigenen Käfig. Als er nach ein paar Wochen den ersten Käfig öffnete, umklammerte die Katze sein Fußgelenk und rieb das Becken in konvulsiven Zuckungen über den Schuh. Er dachte zunächst, es handele sich um eines der amygdalektomierten Tiere, wurde aber rasch darüber aufgeklärt, dass es nicht so war. Auf diesen Augenblick geht eine Entdeckung zurück, die das Verständnis tierischen und menschlichen Verhaltens radikal veränderte: die Existenz – ja, die Allgegenwart – "kultureller Parastimuli". Die Katzen der Kontrollgruppe hatten den ektomierten Katzen von ihren Käfigen aus zusehen können. Über Wochen hinweg waren sie dieser Atmosphäre hypermanischer sexueller Obsession so intensiv ausgesetzt gewesen, dass ein Verhalten, das man bei den Katzen der Versuchsgruppe durch den Eingriff bewirkt hatte, bei der Kontrollgruppe ohne jede äußere Einwirkung hervorgerufen worden war. Starling hatte entdeckt, dass ein intensiver sozialer oder "kultureller" Einfluss von außen, und sei er noch so abnorm, nach gewisser Zeit die genetisch determinierten Reaktionen absolut normaler, gesunder Tiere außer Kraft setzen konnte. (Seite 6)
(Einen Nobelpreis für Biologie gibt es ebenso wenig wie die Dupont University. Den Nobelpreis für Medizin und Physiologie bekam 1997 Stanley B. Prusiner für die Entdeckung der Prionen.) Es handelt sich um ein in jeder Hinsicht grandioses Werk: ein knallbuntes Melodram voll donnernder Thesen, über weite Strecken schreiend langweilig, immer wieder von Anfällen meisterhafter Groß-Schlachtbeschreibung unterbrochen, dem Heldischen verfallen, dem ewig Weiblichen ergeben, um den Roman eines Moralisten mit einem Hang zur saftigen Pornographie, um einen hysterischen Anfall und gleichzeitig einen mechanisch nach Schema F konstruierten Spannungsroman. Vor allem aber ist dieser Roman über das Studentenleben in den USA das Werk eines älteren Gentlemans, dem die Welt der jungen Amerikaner ganz und gar fremd geworden ist [...] Wolfes onkelhaftes Entsetzen vor der Macht des Sexus im Reich des Geistes und seine saftige Besessenheit davon sind herzlich naiv. (Robin Detje, Süddeutsche Zeitung 10. Oktober 2005) |
Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2009
Tom Wolfe (Kurzbiografie) |